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Fluch und Segen der 1000-Seiten-Bücher

Da liegt wieder einer dieser Romane, die man schon wegen ihres Umfangs als Epos bezeichnen muss: 1000 Seiten und mehr sind eine Hausnummer für sich. So begeistert ich mich ihnen auch zuwende, so abgeschreckt bin ich von ihnen. Ich kann mich auf kein einziges von ihnen freuen und freue mich dann letztlich doch über sie, wenn sie mir gefallen. Manchmal ärgern sie mich auch.

Das zeigt: Zu 1000-Seitern habe ich eine innige Hassliebe. Je nach Buch überwiegt das eine oder das andere. Diese Ambivalnz hat verschiedene Gründe.

Gerade die US-amerikanischen Autorinnen und Autoren haben vielen erzählen. Das sollte man ihnen im deutschen Literaturbetrieb oft neiden: Hierzulande ist man lieber karg unterwegs, einen Roman aus Deutschland von mehr als 400, sogar 500 Seiten bekommt man selten zu Gesicht. 

In den USA hingegen kann man offenbar kaum genug von diesen dicken Werken bekommen.

Das hat zahlreiche beeindruckende Roman hervorgebracht, was man von Deutschland nicht behaupten kann.

In den USA herrscht Freude am Erzählen

In Amerika wird gerne mit beiden Händen in den Erzähltopf gegriffen und reichlich Wort auf überlebensgroße Leinwände geschleudert. Das ist eine Freude am Erzählen, die ich in deutschsprachigen Werken vermisse, und das fast ohne Ausnahme. In Amerika scheint man gern immer noch Neues, noch Weiteres hinzufügen zu wollen. Hierzulande hingegen ist man hauptsächlich damit beschäftigt, nicht absolut zwingende Worte zu streichen, um das Ganze so knapp wie möglich zu halten. 

Nun liegt also wieder eines dieser US-amerikanischen Ungetüme auf meinem Tisch. Mehr als 1000 Seiten recht dünn bedruckte Fabulierkunst, nah am und im Leben, wundervoll, beeindruckend. Und es kommt wieder einmal, wie bei mir kommen muss:

1000 Seiten, auch die wundervollsten, haben für mich einen Haken. Sie binden mich wochenlang. Wer Bücher in sich hineinfrisst und 300 Seiten in einer Nacht und 1000 locker nach Feierabend in einer Woche inklusive Wochenende schafft, ist da mir gegenüber im Vorteil.

Ich bin für dieses Netflixen von Romanen nicht geschaffen. Dafür lese zu langsam und lege zu häufig das Buch an die Seite. 200 Seiten am Tag sind für mich zwar nichts Besonderes, aber alltäglich ist es für mich auch nicht.

Beschäftigung für Wochen

Damit wird ein derartiger Ziegelstein eines 1000-Seiten-Romans für mich eine Beschäftigung für Wochen. So gerne ich auch in diese Welten eintauche, fühle ich mich dabei jedoch zu sehr von einem Roman in Beschlag genommen. Und so sehr ich Erzählung, Geschichte und Sprache auch genießen mag, wird es mir zwischen Seite 300 und 400 für gewöhnlich zu viel. Ich mache dann eine Pause, um auch andere Dinge zu lesen: Sachbücher aus verschiedenen Themengebieten vor allem, aber manchmal mogelt sich auch ein kleiner, leichter Roman dazwischen.

Anschließend kann ich wieder entspannt und interessiert zum 1000-Seite zurückkehren und ihn mit Genuss zu Ende lesen.

Natürlich gibt es Ausreißer, sowohl zum Guten wie zum Schlechten.

Es gibt die 1000-Seiten-Schmöker, die ich nicht pausieren kann oder will. Das ist für mich jedes Mal ein Glücksfall, den ich sehr zu schätzen weiß.

Und es gibt die Monumentalbücher, bei denen ich mich schon ab Seite 100 langweile und bereits bei 50 Seiten weiß, dass wir keine Freunde werden. Das sind dann solche Bücher, in denen mir alles nur künstlich aufgeblasen scheint, um auf möglichst viel Umfang zu kommen. Sie lesen sich für mich zäh und interessieren mich schnell nicht mehr. Da fallen mir leider viele Bücher aus dem phantastischen Genre ein …

Der Distelfink von Donna Tart

Von meinem aktuellen 1000-Seiten-Wälzer kann ich das glücklicherweise nicht behaupten: „Der Distelfink“ von Donna Tart ist einfach wundervoll – obwohl ich mich erst einlesen musste. Sprachlich auf höchstem Niveau, erzählt es so literarisch wie unterhaltsam eine Geschichte, die mich begeistert und eine Story, die mich wirklich interessiert.

Die Pause zwischen Seite 300 und 400 schlug bei mir aber auch hier zu. Ich las drei Wochen mehrere Bücher über Sachthemen und eine japanische Novelle. Nun bin ich aber wieder bereit, in die Welt des Distelfinks zurückzukehren. Und wenn es läuft wie immer, lese ich es von nun an auch ohne weitere Unterbrechungen zu Ende. 

Meine SF-Story „Bleib bei mir“ komplett bei Spektrum der Wissenschaft online lesbar

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Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.

Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar. 

Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein. 

In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer  also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.

Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen. 

