Merkbar

Unkraut, das kein Unkraut ist

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Unkraut nennt der gelernte Fachjargon das, was da zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons wächst. Unkraut deshalb, weil es dort wächst, wo es nicht wachsen soll.

Wir lernen: Ob eine Pflanze Unkraut ist oder nicht, ergibt sich aus dem Ort, an dem sie das Pech hat, zu wachsen. Wo bestimmt wird, dass sie dort nichts zu suchen habe, wird aus einer Pflanze also ein Unkraut, ein abwertendes Urteil.

Ist das nicht bedauerlich?

Ich habe nachgeschaut: Was da zwischen zwei Bodenplatten sprießt, nennt sich Ruprechtskraut oder Geranium Robertianum. Sie gehört zu den Storchschnabelgewächsen, Paracelsus hat sie als Heilpflanze beschrieben. Erste Aufzeichnungen gab es laut Wikipedia bereits im 13. Jahrhundert – damals wurde dieses „Unkraut“ zu medizinischen Zwecken in Gärten angebaut.

Was da nach eingängiger Meinung wächst, soll helfen gegen Frauenleiden, Zahnschmerzen, Prellungen, Fieber, Gicht, Nieren- oder Lungenleiden, Herpes und Nasenbluten. Auf Wikipedia ist weiterhin zu lesen:

Der Aufguss von der Pflanze wurde als Stärkungsmittel eingesetzt und galt auch als wirksam gegen Durchfall. Auf Wunden aufgelegt sagt man ihm antiseptische Wirkung nach. Aufgrund des eigenartigen Geruchs der zerriebenen Blätter wird es auch als mückenabwehrende Pflanze angesehen.

Daher, meine Damen und Herren, bitte: DAS soll ein Unkraut sein? 

Diese Pflanze da, die ich nun nachdrücklich nicht als Unkraut bezeichnen möchte, lasse ich wachsen, zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons. Denn sie ist wertvoll – und sie sieht gut dort aus mit ihren kleinen Rosa Blüten. Woher kommt die Versessenheit auf das Ordnungsprinzip durchgehender Stein– und Betonflächen? 

Ich freue mich über dieses unvorhergesehene Sprießen von Natur, die mein Leben eindeutig mehr bereichert als stört. Übrigens ist dieses eine Ruprechtskraut nicht allein auf meinem Balkon, denn ich habe weitere Geschwister entdeckt. 

Was ich dazu sage? Schön! Kommt nur alle her. 

Wir können aus diesem Beispiel lernen: Gängige Muster der Abwertungen sollten wir uns sparen, denn sie sagen mehr über uns selbst aus als über das Objekt der Abwertung.

Oberflächliche Betrachtung führt zu falschen Schlüssen. Ein Kennenlernen und Schätzenlernen findet nicht statt.

Und mehr noch: Man verkennt, von welcher Fülle man umgeben ist, wieviel Gutes, Schönes und Vernünftiges in der Welt ist, das wir allzu gern bereit sind, aus Unkenntnis und Unlust zu vergiften – und damit auch uns selbst.

Mein Beinaheleben in Kamen-Methler

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Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, hätte ich es ab dem Jahr 1982 oder 83 in Kamen-Methler gelebt. Aber ich dachte erstmals darüber nach, als ich kürzlich auf einer Reise mit dem Zug dort hielt. Fast nämlich wäre es so gekommen. In der Schule dort war ich bereits angemeldet. Angeblich, so sagte mir damals meine Mutter, freuten sich die Jungen der Klasse auf mich, denn es gab dort mehr Mädchen.

Meinem möglichen Leben in Kamen-Methler auf der Spur

Ich finde es nicht eigenartig, 40 Jahre später darüber nachzudenken. In dem Moment nämlich, in dem mein Zug dort hielt, war alles so präsent, dass die Jahrzehnte nur irgendwelche Zahlen waren.
Natürlich ist alles Spekulation eines über 50-Jährigen, der sich einen möglichen Lebensweg seines 11- oder 12-jährigen Ichs vorstellt. Was immer ich mir vorstelle, geht von meinem heutigen Kenntnisstand meines wirklich gelebten Lebens aus. Alles, was im Leben nicht erfreulich verlief, gerät sofort auf die Liste „Was mir erspart worden wäre“. Eigenartig, dass erst später die Liste „Was mir alles entgangen wäre“ wichtig wurde.

