Mystery

„Der Hund“ – mysteriöse Erzählung

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Müde hebt der Hund den Kopf, sonst wäre er ihm nie aufgefallen. Er wäre einfach auf die Straße gegangen, deren eigentümlicher Geruch ihn gefangen nahm wie die fremden Laute dieser fremden Stadt. Nicht nur die Stadt ist ihm fremd, auch das Land, die Sprache, all das, was man Kultur nennt. Da ist diese Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, hinter jeder Straßenecke Neues zu entdecken, und der Furcht, vor dem Neuen zu erschrecken. Er fürchtet, hier viel Abstoßendes zu finden und sofort sagt er sich, so nicht denken zu dürfen. Es ist eines gebildeten Westlers nicht würdig, auf diese Gegend herabzublicken, wie auch auf all die anderen Gegenden der Erde, die sich ähnlich zeigen wie dieser lärmende, von ungewohnten Gerüchen getragene Fleck. Nichts, was er an Sprache hört, ist ihm vertraut. Dabei klingt sie harmonisch, doch kann er wissen, ob jemand über Eheprobleme redet oder über den Sex von gestern oder über die Freude auf das Kino heute Abend?

All dies rumort und wimmelt schon länger, als er selbst auf der Erde ist, und es wird, so ist zu vermuten, noch so weitergehen, wenn er nicht mehr leben wird.

Er weiß genau, was er in Restaurants bestellen möchte, um das Besondere dieses Weltteils kennenzulernen und weiß auch, auf was er lieber verzichten möchte.

Wohin er seine Augen richten soll, erschließt sich ihm nicht, da ihm jedes Staubkorn fremd ist, wäre da nicht eben dieser Hund gewesen, der den Kopf hob. So beiläufig die Bewegung ist und so viele Köpfe ausgemergelter Straßenhunde sich hier auch in die Höhe recken mögen, so bedeutsam ist diese Bewegung für ihn. Es ist, als hebe das Monster von Loch Ness eines Morgens im Frühling, an dem der Tau noch an den kühlen Gräsern zittert, mit einem Mal den Kopf aus dem Wasser, einfach, um sich umzusehen und ihn die Frage stellen zu lassen: „Warum ich? Warum passiert es ausgerechnet mir, dass es sich zeigt und das Geheimnis seiner Existenz lüftet?“

So blickt er also hinüber zu dem Hund, der dort im Staub der Straße liegt und nichts weiter tut, als seinen Kopf gehoben zu haben und ihn anzublicken. Anders als die anderen Tiere hechelt er nicht, liegt einfach in der Sonne, als sei die Hitze und das Brennen nichts, was ihn belasten könnte. Auch aus der Entfernung von gut zwanzig Metern ist ersichtlich, dass der Hund nur Augen für ihn hat. Unter normalen Umständen hätte er den Glauben gehabt, der Hund habe zufällig seinen Kopf erhoben und ihn sind Auge gefasst. Oder dass der Hund lediglich in seine Richtung blickte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen – doch er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Hund, der keine Anstalten macht, sich aus dem Staub der Straße zu erheben, ihn, genau ihn und nur ihn anblickt, und dass er wegen ihm und nur wegen ihm den Kopf gehoben hat, als habe er gespürt, dass er auf die Straße tritt und es nun an der Zeit sei, Kontakt aufzunehmen.

Der Hund interessiert ihn. Kurz bleibt er stehen, um den Verkehr an sich vorbeiziehen zu lassen, lautes Geknatter eines Motorrades, so fremd und hell und laut und dröhnend, wie sie nur in Ländern wie diesen zu klingen scheinen, als seien sie hier aus anderen Dingen gemacht oder führen mit anderen Mitteln. Er hält sich das linke Ohr zu und merkt, wie er unter dem Lärm sein Gesicht verzieht, ohne den Hund auch nur für einen Moment aus dem Blick zu nehmen.

Der Hund ist der hässlichste Hund, den er jemals gesehen hat. Doch gleichzeitig ist da etwas anderes. Die Unterernährung, die die Körper aller Hunde hier ins Erschreckende auszehrt, verleiht dem Hund dort drüben Anmut, Würde, Ebenmaß. Das Fell, so schmutzig und verschlissen wie ein alter Sattel nach einem Reiterleben voller entbehrungsreicher Schlachten, wirkt wie angepasst an die dünnen Knochen der beiden Beine, die der Hund nach vorne streckt, in Majestät der Sphinx überlegen. Was einst Farbe war, ist nun ein Hort von Schmutz und Narben, die der Hund in stoischem Stolz wie Abzeichen trägt. 

Er springt erschrocken einen Schritt zurück, als ein Fahrrad an ihm so nah vorbeischießt, dass er den Fahrtwind spürt und riecht, begleitet vom Fluchen des Fahrers, der sich nicht umdreht. So ist er froh, als er den Blick des Hundes wiederfindet, der seine Ohren nach vorn stellt wie eine Krone. Dann steht er vor ihm. Kaum, dass er zum Tier herunterblickt, geht er in die Knie. Der Blick von oben scheint ihm nicht adäquat, und so folgt der Blick des Hundes seinen Augen hinab, ohne dass der Schwanz sich regt.

Von Nahem sind die Augen ganz besonders. Ich habe auf dich gewartet, scheinen sie zu sagen, getragen von dem Wissen, dass es eines Tages so hat kommen müssen. Geduld liegt in ihnen wie in der ungefragten Frage, die sie stellen. Fast hört er eine Stimme in sich, so geschlechtslos wie deutlich, die dem Tier erwidert: Ich weiß.

Er hat nie einen Hund besessen und weiß nichts von der Ebene, die sich entfaltet zwischen Tier und Mensch, doch nun ist es ihm, als habe er diese Ebene nie verlassen und beuge sich zu einem alten Vertrauten nieder, der auf ihn gewartet hat.

Er kennt den Namen des Hundes nicht, doch das spielt keine Rolle. Der Blick in die Augen des Tiers genügt, die von außen betrachtet nichts anderes sind als die Augen eines beliebigen Hundes, dunkelbraun, fast schwarz, in ihren Spiegelungen kann er sich selbst erkennen, doch da ist mehr, und sie beide wissen es.

„Kommst du mit?“, fragt er den Hund, und der erhebt sich augenblicklich. War es der Tonfall, den der Hund verstanden hat, denn wer sollte hier seine Sprache sprechen, zudem zu einem Hund, den hier die meisten Köter nennen, weil er in ihren Augen nichts anderes tut als Essen zu stehlen, zu betteln und zu belästigen?