 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 15: Der Wind von Irgendwo komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 14 lesen

Die Corrin-Höhle kam immer näher. Die Gruppe der Zwölf bewegte sich auf das zu, was ihr Leben seit Generationen bestimmt hatte, und sie waren sich der Tragweite dessen bewusst, was sie taten.
Die Corrin-Höhle! Inbegriff einer Angst, die sich nie hatten erklären können, einer Angst, die nur mit der Existenz der Höhle selbst erklärt worden war.
Doch was erschafft eine Angst, die niemandem etwas antut, eine Angst vor einem nebulösen Etwas, das irgendwo in einem Teil des Gehirn pocht und nur in den Träumen auftaucht? Dieses Etwas, das über allem lag und in allem steckte und sie geißelte, das aber niemals in Erscheinung trat? Was war dieses Etwas? Und wenn es dieses Etwas gab, steckte es wirklich in der Höhle, und wenn, war es unbesiegbar? Dieses Etwas hatte sich über Generationen still verhalten, doch nun rief es zum Kampf.
Nun war die Zeit reif dafür.
Mark war entschlossen und überzeugt davon geblieben, dass Maraim sich mit dem, was in der Höhle lebte, verbündet hatte – mehr galt es nicht zu wissen. Mark würde gewappnet sein, und so empfand er als Einziger der Zwölf auch keine Furcht. 
Die anderen elf hingegen hatten Dinge vor Augen, die ihre Vorstellungskraft an die Grenze führten. Sie stellten sich etwas vor, das mal über den Boden kroch, mal an der Decken hängend auf sie lauerte. Sie stellten sich den Höhleneingang als Maul vor und den Boden als Zunge. Es war mal bösartig, mal gefräßig. Mal sahen sie ein Wesen aus der Dunkelheit auf sie zu schnellen, das viele Köpfe besaß und folglich viele kleine Münder, allesamt mit Reißzähnen. Sie stellten sich Maraim vor, der dort lachend auf sie wartete, mal empfing er sie gastfreundlich und führte sie in die Höhle, nur um sie mit dieser List in ihr Verderben zu locken. In jedem Fall würde sie, da waren sie sicher, der Berg verschlingen.
Immer wieder betrachteten sie ihre mitgeführten Waffen und überlegten, wie sie diese gegen das Böse ins Feld führten. Sie stellten ich vor, Augen auszustechen, Schädel und Knochen zu brechen, Kopf und Glieder abzuschlagen.
Das Dorf war schon längst zu solch einem kleinen Punkt geschrumpft, dass sie keine einzelnen Häuser mehr ausmachen konnten bis auf das von Tirata. Den Frauenbaum erkannten sie nicht mehr, und einzelne Menschen hatten sie schon seit Stunden nicht mehr ausmachen können. Vielen von ihnen war, als röche die Luft hier anders und als raschelte das Laub nur zuvor gesehener Bäume und Büsche in neuem Klang.
Da blieb Mark kurz stehen und sah sich zu ihnen um. Sie schauten ihn an, und die Letzten schlossen zu ihm auf. Niemand wagte, etwas zu sagen, so dass es an Mark war, das Wort an sie zu richten: »Es ist nicht mehr weit.« Noch nie hatten sie Marks Stimme so entschlossen gehört. Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie alle weiter gehen würden. »Ich weiß nicht, was uns in der Höhle erwartet. Aber wir müssen bereit sein und wir werden das jetzt hinter uns bringen.«
Sie nickten stumm, denn Mark duldete keinen Widerspruch. Er sah jeden Einzelnen von ihnen an, und sie schöpften ein wenig Kraft daraus, denn Mark würde kämpfen für mindestens zwei von ihnen und sie mit all seiner Kraft verteidigen.
Gegen was auch immer. 
So ging Mark erneut los und die anderen folgten ihm.
Der Wind spielte mit Jessicas Haaren, und alles Gras neigte sich mit hm.
Tirata ging voran, weiter den Berg hinauf zu dem, das Jessica die Sprache verschlagen sollte. Jeder Schritt spülte ihr Fragen in den Kopf, die sie gern gestellt hätte, doch der Berg ging so steil hinauf, dass ihr oft der Atem dazu fehlte .Außerdem hatte ihr Tirata nach den letzten Fragen nichts anderes erwidert als: »Warte ab, du wirst gleich schon sehen, und dann erzähle ich dir alles.«
Doch das war ihr nicht genug. All die Jahre, all die Generationen war niemandem in den Sinn gekommen, auch nur einen Schritt in Richtung völlige Wahrheit zu gehen und begnügte sich statt dessen mit dem Wenigen, was man wusste.
Aber nun, da sie alle mehr wussten als jemals zuvor, und Jessica der Wahrheit noch näher war als alle anderen im Dorf, konnte sie es nicht mehr abwarten und sah nicht ein, warum sie weiter warten sollte. 
Tirata, die voraus ging, sprach in den wehenden Wind hinein: »Nein, wir gehen nur bis auf die Spitze, weiter nicht.« 
»Aber was haben wir da oben?« 
»Überblick. Mehr brauchst du auch gar nicht.«
So gingen sie weiter. »Müssen die anderen aus dem Dorf wirklich fortgehen?« 
»Sie kommen doch von hier. Sie wollen nicht fort von hier. Sie wollen hier blieben.«
»Das können sie aber nicht so einfach, Kind.«
»Warum nicht?«
»Weil der Wind von Irgendwo sie woanders hin blasen wird.«
Jessica blieb stehen. »Aber warum tut er das? Warum hat er nicht woanders blasen können? Warum hat er uns alle nicht in Ruhe gelassen?«
Tirata drehte sich um und sah sie an. »Der Wind von Irgendwo lässt niemanden für alle Zeiten in Ruhe. Warum sollte er auch? Ohne ihn wären wir nicht hier, ohne ihn würden wir nicht leben. Er führte deine Eltern zusammen, er führte deine Großeltern zusammen, er ließ unsere Vorfahren das Dorf errichten. Ohne den Wind von Irgendwo wäre nichts so, wie es ist und wie es war. Ohne ihn könnte nichts und niemand existieren. Denn er ist das Leben auf der Welt, Kind, nichts anderes. Und ganz gleich, wie furchtbar er uns auch manchmal treffen mag, so ist es unumgänglich, dass er weht. Der Wind von Irgendwo ist der Schöpfer des Bestehenden, des Gewesenen und des Kommenden. Ohne ihn gäbe es kein Leben. Und diesem Leben müssen wir uns anpassen, also treibt er und manchmal fort von hier oder von dort, wo wir uns gerade befinden. Wie auch jetzt.« 
»Aber warum dann hat er uns so viele Jahre in Ruhe gelassen?«
»Warum sollte er nicht?«
»Ich verstehe das nicht.«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Er kommt und geht. Manchmal schnell und heftig und lange, dann wieder lange Zeit überhaupt nicht. Es ist der Lauf der Dinge.«
»Ist er der Lauf der Dinge?« 
Tirata lächelte zufrieden. »Du bist den anderen um Vieles sehr voraus.«
»Aber wenn er uns vertreibt …«, und Jessicas Herz begann zu rasen und ihr Magen begann zu jucken ,»… hat er uns schon einmal vertrieben? Und wenn, dann von wo?«
Tirata drehte sich wieder um und sah zur Bergspitze hinauf. Dadurch verbarg sie ihre Tränen vor dem Kind, das nun allmählich die Dinge begriff. »Wir sind nur noch ein klein wenig entfernt von dem, was ich dir zeigen will. Es dauert nur noch ein paar Minuten, und du wirst es sehen.«
Und Jessica setzte sich in Bewegung, in begeisterter Hochstimmung, wissend, dass alles, was man immer geglaubt hatte, nun zusammenfiel und Lügen gestraft wurde.
Sie sahen die Corrin-Höhle bereits, und alles, was sie hörten, waren ihre eigenen Schritte. Niemand wagte mehr zu atmen, und auch Marks Herz begann zu rasen bei dem Anblick. Vor ihnen öffnete sich der Schlund in den Berg. Er war gewaltig: Höher als jedes Haus im Dorf, höher sogar, als hätte man zwei, drei Häuser aufeinander gestellt. So hoch wie der Frauenbaum, so hoch wie Bäume hinter Tiratas Haus und nahezu kreisrund. Umgeben von braunem Fels, verschwand das Tageslicht rasch im Dunkel. Umsäumt war der Eingang von Baum und allerlei Gestrüpp, und es war Mark, als kröche Kälte aus dem Innern des Berges. 
Gerade wollte er weiter gehen, als er hinter sich ein Geräusch hörte und sich umblickte. Karul hatte seine Ausrüstung fallen lassen, und alle Blicke fielen auf ihn. In Karuls noch jungen Augen stand die nackte Angst. »Ich kann nicht«, stieß er aus. Sein Blick klebte an der Corrin-Höhle. »Ich kann das nicht.«