Kamen-Methler. Eigenartig, dass wir seit damals immer Kamen-Methler sagen anstatt Kamen. In anderen Städten sagt man auch nicht automatisch den Ortsteil. Ich habe in Osnabrück gewohnt, in Hamm, in Waldbronn, in Karlsruhe. Nie spielte der Ortsteil je eine Rolle. Nie haben wir gesagt, in Osnabrück-Eversburg zu wohnen oder in Hamm-Süden, Waldbronn-Busenbach oder Karlsruhe Südstadt.

Bei Kamen-Methler schon. Vielleicht ist das der Grund der genauen Erinnerung. Die Spezifizierung als Trigger eines Neubeginns, der letztlich zum Beinahe-Neubeginn geworden war.
Wären wir wirklich dorthin gezogen, wäre es mir leichter gefallen als 1985, als wir letztlich nach Hamm zogen. Kamen-Methler war fortan fast vor der Haustür, aber Kamen bin ich nur auf der Autobahn oder im Ikea nahegekommen. Methler habe ich seither niemals wieder betreten.

1982 oder 83 wäre mir der Wechsel zwar nicht willkommen gewesen, aber es wäre in Ordnung gegangen. Ich war noch nicht so gefestigt in Osnabrück, obwohl ich diese Stadt immer so geliebt habe. Ich wäre ein 11- oder 12-jähriger Junge gewesen, der in einen anderen Ort gezogen wäre. Ein Neubeginn wäre nicht einmal ein Neubeginn gewesen, sondern ein Weitermachen unter anderen Vorzeichen. Dass man mich angeblich auf mich freute, hatte es mir einfach gemacht. Es kann gut sein, dass man mir es damals nur gesagt hatte, um mir den Wechsel zu erleichtern. Heute will ich gar nicht wissen, ob dem so war. Wahrscheinlich könnte sich meine Mutter auch gar nicht mehr daran erinnern.

Was wäre aus mir geworden? Schwer zu sagen. Ob ich nach der Realschule dort auch weiter aufs Gymnasium gegangen wäre wie in Wirklichkeit, kann ich nur spekulieren. Schon damals habe ich ständig Geschichten geschrieben, arbeitete an einem Science-Fiction-Roman, dessen handschriftliches Original ich tatsächlich noch besitze. Er blieb unvollendet. Nach einem gewissen Kapitel hatte ich keine Lust mehr, und heute kann ich nicht mehr sagen, wie er hätte weitergehen sollen.

Dass ich mit dem Schreiben in Kamen-Methler aufgehört hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Meine Stärke in der Schule ist immer Deutsch gewesen. Das wäre auch dort nicht anders gewesen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ich auch dort aufs Gymnasium gegangen wäre, später wie in meinem wirklichen Leben an die Uni. Die Anlagen dessen, was mich heute noch ausmacht, waren damals schon ausgeprägt genug, dass ich sie guten Gewissens prägend nennen kann.
Auch kann ich sagen, was ganz sicher nie passiert wäre: Ich wäre nie in einen Fußballverein gegangen und hätte mich nie für Autos interessiert. Das weiß ich, weil mein Desinteresse daran schon damals ausgesprochen klar war.

Haarscharf am Leben in Kamen-Methler vorbei

Aber hätte ich nicht doch eine Lehre begonnen, weil ich „weg von zu Hause wollte“ oder weil sich eine tolle Gelegenheit bot? Und würde ich noch in der Nähe wohnen?
Mit dem Zug am Gleis stehend, fotografierte ich die Anzeigetafel im Zug, auf der Kamen-Methler stand. Ich fragte meine Mutter später, ob unsere Beinahe-Wohnung in der Nähe eines Gleises lag, doch sie entsprach meiner eigenen Erinnerung: Nein.