So steht er auf und macht sich auf den Weg mit dem Gefährten, der nicht von seiner rechten Seite weicht. Die Straßen werden schmal und eng, sobald man einmal von der Hauptstraße abbiegt, Häuser schmiegen und ducken sich, Eingänge gähnen wie müde Mythengestalten, schnell wird das Gewirr zur Stille, dass er nun hören kann, wie die Pfoten des Hundes neben ihm auf den Steinen tappen. Eigentlich hat er dem Tier etwas zu essen kaufen wollen, in einem der zahlreichen Geschäfte, die sich bunte Höhlen durch die Mauern geschlagen haben. Früchte überall, in allen Farben, es ist so überraschend, was es hier alles gibt, wo er zu Beginn seiner Reise noch darüber staunte, dass es hier so viel Gewohntes nicht zu kaufen gibt, als habe man davon noch nie gehört, was bei ihm Zuhause heimisch, üblich, nötig ist. Ein Land des Mangels, so dachte er noch, als er das Hotel verließ, wie hat es ihn nur in diesen Teil der Welt verschlagen können, doch entrollt sich immer mehr eine Welt der Überflusses und des Reichtums. Die Gerüche werden stärker, je weiter er scheinbar der Nase nach schlendert, spaziert, flaniert. Er ist nicht mehr der Businessmann, der morgen im Auftrag seiner Firma Termine in einem dieser Glashochhäuser mit ihren klimatisierten Räumen wahrnehmen muss und sich darüber ärgern wird, dass es darin zu kalt ist. Es ist immer so. Draußen will die Sonne die Welt verbrühen, seit Jahrtausenden leben diese Menschen hier schon mit dieser Hitze und all der Sonne, die unweit von Flüssen und Seen die Böden verdorrt, doch kaum haben Menschen anderer Breiten Klimaanlagen erfunden, kühlen sie ihre Räume herunter, als gälte es, Pinguine zu züchten.

Hier lebst du also, sagt er ohne Stimme dem Tier neben sich, und wie zur Antwort blickt es auf und blinzelt.

Als es still wird, bleibt er stehen. Kurz keimt Angst auf, denn wo ist er bloß und warum ist er überhaupt hierher gekommen? An diesem Ort befindet sich nichts außer ein paar lang verlassener Häuser. Ein schmaler Gang führt in eine enge Schlucht, in die, da ist er sicher, noch nie das Licht des Tages fiel. Der Boden ist seit jeher festgestampfte Erde. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als habe sich eine Kuppel über sie gestülpt.

Hund und Mensch blicken sich an. Für den Hund ist es normal, hier zu sein. Nichts an seinem Auftreten zeugt von Wachsamkeit. Wo nur ist die ganze Stadt geblieben? Er schaut auf seine Schuhe herab, Lederschuhe, nicht gemacht für diese Gegend. Sie sind so staubig, dass er ihre Farbe nicht mehr erkennt. Staub besetzt seine Anzughose, die jede Eleganz verloren hat. „Sieh dir das an“, sagt er dem Tier, und es schaut ihn an, als wäre nichts dabei. 

Er fragt sich, wann zuletzt ein Mensch hier vorbeikam, denn auf dem Boden finden sich weder Spuren von Reifen noch von Sohlen. 

Der Hund legt sich nieder, erneut erscheint er wie eine Sphinx, den Blick in aller Ruhe auf die schmale Gasse vor ihnen gerichtet.

Er folgt dem Blick des Hundes und weiß: Keinen Fuß wird er in diese Gasse setzen. Vorstellungen beginnen zu gären, keine davon ist gut. „Ganz sicher nicht“, lässt er den Hund wissen. Es ist nicht gut, weiterzugehen, wenn sich der Weg vor einem so verengt. Außerdem macht es ihm Angst, wie dunkel dieser schnurgerade Gang ist, der irgendwo in Dunkelheit mündet.

Der Hund macht keine Anstalten, aufzustehen, und so setzt er sich im Schneidersitz zu dem Tier auf den Boden. In den Augen des Hundes funkelt Weisheit, die so alt ist wie die Menschen selbst. Das kann natürlich nicht sein, es ist ein Tier, sagt er sich. Doch er merkt, dass es die Wahrheit ist. Es ist kein Zufall, dass er den Hund traf – oder der Hund ihn, wer kann das sagen, und spielt das eine Rolle? Ab und zu huscht ein Lid über die Hundeaugen. Es ist das erste Mal, dass er das Gefühl hat, vollständig erkannt zu werden, jenseits aller Worte. Die Vertrautheit ist so absolut wie unhinterfragt. Er sitzt da im Wissen mit dem Tier im Staub, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Es ist anders als bei all den Menschen, denen er sich im Leben anvertraut hat oder sie sich ihm. Es ist kein Wollen, kein Treiben in diesem Blick. Stattdessen ruht da eine Harmonie im Blick, die nichts ausspricht und alles sagt. 

Er streckt die Hand nach dem Tier aus und berührt seinen Kopf. Das staubige Fell ist weicher als gedacht, und der Hund sieht ihn an, lässt es ohne Scheu geschehen.

Schließlich legt er seine Hand an die Wange des Tiers, das daraufhin die Augen schließt und den Kopf in die geöffnete Hand schmiegt, als habe es darauf gewartet. Tief holt er Luft und stößt sie langsam wieder aus. „Ach Hund“, sagt er gerührt, mehr von dem, was in ihm aufkommt als von dem, was gerade geschieht. „Warum kenne ich dich?“, flüstert er. „Kenne ich dich?“

Nichts daran erscheint ihm seltsam, und er nimmt es hin, dass bislang ungenutzte Seile etwas aus der Tiefe seiner Seele heben, das er selbst nie erlebt hat und doch weiß, dass es zu ihm gehört.

Er fragt sich nicht, wie kann das sein? Im Geschehen selbst weiß er, dass es so ist.

Wir kannten uns einmal sehr gut, denkt er. Und umfasst den Kopf des Hundes zärtlich mit beiden Händen.

Und dann sitzt er im Taxi. Ein frischer Anzug, saubere Schuhe, seine Tasche mit den Unterlagen neben sich, die der Klimaanlage besser trotzt als er.

Er sieht den Fahrer im Profil, sieht die Stadt an sich vorüberziehen, blickt auf seine Uhr. In einer Stunde ist sein Geschäftstermin. Durch das Treiben draußen auf den Straßen suchen Streuner etwas zu Essen, werden verjagt. Sie leben ein Leben auf der Flucht vor Schlägen und Tritten und kämpfen täglich gegen Hunger. Finden sie etwas zu fressen, verschlingen sie es, beißen sich um kleine Brocken. Und erst jetzt beginnt er, über gestern nachzudenken. 