Mark war der Anblick eines derart geängstigten Mannes ebenso fremd wie den anderen, und Karuls Furcht übertrug sich auf die anderen, Mark spürte das Brodeln im eigenen Magen, und er sagte schnell: »Das ist in Ordnung, Karul«, um die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. »Dann geh zurück, aber geh sofort und halt uns nicht länger auf.«
»Ich kann doch die Leute im Dorf … – ich kann sie nicht allein lassen, ich meine, was passiert, wenn wir nicht zurückkommen.«
»Wir werden nicht sterben«, sagte Mark mehr zu den anderen als zu Karul, der von einem Bein aufs andere trat. »Wir werden ein Geheimnis lüften.« Er nahm Karuls Sense vom Boden und streckte sie von sich. »Wir nehmen aber deine Waffen.« Er sah die Männer an, deren Anführer er geworden war. »Jeder nimmt sich, was er gebrauchen kann.« Und zu Karul gewandt: »Geh jetzt. Wir können dich zwar nicht entbehren, aber ein Mann, der so viel Angst hat, nützt uns nichts.«
»Ich warte hier auf euch«, stammelte Karul. »Ich lasse euch nicht zurück, und vielleicht kann ich euch noch helfen, wenn …«
»In Ordnung, Karul. Dann warte hier. Ihr anderen: Los, wir gehen.«
Mark setzte einen Schritt aus, als ihm die Größe bewusst wurde. 
Sie wandten sich wieder um, und Mark erkannte in vielen Augen das unbändige Sehnen nach Flucht vor allem. Und so sagte er: »Wir müssen  es sehen. Einmal der Angst ins Auge geblickt, ist sie später nicht mehr schlimm.« Und er sah auf die Corrin-Höhle zu seiner Linken: ein großes, dunkles Loch gezeichnet von Schwärze. Es sah schräg aus, und der Boden ragte weiter aus dem Berg heraus als die Decke. Nach dem, was er erkennen konnte, schien es gerade in den Berg zu gehen. Sein Herz pochte wild. Welch eine Herausforderung! Er konnte Einzelheiten erkennen, so zum Beispiel den Rand des Eingangs, der etwa dreimal so hoch war wie er selbst. Er sah grauen Felsen rund um die Höhle, manchmal nackt, manchmal mit Moos, Flechten und niedrigem Gras bewachsen. Das Loch war keineswegs rund, sondern es war unförmig; daher gemahnte es nicht an ein Maul oder einen Schlund, sondern tatsächlich wie ein Loch, das nicht für Menschen bestimmt war. 
Mark schritt weiter darauf zu, und die anderem folgten ihm. In seinem Kopf spukten manchmal Bilder von Tsam, er hörte ihn lachen und sprechen, er hörte ihn hinter sich durch das Gras rennen. »Ich habe dich gleich!« rief Tsam.
»Du? Du bist lahm wie eine Schnecke!« Es war warm, und es ging kein Wind, selbst kaum, wenn man lief. 
Mark hatte Tsam in einer Scheune mit Heu beworfen, so dass er darunter begraben worden war. Und dafür rächte sich Tsam nun und lief hinter Mark her, der vor ihm durch die Wiesen davonlief.
Plötzlich spürte Mark eine Stoß, und er fiel zu Boden. Tsam fiel auf ihn mit ganzem Gewicht, und sie lagen im Gras. Tsams Gesicht strahlte, seine Augen blitzten, und er zeigte die Pracht seiner weißen Zähne. »Ich habe dich eingeholt«, sagte er triumphierend. »Und jetzt kitzel ich dich durch.«
»O nein, nicht schon wieder!«
»Das ist die gerechte Strafe. Ich kitzel dich immer zur Strafe.«
»Wenn du mich noch einmal kitzelst, kenne ich dich nicht mehr.«
»Du wirst mich schon noch kennen, selbst wenn wir sterben und uns im Himmel über den Weg laufen.«
»Kitzelst du mich dann auch?«
»Wenn du böse bist, ja.«
»Ich will im Himmel nicht böse sein. Und ich will dich auch noch kennen.«
»Im Himmel?«
»Auch im Himmel.«