Wie kommt es aber, dass Kamen-Methler noch derart präsent sein kann? Weil es so unglaublich knapp gewesen war. Wir hatten bereits eine Wohnung dort. Sie war bereits tapeziert, die Tapete meines Zimmers hatte ich mir selbst ausgesucht. Ich hatte in dem tapezierten Zimmer gestanden und mich gefragt, wo meine Möbel stehen sollten. Das Einzige, was noch gefehlt hatte, war der eigentliche Umzug. Die Trennung meiner Mutter von ihrem damaligen Lebensgefährten kam buchstäblich in letzter Sekunde. Gedanklich hatte ich mich damals bereits ganz auf mein Leben in Kamen-Methler eingestellt.

Überall gibt es Geschichten

Ich bin neugierig, was ich über Methler finden mag, und erlebe einige Überraschungen: Methler hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Darin ist zu lesen: „Die erste urkundliche Erwähnung des Namens Methler geht auf eine Schenkungsurkunde vom 11. April 898 zurück“ – Donnerwetter. Und es geht noch weiter: „Die Bodenfunde in Westick, einem germanischen Handelsplatz mit hohem Anteil römischen Fundmaterials, weisen aber auf weitaus ältere Besiedelung im Bereich Methler hin.“ Im Hammer Museum kann man sich Funde ansehen. 2006 wurde im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft die spanische Mannschaft in Kamen-Methler untergebracht.

Überall gibt es Geschichten, meine eigene hat einen anderen Verlauf genommen. Meine Geschichte ging bis 1985 in Osnabrück weiter. Wen ich kennengelernt hätte, wessen Freund ich geworden wäre – und ob ich vielleicht sogar bis heute mit mindestens einer dieser Menschen befreundet wäre – wer weiß. Eines jedoch ist klar: Meine Geschichte wäre vollkommen anders verlaufen. Ich hätte andere Erfahrungen gemacht und gewisse Erfahrungen, die mich auszeichnen, dafür nicht. Ich wäre eine Version von mir geworden, die mit mir Heutigem nur die Anlagen gemeinsam hätte.

Kamen-Methler war und ist ein bedeutsamer Abzweig in meinem Leben. So vieles wäre anders geworden, als es jetzt ist. Sich damit zu befassen, ist inspirierend. Es erlaubt einen Blick auf Möglichkeiten und mein eigenes Leben.

Es ist erstaunlich: Während meines Zugstopps sah ich so gut wie nichts. Aber der Name an der Anzeigetafel und später auch auf den Schildern am Gleis öffneten eine Tür zu einer Vergangenheit, die 40 oder 41 Jahre zurückliegt. Das ging ganz schnell. Die Tür öffnete sich, und etwas sagte mir „Schau hin.“ Das Nachsinnen über damals, darüber, wie knapp das Ganze war, und welches Leben ich hätte führen können, dauern indes länger.

Was soll dieses Nachdenken über derart ungelegte Eier? Es zeigt die Mechanik des Erinnerns, denn wie schon erwähnt, war zuerst die Liste mit all den Dingen präsent, die mir erspart geblieben wären. Ist das nicht seltsam, und ist das nicht eine Art von Sehnsuchtsort, den sich nur der ersehnt, der mit dem eigenen Leben unzufrieden ist?

Tatsächlich nicht. Auch diese Erkenntnis gehört zum Nachdenken dazu, und ich bin froh, dass es mich zu ihr geführt hat. Als ich 1985 letztlich nach Hamm zog, war es schwer für mich. Mit 14 hatte ich einen festen Freundeskreis und wollte niemals aus Osnabrück weg und ganz sicher nicht jemals nach Hamm ziehen. Aber Hamm war gut zu mir. Natürlich war die erste Zeit dort schwer, aber schnell schlug ich Wurzeln dort – eine große Hilfe: Mein Schreiben. Es machte mich unabhängig, und genau das war es, was ich damals gebraucht habe. Die Freunde stellten sich ein, ich erlebte großartige Zeiten in Hamm, und nein, ich möchte es nicht missen. Tatsächlich habe ich dort Freunde gefunden, die es bis heute geblieben sind. Meine Geschichte ist auch so gut geworden, und auch wenn es Schwierigkeiten, Niederlagen oder Rückschläge gab, bin ich mit meiner Geschichte ganz zufrieden.