Das Tier ist aufgestanden und ist wieder zurückgetrottet, ohne sich umzublicken, als wisse es, dass er ihm folgen wird. Es schien, als wollte ihn der Hund wieder zur Straße lotsen, auf der sie sich begegnet waren, und als die Autos und Räder zu hören und zu sehen waren, blieb der Hund stehen, blickte sich einmal kurz um, dann nahm er seinen Weg nach rechts in einen schmalen Gang und war verschwunden.

„Warte“, hat er dem Hund noch hinterhergerufen und nahm laufend einige Meter, um ihn noch einmal zu sehen – doch der Gang, in den das Tier verschwunden war, war nur ein Spalt in der Mauer, zu eng, um hindurchzupassen. Er sah nur Licht von der anderen Seite, unbestimmt und ohne Konturen. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Straße zu treten und in sein Hotel zu gehen. 

Als der Taxifahrer etwas ausruft, blickt er gedankenverloren hoch und muss sich ordnen. Er bittet um einen Moment, in dem er die Gedanken beiseite schieben und sich auf seinen Termin konzentrieren kann. Die Uhr tickt, und so greift er schließlich seine Tasche, zahlt und tritt in die Hitze hinaus. 

Das Intermezzo war vorbei, und er konnte nicht mehr sicher sein, es überhaupt erlebt zu haben. Doch die Augen dieses Hundes: Er könnte schwören, er habe sie erkannt und sie ihn, als ginge es um ein Wiedersehen oder etwas anderes, wer weiß das schon? Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Er konzentriert sich auf seine Aufgabe. Für alles andere hat er noch ein ganzes Leben Zeit. 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 15: Der Wind von Irgendwo komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 14 lesen

Die Corrin-Höhle kam immer näher. Die Gruppe der Zwölf bewegte sich auf das zu, was ihr Leben seit Generationen bestimmt hatte, und sie waren sich der Tragweite dessen bewusst, was sie taten.
Die Corrin-Höhle! Inbegriff einer Angst, die sich nie hatten erklären können, einer Angst, die nur mit der Existenz der Höhle selbst erklärt worden war.
Doch was erschafft eine Angst, die niemandem etwas antut, eine Angst vor einem nebulösen Etwas, das irgendwo in einem Teil des Gehirn pocht und nur in den Träumen auftaucht? Dieses Etwas, das über allem lag und in allem steckte und sie geißelte, das aber niemals in Erscheinung trat? Was war dieses Etwas? Und wenn es dieses Etwas gab, steckte es wirklich in der Höhle, und wenn, war es unbesiegbar? Dieses Etwas hatte sich über Generationen still verhalten, doch nun rief es zum Kampf.
Nun war die Zeit reif dafür.
Mark war entschlossen und überzeugt davon geblieben, dass Maraim sich mit dem, was in der Höhle lebte, verbündet hatte – mehr galt es nicht zu wissen. Mark würde gewappnet sein, und so empfand er als Einziger der Zwölf auch keine Furcht. 
Die anderen elf hingegen hatten Dinge vor Augen, die ihre Vorstellungskraft an die Grenze führten. Sie stellten sich etwas vor, das mal über den Boden kroch, mal an der Decken hängend auf sie lauerte. Sie stellten sich den Höhleneingang als Maul vor und den Boden als Zunge. Es war mal bösartig, mal gefräßig. Mal sahen sie ein Wesen aus der Dunkelheit auf sie zu schnellen, das viele Köpfe besaß und folglich viele kleine Münder, allesamt mit Reißzähnen. Sie stellten sich Maraim vor, der dort lachend auf sie wartete, mal empfing er sie gastfreundlich und führte sie in die Höhle, nur um sie mit dieser List in ihr Verderben zu locken. In jedem Fall würde sie, da waren sie sicher, der Berg verschlingen.
Immer wieder betrachteten sie ihre mitgeführten Waffen und überlegten, wie sie diese gegen das Böse ins Feld führten. Sie stellten ich vor, Augen auszustechen, Schädel und Knochen zu brechen, Kopf und Glieder abzuschlagen.
Das Dorf war schon längst zu solch einem kleinen Punkt geschrumpft, dass sie keine einzelnen Häuser mehr ausmachen konnten bis auf das von Tirata. Den Frauenbaum erkannten sie nicht mehr, und einzelne Menschen hatten sie schon seit Stunden nicht mehr ausmachen können. Vielen von ihnen war, als röche die Luft hier anders und als raschelte das Laub nur zuvor gesehener Bäume und Büsche in neuem Klang.
Da blieb Mark kurz stehen und sah sich zu ihnen um. Sie schauten ihn an, und die Letzten schlossen zu ihm auf. Niemand wagte, etwas zu sagen, so dass es an Mark war, das Wort an sie zu richten: »Es ist nicht mehr weit.« Noch nie hatten sie Marks Stimme so entschlossen gehört. Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie alle weiter gehen würden. »Ich weiß nicht, was uns in der Höhle erwartet. Aber wir müssen bereit sein und wir werden das jetzt hinter uns bringen.«
Sie nickten stumm, denn Mark duldete keinen Widerspruch. Er sah jeden Einzelnen von ihnen an, und sie schöpften ein wenig Kraft daraus, denn Mark würde kämpfen für mindestens zwei von ihnen und sie mit all seiner Kraft verteidigen.
Gegen was auch immer. 
So ging Mark erneut los und die anderen folgten ihm.
Der Wind spielte mit Jessicas Haaren, und alles Gras neigte sich mit hm.
Tirata ging voran, weiter den Berg hinauf zu dem, das Jessica die Sprache verschlagen sollte. Jeder Schritt spülte ihr Fragen in den Kopf, die sie gern gestellt hätte, doch der Berg ging so steil hinauf, dass ihr oft der Atem dazu fehlte .Außerdem hatte ihr Tirata nach den letzten Fragen nichts anderes erwidert als: »Warte ab, du wirst gleich schon sehen, und dann erzähle ich dir alles.«
Doch das war ihr nicht genug. All die Jahre, all die Generationen war niemandem in den Sinn gekommen, auch nur einen Schritt in Richtung völlige Wahrheit zu gehen und begnügte sich statt dessen mit dem Wenigen, was man wusste.
Aber nun, da sie alle mehr wussten als jemals zuvor, und Jessica der Wahrheit noch näher war als alle anderen im Dorf, konnte sie es nicht mehr abwarten und sah nicht ein, warum sie weiter warten sollte. 
Tirata, die voraus ging, sprach in den wehenden Wind hinein: »Nein, wir gehen nur bis auf die Spitze, weiter nicht.« 
»Aber was haben wir da oben?« 
»Überblick. Mehr brauchst du auch gar nicht.«
So gingen sie weiter. »Müssen die anderen aus dem Dorf wirklich fortgehen?« 
»Sie kommen doch von hier. Sie wollen nicht fort von hier. Sie wollen hier blieben.«
»Das können sie aber nicht so einfach, Kind.«
»Warum nicht?«
»Weil der Wind von Irgendwo sie woanders hin blasen wird.«
Jessica blieb stehen. »Aber warum tut er das? Warum hat er nicht woanders blasen können? Warum hat er uns alle nicht in Ruhe gelassen?«
Tirata drehte sich um und sah sie an. »Der Wind von Irgendwo lässt niemanden für alle Zeiten in Ruhe. Warum sollte er auch? Ohne ihn wären wir nicht hier, ohne ihn würden wir nicht leben. Er führte deine Eltern zusammen, er führte deine Großeltern zusammen, er ließ unsere Vorfahren das Dorf errichten. Ohne den Wind von Irgendwo wäre nichts so, wie es ist und wie es war. Ohne ihn könnte nichts und niemand existieren. Denn er ist das Leben auf der Welt, Kind, nichts anderes. Und ganz gleich, wie furchtbar er uns auch manchmal treffen mag, so ist es unumgänglich, dass er weht. Der Wind von Irgendwo ist der Schöpfer des Bestehenden, des Gewesenen und des Kommenden. Ohne ihn gäbe es kein Leben. Und diesem Leben müssen wir uns anpassen, also treibt er und manchmal fort von hier oder von dort, wo wir uns gerade befinden. Wie auch jetzt.« 
»Aber warum dann hat er uns so viele Jahre in Ruhe gelassen?«
»Warum sollte er nicht?«
»Ich verstehe das nicht.«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Er kommt und geht. Manchmal schnell und heftig und lange, dann wieder lange Zeit überhaupt nicht. Es ist der Lauf der Dinge.«
»Ist er der Lauf der Dinge?« 
Tirata lächelte zufrieden. »Du bist den anderen um Vieles sehr voraus.«
»Aber wenn er uns vertreibt …«, und Jessicas Herz begann zu rasen und ihr Magen begann zu jucken ,»… hat er uns schon einmal vertrieben? Und wenn, dann von wo?«
Tirata drehte sich wieder um und sah zur Bergspitze hinauf. Dadurch verbarg sie ihre Tränen vor dem Kind, das nun allmählich die Dinge begriff. »Wir sind nur noch ein klein wenig entfernt von dem, was ich dir zeigen will. Es dauert nur noch ein paar Minuten, und du wirst es sehen.«
Und Jessica setzte sich in Bewegung, in begeisterter Hochstimmung, wissend, dass alles, was man immer geglaubt hatte, nun zusammenfiel und Lügen gestraft wurde.
Sie sahen die Corrin-Höhle bereits, und alles, was sie hörten, waren ihre eigenen Schritte. Niemand wagte mehr zu atmen, und auch Marks Herz begann zu rasen bei dem Anblick. Vor ihnen öffnete sich der Schlund in den Berg. Er war gewaltig: Höher als jedes Haus im Dorf, höher sogar, als hätte man zwei, drei Häuser aufeinander gestellt. So hoch wie der Frauenbaum, so hoch wie Bäume hinter Tiratas Haus und nahezu kreisrund. Umgeben von braunem Fels, verschwand das Tageslicht rasch im Dunkel. Umsäumt war der Eingang von Baum und allerlei Gestrüpp, und es war Mark, als kröche Kälte aus dem Innern des Berges. 
Gerade wollte er weiter gehen, als er hinter sich ein Geräusch hörte und sich umblickte. Karul hatte seine Ausrüstung fallen lassen, und alle Blicke fielen auf ihn. In Karuls noch jungen Augen stand die nackte Angst. »Ich kann nicht«, stieß er aus. Sein Blick klebte an der Corrin-Höhle. »Ich kann das nicht.«