Tränen sammelten sich in Marks Augen, als die Bilder verblaßten, denn er wusste nicht mehr, wie es wirklich gewesen war. Er konnte sich nicht völlig erinnern, aber so ähnlich war es gewesen. Und er hatte viel, an das er sich erinnern konnte.
Tsam. Er war gegangen, war ertrunken im Bach, in dem sie oft geschwommen waren und gespielt hatten. Als sie kleiner gewesen waren, hatten sie im Schlamm gespielt und sich damit beworfen.
Und nun lag dieser Schlamm über ihm.
Tsam.
Wenn es einen Ort gab, an dem er sich rächen konnte, dann in der Höhle. Und wenn er sich auch nicht rächen konnte, so musste hier der Ort sein, an dem man sich wieder sah. Oder nachdem dieses Etwas in der Höhle ihn getötet hatte. Alles war ihm gleich. Ob er starb oder nicht. Er wollte Tsam. Für immer und ewig. Und sollte er auch zurückkehren und Sarah lieben lernen und sie zur Frau nehmen, so würde stets ein Loch klaffen, tief, erschreckend und immerwährend.
Dieses Loch würde sich auftun in manchen Nächten und ihn einsaugen und in die Tiefe führen, um ihm dort Bilder seiner Jugend zu zeigen die er genossen und verloren hatte.
Seine Kehle schnürte sich bei jedem weiteren Schritt zusammen, und als er mit den anderen vor der Corrin-Höhle stand, weinte er leise und war darauf erpicht es niemandem zu zeigen. Sie entzündeten Fackeln  und betraten die Höhle schweigend und staunend, mit pochen den Herzen und kribbelnden Mägen. An was sie dachten, wusste Mark nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Er selbst sah nur Tsam mit seinem strahlendem Lachen, das er nun für immer verloren hatte und nie wieder lachen konnte. Marks Gedanken flatterten nur um den besten und einzigen Freund seines Lebens, und während niemand ahnte, was auf sie zukam, war Mark der Lösung näher als alle.