Aber über alternative Welt– und Lebensläufe nachzudenken, auch die eigenen, finde ich einfach interessant. Und warum sollte ich damit fertig sein? Wenn ich die damalige Geschichte schon nicht beginnen konnte, kann ich sie mir jetzt einfach ausmalen. Und dafür habe ich viele bunte Stifte.

Fugen oder: 30 Jahre meines Lebens

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Viel steckt in diesen Fugen. 30 Jahre meines Lebens haben sie gesehen, und man sieht es ihnen an. In ihnen steckte viel, über sie ging ich längst, als ich noch jugendlich war und voller Ideen und Träume. Außer den Fugen ist nichts davon geblieben. Wir sind gemeinsam alt geworden. Wer hätte das gedacht, als ich sie zum ersten Mal sah.

Hineingelugt hab ich in das Badezimmer ohne Licht, noch unbezogen von uns, von mir und unseren Leben. Da war es neu, unbenutzt, und ich war ihm herzlich egal wie es mir. Ich wusste nur: Ich wollte hier nicht hin. Nicht in dieses Haus, nicht in diese Stadt. Ich ließ mein Leben hinter mir, weil ich es musste.
Da waren die Fliesen und die Fugen noch neu.

Heute blicke ich sie an, mehr noch als die Fliesen, weil sie Sollbruchstellen sind und Verbindungen, und weil sie die Patina des Alters annehmen und der Jahre, die über uns hinweg gegangen sind inzwischen.

Ich habe mit all dem hier nichts mehr zu tun, und obwohl ich an mich an vieles erinnere, an das Gefühl damals, an das ein Damals, das Leben, die Träume, die Illusionen, die Freunde und der Hund, die allesamt darüber geschritten sind, sind sie hier vollends fortgewischt. Keine Hautschuppe von mir findet sich mehr hier, ich habe mich zu sehr gehäutet in der Zwischenzeit, bin ein anderer geworden.

Dieses Bad jedoch ist immer noch gleich. Die gleichen Fliesen, der gleiche Farbton. Früher war das zeitgemäß, heute wirkt es alt. Und die Fugen: Schmutzig wirkend, ohne schmutzig zu sein, streben sie einklemmt zwischen Fliesen den Wänden und Begrenzungen entgegen, seit 30 Jahren schon. So banal und doch auch nicht.

Ich schaue sie an, sie sind mein Leben irgendwie, oder zeigen sie wenigstens die Zeit, die hier vegangen ist. 30 Jahre. Alt werden will ich nicht, und nein, alt werden, das werde ich auch nicht, nicht alt in dem Sinne, in dem ich aufwuchs damals, alt zu sein.

Alt und Alter hat eine andere Bedeutung bekommen. Es hat einen Klang, den nur die Alten sprechen können. Alter spielt keine Rolle mehr, nicht so wie damals. Vor 30 Jahren, als ich die Fugen, damals unberührt, das erste Mal berührte, hatte ich vom Alter keine Vorstellung. Auch nicht von einem neuen Jahrtausend, das lag 15 Jahre noch entfernt, das Doppelte meines damaligen Lebens. Jahrtausendwende? Lag weit entfernt. Mein späteres Leben? Undenkbar. Mein damaliges als jetziges damals war genug.

Ich sehe nun auf diese Fugen und frage mich, was die Fugen meines Lebens sind, ob sie Brüche bekamen, ihre Farbe verändert haben, sich abgenutzt haben in letzter Zeit. So beharrlich, wie sie hier im Bad liegen zwischen den ewigen Fliesen, sind die Dinge meines Lebens nicht. Hier gab es immer wieder Renovierung, Ausbau, Umbau, mehr als nur ein Anstrich.

So ist dies hier ein Relikt, dieses Bad mit diesen Fliesen, ebenso wie diese Fugen. Meine sind Dehnfugen, zwischendurch erneuert und ausgewechselt, weil sich alles so geändert hat. Ich schaue es mir an und denke mir gut so. Dass es so war, wie es war. Und dass es nun vorbei ist und ist, wie es nun ist.