Mark war der Anblick eines derart geängstigten Mannes ebenso fremd wie den anderen, und Karuls Furcht übertrug sich auf die anderen, Mark spürte das Brodeln im eigenen Magen, und er sagte schnell: »Das ist in Ordnung, Karul«, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. »Dann geh zurück, aber geh sofort und halt uns nicht länger auf.«
»Ich kann doch die Leute im Dorf … – ich kann sie nicht allein lassen, ich meine, was passiert, wenn wir nicht zurückkommen.«
»Wir werden nicht sterben«, sagte Mark mehr zu den anderen als zu Karul, der von einem Bein aufs andere trat. »Wir werden ein Geheimnis lüften.« Er nahm Karuls Sense vom Boden und streckte sie von sich. »Wir nehmen aber deine Waffen.« Er sah die Männer an, deren Anführer er geworden war. »Jeder nimmt sich, was er gebrauchen kann.« Und zu Karul gewandt: »Geh jetzt. Wir können dich zwar nicht entbehren, aber ein Mann, der so viel Angst hat, nützt uns nichts.«
»Ich warte hier auf euch«, stammelte Karul. »Ich lasse euch nicht zurück, und vielleicht kann ich euch noch helfen, wenn …«
»In Ordnung, Karul. Dann warte hier. Ihr anderen: Los, wir gehen.«
Mark setzte einen Schritt aus, als ihm die Größe bewusst wurde. 
Sie wandten sich wieder um, und Mark erkannte in vielen Augen das unbändige Sehnen nach Flucht vor allem. Und so sagte er: »Wir müssen  es sehen. Einmal der Angst ins Auge geblickt, ist sie später nicht mehr schlimm.« Und er sah auf die Corrin-Höhle zu seiner Linken: ein großes, dunkles Loch gezeichnet von Schwärze. Es sah schräg aus, und der Boden ragte weiter aus dem Berg heraus als die Decke. Nach dem, was er erkennen konnte, schien es gerade in den Berg zu gehen. Sein Herz pochte wild. Welch eine Herausforderung! Er konnte Einzelheiten erkennen, so zum Beispiel den Rand des Eingangs, der etwa dreimal so hoch war wie er selbst. Er sah grauen Felsen rund um die Höhle, manchmal nackt, manchmal mit Moos, Flechten und niedrigem Gras bewachsen. Das Loch war keineswegs rund, sondern es war unförmig; daher gemahnte es nicht an ein Maul oder einen Schlund, sondern tatsächlich wie ein Loch, das nicht für Menschen bestimmt war. 
Mark schritt weiter darauf zu, und die anderem folgten ihm. In seinem Kopf spukten manchmal Bilder von Tsam, er hörte ihn lachen und sprechen, er hörte ihn hinter sich durch das Gras rennen. »Ich habe dich gleich!« rief Tsam.
»Du? Du bist lahm wie eine Schnecke!« Es war warm, und es ging kein Wind, selbst kaum, wenn man lief. 
Mark hatte Tsam in einer Scheune mit Heu beworfen, so dass er darunter begraben worden war. Und dafür rächte sich Tsam nun und lief hinter Mark her, der vor ihm durch die Wiesen davonlief.
Plötzlich spürte Mark eine Stoß, und er fiel zu Boden. Tsam fiel auf ihn mit ganzem Gewicht, und sie lagen im Gras. Tsams Gesicht strahlte, seine Augen blitzten, und er zeigte die Pracht seiner weißen Zähne. »Ich habe dich eingeholt«, sagte er triumphierend. »Und jetzt kitzel ich dich durch.«
»O nein, nicht schon wieder!«
»Das ist die gerechte Strafe. Ich kitzel dich immer zur Strafe.«
»Wenn du mich noch einmal kitzelst, kenne ich dich nicht mehr.«
»Du wirst mich schon noch kennen, selbst wenn wir sterben und uns im Himmel über den Weg laufen.«
»Kitzelst du mich dann auch?«
»Wenn du böse bist, ja.«
»Ich will im Himmel nicht böse sein. Und ich will dich auch noch kennen.«
»Im Himmel?«
»Auch im Himmel.«