In Tiratas Augen blitzte ein nie gesehenes Feuer, und Jessica erkannte nun, dass die vermeintlich alte Frau etwa zwanzig Jahre jünger war, als alle meinten. 
Mit der Zeit war Tirata immer schneller bergauf gestiegen und hatte sich nicht weiter darum gekümmert, ob Jessica hinterherkam oder nicht – und Jessica hatte sich sehr anstrengen müssen, um mit der Wahrsagerin Schritt zu halten. Dabei hatte Jessica nicht verhindern können, dass Tiratas Vorsprung immer größer wurde.
Plötzlich sah sie Tirata ganz oben stehen. Oben auf dem Gipfel. Am Ziel.
Anfangs zeigte Tirata ihr den Rücken und schaute auf etwas in der Ferne, das sie vom Berg aus sehen konnte. Aber als Tirata sich mit einer raschen Bewegung zu umsah, erkannte Jessica, dass die Wahrsagerin aufgeregt war.
Der Wind ging stark hier oben, und die wenigen Büsche neigten sich demütig seiner Gewalt. Auf dem felsigen Grund des Gipfels wuchsen keine Bäume. Jessica schien es, als wollte dieser Berg mit seiner imposanten Höhe die Kuppel aufspießen, doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass diese Kuppel, sofern sie denn eine war, viel, viel höher war, als sie bisher angenommen hatte.
»Jessica!« rief Tirata schrill und begeistert, dass Jessica glaubte, einem Mädchen hinterherzuklettern, »Komm schon, beeil dich! Du wirst endlich das sehen! Du wirst alles sehen! Komm her, komm!« Dabei winkte sie mit beiden Armen.
Jessica war bemüht, sich zu beeilen, doch ihre Arme und Beine waren nicht lang genug, und es dauerte eine Weile, bis sie nur noch Meter vor sich hatte.
Als sie endlich die Bergspitze überblickte, wollte ihr der Boden unter den Füßen fortbrechen. Was sie sah, konnte sie nicht in Worte fassen. Für das, was sie sah, gab es keine Vorstellung und keine Beschreibung.
Sie blickte den Berg hinab und sah weitere Berge ringsum, sie sah den Himmel unendlich weitergehen, sie sah Vögel, die ihres Weges flogen, und der Wind zog stärker an ihren Haaren als manch Kind beim Spielen.
Sie sah in weiter Ferne auf eine für sie unvorstellbar große Menge an alten, eingefallenen Häusern. Sie sah überwucherte Wege aus Stein, und in dem Licht der blendenden Sonne sah sie das Bild wie aus einem Traum. Mit offenem Mund starrte sie nur.
»Daher kommen wir«, sagte Tirata leise. »Vor vielen Generationen lebten wir dort, bis wir fortgingen. Bis der Wind von Irgendwo uns ins Dorf trieb.«
Jessica sah und roch und schmeckte und spürte und wusste, doch sie meinte nichts von alledem zu tun. Sie meinte zu träumen. Das dort konnte nicht wahr sein. Das dort konnte es nicht geben. Das dort gehörte nicht in die wirkliche Welt, sondern es war wie »Ein Traum«, hörte sie sich aus unendlicher Ferne sagen, und der Wind nahm diese Worte mit sich und schickte sie auf eine Reise ohne Wiederkehr in die Unendlichkeit. »Ein Traum.« Und auch diese Worte verschwanden für immer, mitgetragen vom Wind von Irgendwo.
Tirata blickte auf den Ort, der länger schon verrottete als ein Mensch aus dem Dorf denken konnte. Sie verspürte ein Hochgefühl, und sie wusste, dass ihr Auftrag ausgeführt war. All das, worauf all ihre Vorgängerinnen ihr Leben und sie nun ihr eigenes gewartet und hingearbeitet hatten, war nun in Erfüllung gegangen, und ihr Blick verschwamm bei dem Gedanken daran unter Tränen. Das erste Mal in ihrem Leben, das davon geprägt war, zu wissen, dass das Leben in und um das Dorf nichts weiter war als ein Traum, glaubte sie selbst zu träumen. Es war etwas in Erfüllung gegangen, und es war großartig. Die Vergangenheit war vorbei, die Zukunft begann.
»Nein«, meinte Tirata mit zitternder Stimme, ohne dass sie sich des Blickes entsagen konnte, »dies hier ist die einziges Wahrheit. Alles andere war Lüge.«
Jessica versuchte, Einzelheiten auszumachen. Der Ort dort unten war riesig, sie vermochte die Anzahl der Häuserruinen nicht zu zählen. Es waren mehr als Bäume um das Dorf standen. Welch Menschenmassen mochten dort einst gelebt haben! Welch eine unübersehbare Fülle an gehenden, laufenden und sitzenden Menschen, mehr als sie sich vorstellen konnte. Das alles sollte die Wahrheit sein? Es gab Wege aus purem Gestein, unendlich viele davon. Manches war in die Natur übergangen und überwachsen. Dort lebte schon Ewigkeiten kein Mensch mehr.
»Wo sind sie alle hin?«, wisperte Jessica so leise, dass Tirata ein kalter Schauer überlief, da es sich anhörte, als hätte der Wind selbst zu ihr gesprochen.
»Fort«, entlockte sie sich mit Mühe. »Sehr, sehr lange sehr, sehr weit fort.«
Jessica wandte ihren Blick nicht ab, stets darauf erpicht, mehr zu erkennen, als sie konnte – die Entfernung gestattete es ihr nicht, alles zu sehen. Zuviel Luft und Wind lagen zwischen ihr und dem, was sie zu sehen und ergründen versuchte. »Wie lange? Und wie weit fort? Und wo liegt dieses Sehrweitfort?«
Plötzlich musste Tirata schlucken, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie schluchzte und setzte sich auf den steinigen Boden. Sie versuchte einige Augenblicke, ihre Stimme wiederzufinden, und schließlich sagte sie mit starrem Blick: »Es ist alles so lange her. Ich weiß daraus nur aus Büchern. Es war eine Qual, davon zu wissen und gleichzeitig sich darüber im Klaren zu sein, dass man es den Anderen nicht mitteilen kann.«
Und so Tirata begann zu erzählen:
Davon, dass es einst mehr Menschen gegeben hatte, nicht nur hier, sondern auch anderswo. Dass es Menschen gegeben hatte in Orten, die so weit entfernt lagen, dass selbst die Vögel nie dorthin kommen konnten. Davon, dass die Menschen einst aufbrachen zu neuen Ufern, diese Welt zurückließen, weil sie zerstört war, und dass es eine Gruppe Menschen gegeben hatte, die sich dem entzogen hatten, da sie diese Welt nicht hatten verlassen wollen. Man hatte sie verspottet und Fanatiker genannt. Doch diese Gruppe hatte sich in einer Höhle zurückgezogen, so dass man sie zurückließ und ohne sie aufbrach. Und dort, in dieser Höhle, hatten sie mit Vorräten Jahre ausgeharrt. »Man wollte mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben«, sprach Tirata in den Wind. »Und das war leicht, denn es gab nichts mehr, an das man sich halten konnte. Das Einzige, das es gab, waren die Versteckten und die Welt, die zu zerstört war, als dass sie den Menschen noch hätte eine Heimat sein können. Die anderen wollten zum späteren Zeitpunkt wiederkehren, wenn die Welt sich wieder erholt hatte.Nur diese Gruppe glaubte an den Fortbestand und wollte nicht fort. Nach vielen Jahren in der Höhle und kam sie heraus, sie hatten auch keinen Proviant mehr. Es waren schreckliche und harte Jahre für sie. Aber sie hatten einen Traum, und den wollten sie um jeden Preis verwirklichen: eine neue Menschheit, gewachsen vom Anbeginn an. Alle Erfindungen, die man gehabt hatte, mussten neu erfunden werden. Man wollte eine neue Schöpfung der Menschen anstreben, unter anderen moralischen und ethischen Begebenheiten. Es war ein großer Plan. Und wir sind die Kinder dieses Plans, der gescheitert schien.« Sie holte zitternd und hörbar Luft. »Bis jetzt.« Der Wind spielte mit ihren Haaren und pfiff durch die Täler in ihrem Gesicht. »Weil nun der Wind von Irgendwo kommt und uns endlich auf den rechten Weg zurückbringt. Weil er nun kommt und all die vielen, langen Jahre des Stillstands hinwegfegt und mit sich nimmt.«
Und Tirata erzählte und erzählte, während Jessica schaute und staunte. Sie erzählte von all den unausgesprochenen Geheimnissen, die die ganzen Jahre die Welt bestimmt hatten, und die nun gelüftet wurden. Da war die Corrin-Höhle, in die man einst geflohen war, und die man nun zurückkehrte. 
Was sollten die Männer dort finden?

Umgeben von Dunkelheit tappten sie immer tiefer in den Schlund hinein in den Berg. Ihre Fackeln zeigten ihnen Felswände, die sich mancherorts zu ganzen Räumen und Sälen auswölbten, und die hin und wieder dann so eng zusammen liefen, dass sie hintereinander gehen mussten. Immer mehr entpuppte sich die Corrin-Höhle als dunkles, feuchtes Labyrinth. Nicht selten leuchteten sie in Spalten hinein, die in den Felswänden klafften, oder es offenbarten sich ihnen Löcher, die sich nach wenigen Meter so verengten, dass nicht einmal ein Kind hineingepasst hätte. Im Schein ihrer Fackeln waren ihre Gesichter orange, und ihr Atem löste sich in Wolken auf. Sie fröstelten, und ihre Kleidung sog die feuchte Luft ein.  
Das Echo ihrer Schritte erstarb im Dunkeln jenseits des Fackelscheins. Mehr als nackten Fels wollte ihnen die Corrin-Höhle nicht zeigen. 
Morkus wünschte sich, Tirata nun bei sich zu haben, doch waren sie allein.
Jedes Mal, wenn sie an einer weiteren Öffnung vorbeikamen, hielten sie ängstlich ihre Fackeln in das Loch, um hineinzusehen; und jedes Mal aufs Neue umklammerten sie mit schweißnassen Händen ihre Waffen fester, bereit, einem Monster im Kampf gegenüberzutreten. Und jedes Mal aufs neue kam keines.
Und schließlich kamen sie an:
Eine Kathedrale aus Felsen und Kalk. Sie war so hoch, dass ihre Fackeln nicht bis an die Decke zu leuchten vermochten. Überwältigt standen sie da und sahen nach oben und nach allen Seiten. Tiefschwarze Schatten lagen zwischen den Felsen mit ihren Schluchten und Rissen. Ihr Atem stieg als Rauch auf und verschwand für alle Zeit in der Felsenhalle.
Sie standen da und trauten ihren Augen kaum.
»Wir sind am Ziel«, flüsterte jemand. 
Sie erschraken, als das Flüstern hundertfach echote und zischte wie von einer Schlange ausgestoßen.
»Was ist hier?«, fragte jemand leise, und in der Stimme lag ein Zittern der Furcht und der Kälte wegen.
»Ich kann nichts erkennen«, sagte ein anderer.
Da waren sie nun in der Corrin-Höhle. Da waren sie nun im Bauch der riesigen Echse des Gebirges, da waren sie nun im tiefsten aller tiefsten Schlünde und Mäuler, und sie waren umgeben von Fels und Kälte.
Plötzlich zischte jemand: »Hört ihr das?«
Augenblicklich erstarb jegliches Wispern. Sie alle hielten ihren Atem an. Es war, als existierte hier nichts. Nicht einmal ein Laut. Nicht einmal ein Atem. Eine solch durchdringende Stille hatten sie noch nie gehört. Mark spürte, wie sich seine Haare sträubten und er zu zittern begann. 
Tausend Dinge schossen ihm und seiner Gefolgschaft durch den Kopf, als sie lauschten. Was sollten sie hören? Schlurfende Schritte von dem unbekannten, grausigen Wesen, das die Kälte und die Dunkelheit dieser Höhle sein Zuhause nannte? Irgendein Atmen von etwas Fremdem? Höhnisches Gekicher?
Im Schein ihrer Fackeln huschten ihre Blicke von Schatten zu Schatten, die überall lagen, zuckten, aufflammten und wieder verschwanden, und sie taten alles, um jeden Winkel der Höhle um sich herum gleichzeitig im Blick zu haben. 
Hier also musste es sein. Was immer es auch war. Hier mochte gleich Maraim aus der Dunkelheit kommen, eine riesige Zunge, Flammen, Monster von ungeahnter Gestalt.
Mark lauschte wie alle anderen, und da kam es langsam in ihr Ohr. Sie tauschten Blicke aus, waren sich einig, dass sie alle es hörten, schlossen sich näher zusammen, und dann nickten sie, jeder für sich und die anderen. Da war etwas, ganz leise, und je länger sie so nahe beieinander standen, um so hörbarer wurde es. 