Tränen sammelten sich in Marks Augen, als die Bilder verblaßten, denn er wusste nicht mehr, wie es wirklich gewesen war. Er konnte sich nicht völlig erinnern, aber so ähnlich war es gewesen. Und er hatte viel, an das er sich erinnern konnte.
Tsam. Er war gegangen, war ertrunken im Bach, in dem sie oft geschwommen waren und gespielt hatten. Als sie kleiner gewesen waren, hatten sie im Schlamm gespielt und sich damit beworfen.
Und nun lag dieser Schlamm über ihm.
Tsam.
Wenn es einen Ort gab, an dem er sich rächen konnte, dann in der Höhle. Und wenn er sich auch nicht rächen konnte, so musste hier der Ort sein, an dem man sich wieder sah. Oder nachdem dieses Etwas in der Höhle ihn getötet hatte. Alles war ihm gleich. Ob er starb oder nicht. Er wollte Tsam. Für immer und ewig. Und sollte er auch zurückkehren und Sarah lieben lernen und sie zur Frau nehmen, so würde stets ein Loch klaffen, tief, erschreckend und immerwährend.
Dieses Loch würde sich auftun in manchen Nächten und ihn einsaugen und in die Tiefe führen, um ihm dort Bilder seiner Jugend zu zeigen die er genossen und verloren hatte.
Seine Kehle schnürte sich bei jedem weiteren Schritt zusammen, und als er mit den anderen vor der Corrin-Höhle stand, weinte er leise und war darauf erpicht es niemandem zu zeigen. Sie entzündeten Fackeln  und betraten die Höhle schweigend und staunend, mit pochen den Herzen und kribbelnden Mägen. An was sie dachten, wusste Mark nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Er selbst sah nur Tsam mit seinem strahlendem Lachen, das er nun für immer verloren hatte und nie wieder lachen konnte. Marks Gedanken flatterten nur um den besten und einzigen Freund seines Lebens, und während niemand ahnte, was auf sie zukam, war Mark der Lösung näher als alle.

In Tiratas Augen blitzte ein nie gesehenes Feuer, und Jessica erkannte nun, dass die vermeintlich alte Frau etwa zwanzig Jahre jünger war, als alle meinten. 
Mit der Zeit war Tirata immer schneller bergauf gestiegen und hatte sich nicht weiter darum gekümmert, ob Jessica hinterherkam oder nicht – und Jessica hatte sich sehr anstrengen müssen, um mit der Wahrsagerin Schritt zu halten. Dabei hatte Jessica nicht verhindern können, dass Tiratas Vorsprung immer größer wurde.
Plötzlich sah sie Tirata ganz oben stehen. Oben auf dem Gipfel. Am Ziel.
Anfangs zeigte Tirata ihr den Rücken und schaute auf etwas in der Ferne, das sie vom Berg aus sehen konnte. Aber als Tirata sich mit einer raschen Bewegung zu umsah, erkannte Jessica, dass die Wahrsagerin aufgeregt war.
Der Wind ging stark hier oben, und die wenigen Büsche neigten sich demütig seiner Gewalt. Auf dem felsigen Grund des Gipfels wuchsen keine Bäume. Jessica schien es, als wollte dieser Berg mit seiner imposanten Höhe die Kuppel aufspießen, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass diese Kuppel, sofern sie denn eine war, viel, viel höher war, als sie bisher angenommen hatte.
»Jessica!« rief Tirata schrill und begeistert, dass Jessica glaubte, einem Mädchen hinterherzuklettern, »Komm schon, beeil dich! Du wirst endlich das sehen! Du wirst alles sehen! Komm her, komm!« Dabei winkte sie mit beiden Armen.
Jessica war bemüht, sich zu beeilen, doch ihre Arme und Beine waren nicht lang genug, und es dauerte eine Weile, bis sie nur noch Meter vor sich hatte.
Als sie endlich die Bergspitze überblickte, wollte ihr der Boden unter den Füßen fortbrechen. Was sie sah, konnte sie nicht in Worte fassen. Für das, was sie sah, gab es keine Vorstellung und keine Beschreibung.
Sie blickte den Berg hinab und sah weitere Berge ringsum, sie sah den Himmel unendlich weitergehen, sie sah Vögel, die ihres Weges flogen, und der Wind zog stärker an ihren Haaren als manch Kind beim Spielen.
Sie sah in weiter Ferne auf eine für sie unvorstellbar große Menge an alten, eingefallenen Häusern. Sie sah überwucherte Wege aus Stein, und in dem Licht der blendenden Sonne sah sie das Bild wie aus einem Traum. Mit offenem Mund starrte sie nur.
»Daher kommen wir«, sagte Tirata leise. »Vor vielen Generationen lebten wir dort, bis wir fortgingen. Bis der Wind von Irgendwo uns ins Dorf trieb.«
Jessica sah und roch und schmeckte und spürte und wusste, doch sie meinte nichts von alledem zu tun. Sie meinte zu träumen. Das dort konnte nicht wahr sein. Das dort konnte es nicht geben. Das dort gehörte nicht in die wirkliche Welt, sondern es war wie »Ein Traum«, hörte sie sich aus unendlicher Ferne sagen, und der Wind nahm diese Worte mit sich und schickte sie auf eine Reise ohne Wiederkehr in die Unendlichkeit. »Ein Traum.« Und auch diese Worte verschwanden für immer, mitgetragen vom Wind von Irgendwo.
Tirata blickte auf den Ort, der länger schon verrottete als ein Mensch aus dem Dorf denken konnte. Sie verspürte ein Hochgefühl, und sie wusste, dass ihr Auftrag ausgeführt war. All das, worauf all ihre Vorgängerinnen ihr Leben und sie nun ihr eigenes gewartet und hingearbeitet hatten, war nun in Erfüllung gegangen, und ihr Blick verschwamm bei dem Gedanken daran unter Tränen. Das erste Mal in ihrem Leben, das davon geprägt war, zu wissen, dass das Leben in und um das Dorf nichts weiter war als ein Traum, glaubte sie selbst zu träumen. Es war etwas in Erfüllung gegangen, und es war großartig. Die Vergangenheit war vorbei, die Zukunft begann.
»Nein«, meinte Tirata mit zitternder Stimme, ohne dass sie sich des Blickes entsagen konnte, »dies hier ist die einziges Wahrheit. Alles andere war Lüge.«
Jessica versuchte, Einzelheiten auszumachen. Der Ort dort unten war riesig, sie vermochte die Anzahl der Häuserruinen nicht zu zählen. Es waren mehr als Bäume um das Dorf standen. Welch Menschenmassen mochten dort einst gelebt haben! Welch eine unübersehbare Fülle an gehenden, laufenden und sitzenden Menschen, mehr als sie sich vorstellen konnte. Das alles sollte die Wahrheit sein? Es gab Wege aus purem Gestein, unendlich viele davon. Manches war in die Natur übergangen und überwachsen. Dort lebte schon Ewigkeiten kein Mensch mehr.
»Wo sind sie alle hin?«, wisperte Jessica so leise, dass Tirata ein kalter Schauer überlief, da es sich anhörte, als hätte der Wind selbst zu ihr gesprochen.
»Fort«, entlockte sie sich mit Mühe. »Sehr, sehr lange sehr, sehr weit fort.«
Jessica wandte ihren Blick nicht ab, stets darauf erpicht, mehr zu erkennen, als sie konnte – die Entfernung gestattete es ihr nicht, alles zu sehen. Zuviel Luft und Wind lagen zwischen ihr und dem, was sie zu sehen und ergründen versuchte. »Wie lange? Und wie weit fort? Und wo liegt dieses Sehrweitfort?«
Plötzlich musste Tirata schlucken, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und setzte sich auf den steinigen Boden. Sie versuchte einige Augenblicke, ihre Stimme wiederzufinden, und schließlich sagte sie mit starrem Blick: »Es ist alles so lange her. Ich weiß daraus nur aus Büchern. Es war eine Qual, davon zu wissen und gleichzeitig sich darüber im Klaren zu sein, dass man es den Anderen nicht mitteilen kann.«
Und so Tirata begann zu erzählen:
Davon, dass es einst mehr Menschen gegeben hatte, nicht nur hier, sondern auch anderswo. Dass es Menschen gegeben hatte in Orten, die so weit entfernt lagen, dass selbst die Vögel nie dorthin kommen konnten. Davon, dass die Menschen einst aufbrachen zu neuen Ufern, diese Welt zurückließen, weil sie zerstört war, und dass es eine Gruppe Menschen gegeben hatte, die sich dem entzogen hatten, da sie diese Welt nicht hatten verlassen wollen. Man hatte sie verspottet und Fanatiker genannt. Doch diese Gruppe hatte sich in einer Höhle zurückgezogen, so dass man sie zurückließ und ohne sie aufbrach. Und dort, in dieser Höhle, hatten sie mit Vorräten Jahre ausgeharrt. »Man wollte mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben«, sprach Tirata in den Wind. »Und das war leicht, denn es gab nichts mehr, an das man sich halten konnte. Das Einzige, das es gab, waren die Versteckten und die Welt, die zu zerstört war, als dass sie den Menschen noch hätte eine Heimat sein können. Die anderen wollten zum späteren Zeitpunkt wiederkehren, wenn die Welt sich wieder erholt hatte.Nur diese Gruppe glaubte an den Fortbestand und wollte nicht fort. Nach vielen Jahren in der Höhle und kam sie heraus, sie hatten auch keinen Proviant mehr. Es waren schreckliche und harte Jahre für sie. Aber sie hatten einen Traum, und den wollten sie um jeden Preis verwirklichen: eine neue Menschheit, gewachsen vom Anbeginn an. Alle Erfindungen, die man gehabt hatte, mussten neu erfunden werden. Man wollte eine neue Schöpfung der Menschen anstreben, unter anderen moralischen und ethischen Begebenheiten. Es war ein großer Plan. Und wir sind die Kinder dieses Plans, der gescheitert schien.« Sie holte zitternd und hörbar Luft. »Bis jetzt.« Der Wind spielte mit ihren Haaren und pfiff durch die Täler in ihrem Gesicht. »Weil nun der Wind von Irgendwo kommt und uns endlich auf den rechten Weg zurückbringt. Weil er nun kommt und all die vielen, langen Jahre des Stillstands hinwegfegt und mit sich nimmt.«
Und Tirata erzählte und erzählte, während Jessica schaute und staunte. Sie erzählte von all den unausgesprochenen Geheimnissen, die die ganzen Jahre die Welt bestimmt hatten, und die nun gelüftet wurden. Da war die Corrin-Höhle, in die man einst geflohen war, und die man nun zurückkehrte. 
Was sollten die Männer dort finden?