Sie hörten das Rauschen des Windes, der von dem fernen Ort her kam. Jessica zog es dorthin. »Gehen wir dorthin?«, fragte sie.
Tirata schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein toter Ort. Und es wäre ein Schritt zurück. Wir gehen in die andere Richtung.«
»Warum hast du uns nichts gesagt? Warum hast du uns belogen? Und warum all die anderen Wahrsagerinnen all die anderen vor uns?«
Erneut kamen Tirata die Tränen. »Es war der Lauf der Dinge. Die neue Menschheit sollte aufwachsen mit neuen Vorstellungen von der Welt. Sie sollte mit der Natur in Einklang leben, sie sollte sich der Natur unterwerfen. Alles Wissen lag in Büchern, aber über Jahre hinweg schwand die Gabe, sie zu lesen. Aus einer Idee wurde ein Konzept und aus diesem ein Glaube. Dieser Glaube bestand aus anderen Ritualen. Die Menschen sollten vergessen, aber es gab immer jemanden, der Bescheid wusste über die Vergangenheit. Die Wissenden wurden wie Götter behandelt oder wie Wahrsagerinnen, die ihr Wissen aus dem Wind und von den Geistern bezogen.«
Jessica hörte aufmerksam zu und wusste, je mehr sie hörte, dass sie nicht alles verstand und behielt.
Aber als Tirata geendet hatte, waren ihr verschiedene Dinge bewußt geworden: In der Corrin-Höhle war …

… ein See von Wasser. Ungläubig blickten sie in ihn hinein und erkannten in de Spiegelungen auf der Wasseroberfläche sich selbst. Sie erblickten ihre Gesichter, gezeichnet von Angst, sie sahen ihre Hände, die Waffen und Fackeln hielten, und sie erkannten, als sie in ihre eigenen Augen sahen, in das Zentrum dessen, was sie fürchteten.
Mark drehte sich um und ließ seinen Blick nach oben gleiten. Wie gewaltig diese Höhle doch war. Und wie erschreckend leer sie all die Jahre über gewesen war. Hier gab es nichts. Hier gab es nur Angst. Ihre eigene.
»Was nun?«, hörte Mark jemanden fragen.
»Wir gehen wieder«, entgegnete Mark. 
»Wohin?«
»Fort von hier. Weit fort.«
»Und was haben wir zu fürchten?«
»Nichts mehr.«
Und so gingen sie, schweigend und verwundert über das, was sie gesehen hatten. Niemand sagte auf dem Rückweg ins Dorf ein Wort.
Sie alle waren der Corrin-Höhle entkommen, sie alle waren darin gewesen und hatten gesehen, was sich darin Schreckliches verbarg. Sie hatten es gesehen, aufgedeckt und ließen es dort zurück.

»Es hat ein Ende«, meinte Tirata und stand auf. 
Jessica sah zu ihr auf. »Dann haben du und die anderen Wahrsagerinnen all die Jahre nur darauf gewartet?«
Tirata nickte. »Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die alte Ordnung wieder aufbrach und alle reif für die neue Zeit waren.
»War denn alles falsch, was wir getan haben?«
»Falsch ist nur dann etwas, wenn es nicht mit den Werten übereinstimmt. Unsere Werte waren all die Jahre auf Angst und Aberglaube aufgebaut, aber aus unserer Sicht nie falsch. Wir haben in Verblendung gelebt, die es nicht gestattete, mit den Regeln zu brechen. Wir mussten so lange warten, bis die Dinge sich von selbst widersprachen. Wir konnten nicht die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren, solange sie nicht reif dafür waren. Solange sie es nicht begreifen konnten. Nun, die Werte sind gestürzt, das Verständnis setzt ein. Die Geburt, die Neuerschaffung einer Zivilisation braucht seine Zeit, und wir hatten sie.« Tiratas Augen glänzten. »Eine neue Zivilisation von Grund auf, die gelernt hat, die gereift ist. Es hat sich gelohnt, zu warten, denke ich.«