Umgeben von Dunkelheit tappten sie immer tiefer in den Schlund hinein in den Berg. Ihre Fackeln zeigten ihnen Felswände, die sich mancherorts zu ganzen Räumen und Sälen auswölbten, und die hin und wieder dann so eng zusammen liefen, dass sie hintereinander gehen mussten. Immer mehr entpuppte sich die Corrin-Höhle als dunkles, feuchtes Labyrinth. Nicht selten leuchteten sie in Spalten hinein, die in den Felswänden klafften, oder es offenbarten sich ihnen Löcher, die sich nach wenigen Meter so verengten, dass nicht einmal ein Kind hineingepasst hätte. Im Schein ihrer Fackeln waren ihre Gesichter orange, und ihr Atem löste sich in Wolken auf. Sie fröstelten, und ihre Kleidung sog die feuchte Luft ein.  
Das Echo ihrer Schritte erstarb im Dunkeln jenseits des Fackelscheins. Mehr als nackten Fels wollte ihnen die Corrin-Höhle nicht zeigen. 
Morkus wünschte sich, Tirata nun bei sich zu haben, doch waren sie allein.
Jedes Mal, wenn sie an einer weiteren Öffnung vorbeikamen, hielten sie ängstlich ihre Fackeln in das Loch, um hineinzusehen; und jedes Mal aufs Neue umklammerten sie mit schweißnassen Händen ihre Waffen fester, bereit, einem Monster im Kampf gegenüberzutreten. Und jedes Mal aufs neue kam keines.
Und schließlich kamen sie an:
Eine Kathedrale aus Felsen und Kalk. Sie war so hoch, dass ihre Fackeln nicht bis an die Decke zu leuchten vermochten. Überwältigt standen sie da und sahen nach oben und nach allen Seiten. Tiefschwarze Schatten lagen zwischen den Felsen mit ihren Schluchten und Rissen. Ihr Atem stieg als Rauch auf und verschwand für alle Zeit in der Felsenhalle.
Sie standen da und trauten ihren Augen kaum.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte jemand. 
Sie erschraken, als das Flüstern hundertfach echote und zischte wie von einer Schlange ausgestoßen.
»Was ist hier?«, fragte jemand leise, und in der Stimme lag ein Zittern der Furcht und der Kälte wegen.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte ein anderer.
Da waren sie nun in der Corrin-Höhle. Da waren sie nun im Bauch der riesigen Echse des Gebirges, da waren sie nun im tiefsten aller tiefsten Schlünde und Mäuler, und sie waren umgeben von Fels und Kälte.
Plötzlich zischte jemand: »Hört ihr das?«
Augenblicklich erstarb jegliches Wispern. Sie alle hielten ihren Atem an. Es war, als existierte hier nichts. Nicht einmal ein Laut. Nicht einmal ein Atem. Eine solch durchdringende Stille hatten sie noch nie gehört. Mark spürte, wie sich seine Haare sträubten und er zu zittern begann. 
Tausend Dinge schossen ihm und seiner Gefolgschaft durch den Kopf, als sie lauschten. Was sollten sie hören? Schlurfende Schritte von dem unbekannten, grausigen Wesen, das die Kälte und die Dunkelheit dieser Höhle sein Zuhause nannte? Irgendein Atmen von etwas Fremdem? Höhnisches Gekicher?
Im Schein ihrer Fackeln huschten ihre Blicke von Schatten zu Schatten, die überall lagen, zuckten, aufflammten und wieder verschwanden, und sie taten alles, um jeden Winkel der Höhle um sich herum gleichzeitig im Blick zu haben. 
Hier also musste es sein. Was immer es auch war. Hier mochte gleich Maraim aus der Dunkelheit kommen, eine riesige Zunge, Flammen, Monster von ungeahnter Gestalt.
Mark lauschte wie alle anderen, und da kam es langsam in ihr Ohr. Sie tauschten Blicke aus, waren sich einig, dass sie alle es hörten, schlossen sich näher zusammen, und dann nickten sie, jeder für sich und die anderen. Da war etwas, ganz leise, und je länger sie so nahe beieinander standen, um so hörbarer wurde es. 

Sie hörten das Rauschen des Windes, der von dem fernen Ort her kam. Jessica zog es dorthin. »Gehen wir dorthin?«, fragte sie.
Tirata schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein toter Ort. Und es wäre ein Schritt zurück. Wir gehen in die andere Richtung.«
»Warum hast du uns nichts gesagt? Warum hast du uns belogen? Und warum all die anderen Wahrsagerinnen all die anderen vor uns?«
Erneut kamen Tirata die Tränen. »Es war der Lauf der Dinge. Die neue Menschheit sollte aufwachsen mit neuen Vorstellungen von der Welt. Sie sollte mit der Natur in Einklang leben, sie sollte sich der Natur unterwerfen. Alles Wissen lag in Büchern, aber über Jahre hinweg schwand die Gabe, sie zu lesen. Aus einer Idee wurde ein Konzept und aus diesem ein Glaube. Dieser Glaube bestand aus anderen Ritualen. Die Menschen sollten vergessen, aber es gab immer jemanden, der Bescheid wusste über die Vergangenheit. Die Wissenden wurden wie Götter behandelt oder wie Wahrsagerinnen, die ihr Wissen aus dem Wind und von den Geistern bezogen.«
Jessica hörte aufmerksam zu und wusste, je mehr sie hörte, dass sie nicht alles verstand und behielt.
Aber als Tirata geendet hatte, waren ihr verschiedene Dinge bewußt geworden: In der Corrin-Höhle war …

… ein See von Wasser. Ungläubig blickten sie in ihn hinein und erkannten in de Spiegelungen auf der Wasseroberfläche sich selbst. Sie erblickten ihre Gesichter, gezeichnet von Angst, sie sahen ihre Hände, die Waffen und Fackeln hielten, und sie erkannten, als sie in ihre eigenen Augen sahen, in das Zentrum dessen, was sie fürchteten.
Mark drehte sich um und ließ seinen Blick nach oben gleiten. Wie gewaltig diese Höhle doch war. Und wie erschreckend leer sie all die Jahre über gewesen war. Hier gab es nichts. Hier gab es nur Angst. Ihre eigene.
»Was nun?«, hörte Mark jemanden fragen.
»Wir gehen wieder«, entgegnete Mark. 
»Wohin?«
»Fort von hier. Weit fort.«
»Und was haben wir zu fürchten?«
»Nichts mehr.«
Und so gingen sie, schweigend und verwundert über das, was sie gesehen hatten. Niemand sagte auf dem Rückweg ins Dorf ein Wort.
Sie alle waren der Corrin-Höhle entkommen, sie alle waren darin gewesen und hatten gesehen, was sich darin Schreckliches verbarg. Sie hatten es gesehen, aufgedeckt und ließen es dort zurück.

»Es hat ein Ende«, meinte Tirata und stand auf. 
Jessica sah zu ihr auf. »Dann haben du und die anderen Wahrsagerinnen all die Jahre nur darauf gewartet?«
Tirata nickte. »Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Ordnung wieder aufbrach und alle reif für die neue Zeit waren.
»War denn alles falsch, was wir getan haben?«
»Falsch ist nur dann etwas, wenn es nicht mit den Werten übereinstimmt. Unsere Werte waren all die Jahre auf Angst und Aberglaube aufgebaut, aber aus unserer Sicht nie falsch. Wir haben in Verblendung gelebt, die es nicht gestattete, mit den Regeln zu brechen. Wir mussten so lange warten, bis die Dinge sich von selbst widersprachen. Wir konnten nicht die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren, solange sie nicht reif dafür waren. Solange sie es nicht begreifen konnten. Nun, die Werte sind gestürzt, das Verständnis setzt ein. Die Geburt, die Neuerschaffung einer Zivilisation braucht seine Zeit, und wir hatten sie.« Tiratas Augen glänzten. »Eine neue Zivilisation von Grund auf, die gelernt hat, die gereift ist. Es hat sich gelohnt, zu warten, denke ich.«

Sie kehrten in das Dorf zurück. Mark fröstelte, als er das Dorf wiedersah, er verfluchte es, er wollte es niemals wiedersehen. Er hatte mit allem darin abgeschlossen. Benommen wie alle anderen gesellte er sich zu den Wartenden im Dorf, die neben ihren gepackten Habseligkeiten auf sie gewartet hatten.
Lorn kam Mark entgegen und umarmte in freudig, doch Mark erwiderte die Umarmung nicht. Als Lorn ihm in die Augen sah, sah dieser einen neuen Glanz in den Augen seines Sohnes. Einen Glanz der Reife, einen Glanz der Entschlossenheit, und Lorn wurde klar, dass er ein Kind verloren und einen Erwachsenen gewonnen hatte. »Was habt ihr gesehen?«
Mark suchte nach Worten. »Die Angst.«
»Wie sah sie aus?«
Mark gedachte seines flimmernden Spiegelbildes im Wasser. Das verbitterte Gesicht eines verängstigten Kindes. »Seltsam.«
»Was ist mit Maraim?«
»Tot.«
»Habt ihr ihn umgebracht?«
Mark dachte an das Feldfrucht-Fest. »Ich denke ja. Er war nicht dort.« 
»Haben wir jetzt Frieden?«
Mark zuckte die Achseln und sah seinen Vater an. »Vorerst sicher. Aber später …«
Der Wind von Irgendwo umströmte sie alle und blies sie fort von dem Ort, an dem seit Menschengedenken das Dorf ihre Heimat gewesen war. Mark bestand darauf, das Dorf niederzubrennen, auf dass alles, für was es stand, vernichtet wurde. Niemals wieder sollte man hierher zurückkommen und erneut eine Heimat finden.
Man tat wie geheißen, und kurze Zeit später brannten sie alle lichterloh, die Häuser, die Ställe und Scheunen, die Schuppen. Schwarzer Rauch stieg von ihnen auf in den Himmel, kreiste umher, dünnte sich aus und löste sich im Himmel einfach auf.
Als sie alle das Dorf hinter sich ließen, sahen sie sich häufig um, auch Mark, der im tiefsten Innern seines Herzens Tsam brennen sah, seine eigene Kindheit und all seine Träume, die er gehabt hatte. Und wie er sich umsah, erblickte er seine Schwester Jessica gemeinsam mit Tirata, wie sie in das Haus der Wahrsagerin gingen. Dies war keine Einbildung, dies sah er wirklich.
Jessica. Seine kleine Schwester. Er würde sie bald womöglich wiedersehen, wenn sie mit Tirata ihnen folgte und das zerstörte Dorf für immer hinter sich ließ,  in dem es nun keine Menschen mehr gab wie in der alten, verrotteten Stadt jenseits der Berge. 
Tsam. Bitterkeit überkam Mark, und er musste sich zusammennehmen, nicht in Tränen auszubrechen. Sein einziger und bester Freund, der ihn bis zu seinem Tod begleiten wollte – nun, Mark hatte ihn bis zum Tode begleitet, und Tsam war Mark bis zum Tode Freund geblieben.
Es sollte noch lange dauern, bis Mark in einem aufblitzenden Lachen Sarah, in einem Satz, den sie sagen würde, in vielen Bewegungen und Gesten, die sie machen würde, Tsam wiedererkannte; und als er später sah, wie Sarah ihren von Mark gezeugten Sohn aus Spaß in der Wanne kitzelte, ging Mark nach draußen, und weinte in Andenken an Tsam, den er zurückgelassen hatte jenseits der Wälder, jenseits aller Weiden und Wiesen, irgendwo weit, weit entfernt, wo einst ein Dorf gelegen hatte, in dem lange Zeit die Früchte zu einer neuen, jungen Menschheit gereift waren, die der Wind vor Irgendwo hierhergetragen hatte und noch weiter in die Welt hinaustragen würde. Wohin, wusste nur der Wind von Irgendwo selbst.

Vorgestellt: Mein Pseudonym Sasha Scott

Darf ich vorstellen? Sasha Scott. Mein Alter Ego, mein Pseudonym, wie immer man es nennen mag. Treffend ist beides. Warum habe ich mich dazu entschieden?

Weil ich schreibend in zwei Welten lebe und ich erfahre, dass sie nicht zueinander passen: Die Phantastik und die Literatur ohne Phantastikbezug. Für beide Welten habe ich Material, für beide Welten begeistere ich mich – aber mir ist bewusst, dass es für LeserInnen schwer sein kann, wie auch für mich: Wer als ErstleserIn in der falschen Welt landet, macht schnell einen Haken an den Rest. Ein Pseudonym ist da klarer, differenzierender und nutzt meiner Ansicht nach der Leserschaft wie auch mir gleichermaßen.

Auch unterscheidet sich mein Schreibstil teilweise erheblich in den beiden Welten und ich möchte daran auch festhalten.

So habe ich mich nun entschieden, mein bereits vor einiger Zeit erdachtes Pseudonym für die Phantastik zu wählen und unter diesem Namen auch künftig Stories in Anthologien und anderen Veröffentlichungen sowie für kommende – und bereits fertige – Romane zu verwenden.

Den Anfang macht meine bereits veröffentlichte SF-Erzählung

Wenn Sarah in den Keller ging, die in der ersten eBook-Version noch unter meinem Geburtsnamen erschien, in der nächsten Version sowie in der Print-Version unter dem Namen Sasha Scott laufen wird.

Außerdem möchte ich noch in 2019 meinen phantastischen Roman Der Wind von Irgendwo unter dem Namen Sasha Scott als eBook veröffentlichen.

Für 2020 steht der ebenfalls bereits fertige SF-Roman Vakuum an, den ich aller Voraussicht nach ebenfalls im Selfpublishing veröffentlichen werde. Hinzu kommen mindestens 2 ebenfalls bereits fertige längere Erzählungen und möglicherweise einen Band mit SF-Stories.

Unter meinem Geburtsnamen wird es 2020 die Veröffentlichung meines Romans Dickhäuter ebenfalls im Selfpublishing geben – derzeit bearbeite ich den Roman umfassend, worüber ich natürlich hier im Blog weiterhin berichten werde.

Warum ich Sasha Scott als Pseudonym wählte, ist schnell erklärt: Unser erster Hund, ein Airdale Terrier, den meine Eltern kauften, hieß Sascha – mein zweiter Hund, ein Dalmatiner, hieß Scotty. Tiefer habe ich über die Materie nicht nachgedacht, denn für mich war das Pseudonym aus beiden Namen immer so klar wie unumstößlich. 

Zu finden bin ich auf Twitter nicht nur wie gewohnt unter https://twitter.com/oliverkochnet sondern jetzt auch unter https://twitter.com/sashascottautor .