Sie kehrten in das Dorf zurück. Mark fröstelte, als er das Dorf wiedersah, er verfluchte es, er wollte es niemals wiedersehen. Er hatte mit allem darin abgeschlossen. Benommen wie alle anderen gesellte er sich zu den Wartenden im Dorf, die neben ihren gepackten Habseligkeiten auf sie gewartet hatten.
Lorn kam Mark entgegen und umarmte in freudig, doch Mark erwiderte die Umarmung nicht. Als Lorn ihm in die Augen sah, sah dieser einen neuen Glanz in den Augen seines Sohnes. Einen Glanz der Reife, einen Glanz der Entschlossenheit, und Lorn wurde klar, dass er ein Kind verloren und einen Erwachsenen gewonnen hatte. »Was habt ihr gesehen?«
Mark suchte nach Worten. »Die Angst.«
»Wie sah sie aus?«
Mark gedachte seines flimmernden Spiegelbildes im Wasser. Das verbitterte Gesicht eines verängstigten Kindes. »Seltsam.«
»Was ist mit Maraim?«
»Tot.«
»Habt ihr ihn umgebracht?«
Mark dachte an das Feldfrucht-Fest. »Ich denke ja. Er war nicht dort.« 
»Haben wir jetzt Frieden?«
Mark zuckte die Achseln und sah seinen Vater an. »Vorerst sicher. Aber später …«
Der Wind von Irgendwo umströmte sie alle und blies sie fort von dem Ort, an dem seit Menschengedenken das Dorf ihre Heimat gewesen war. Mark bestand darauf, das Dorf niederzubrennen, auf dass alles, für was es stand, vernichtet wurde. Niemals wieder sollte man hierher zurückkommen und erneut eine Heimat finden.
Man tat wie geheißen, und kurze Zeit später brannten sie alle lichterloh, die Häuser, die Ställe und Scheunen, die Schuppen. Schwarzer Rauch stieg von ihnen auf in den Himmel, kreiste umher, dünnte sich aus und löste sich im Himmel einfach auf.
Als sie alle das Dorf hinter sich ließen, sahen sie sich häufig um, auch Mark, der im tiefsten Innern seines Herzens Tsam brennen sah, seine eigene Kindheit und all seine Träume, die er gehabt hatte. Und wie er sich umsah, erblickte er seine Schwester Jessica gemeinsam mit Tirata, wie sie in das Haus der Wahrsagerin gingen. Dies war keine Einbildung, dies sah er wirklich.
Jessica. Seine kleine Schwester. Er würde sie bald womöglich wiedersehen, wenn sie mit Tirata ihnen folgte und das zerstörte Dorf für immer hinter sich ließ,  in dem es nun keine Menschen mehr gab wie in der alten, verrotteten Stadt jenseits der Berge. 
Tsam. Bitterkeit überkam Mark, und er musste sich zusammennehmen, nicht in Tränen auszubrechen. Sein einziger und bester Freund, der ihn bis zu seinem Tod begleiten wollte – nun, Mark hatte ihn bis zum Tode begleitet, und Tsam war Mark bis zum Tode Freund geblieben.
Es sollte noch lange dauern, bis Mark in einem aufblitzenden Lachen Sarah, in einem Satz, den sie sagen würde, in vielen Bewegungen und Gesten, die sie machen würde, Tsam wiedererkannte; und als er später sah, wie Sarah ihren von Mark gezeugten Sohn aus Spaß in der Wanne kitzelte, ging Mark nach draußen, und weinte in Andenken an Tsam, den er zurückgelassen hatte jenseits der Wälder, jenseits aller Weiden und Wiesen, irgendwo weit, weit entfernt, wo einst ein Dorf gelegen hatte, in dem lange Zeit die Früchte zu einer neuen, jungen Menschheit gereift waren, die der Wind vor Irgendwo hierhergetragen hatte und noch weiter in die Welt hinaustragen würde. Wohin, wusste nur der Wind von Irgendwo selbst.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 13: Der Frauenbaum komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 12 lesen

Als Mark erwachte, war es bereits früher Tag, und blinzelnd öffnete er die Augen. Die Sonne verbarg sich hinter einer hellgrauen Wolkendecke. Er bemerkte, dass Tsam nicht mehr im Bett lag und wunderte sich, weswegen sein Freund ihn hatte schlafen lassen.
Was war es für eine Nacht gewesen! Es war ihm schwergefallen, einzuschlafen, aber nach einiger Zeit hatte ihn das Rauschen des Windes und das Klatschen des Regens so müde gemacht, dass er sich nicht mehr hatte halten können.
Draußen hörte er das Schreien und Quieken der Kinder und das Platschen von Wasser. Ihn wunderte diese Ausgelassenheit, mit der die Kinder draußen spielten. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er und Tsam durch teilweise riesige Pfützen gesprungen waren. Tsam war einmal in eine Pfütze gesprungen, die so tief gewesen war, dass sie ihm über das Knie reichte, und der Schlamm am Boden hatte ihn einsacken lassen. Er hatte wie erstarrt dagestanden und zugelassen, wie der Boden unter seinen Füßen immer weiter nachgegeben und ihn tiefer hatte einsacken lassen. Erst viel später hatte er versucht, sich zu befreien, was zu spät gewesen war. Tsam war so tief im Schlamm eingesunken, dass er sich nicht mehr hatte rühren können und zu Schreien angefangen hatte. Acht oder neun Jahre alt mochten sie damals gewesen sein und beide hatten geglaubt, dass die Erde Tsam hatte verschlucken wollen. Und beim Himmel, was hatte er geschrien! So laut und so markdurchdringend, dass das halbe Dorf herbeigeeilt war und ihn herausgezogen hatte. Als er aus der Pfütze befreit war und noch immer weinte, war seine Mutter gekommen, hatte ihm zwei Ohrfeigen gegeben und ihm gesagt, dass es unglaublich dumm gewesen war, das zu tun, was er getan hatte. Tsam hatte einfach nur dagestanden und geheult und geheult, um nach einigen Minuten wieder durch die Pfützen zu toben, sich hineinzuwerfen und andere hineinzuzerren. Am gleichen Tag hatte er auch Jessica, die noch ein Kleinkind gewesen war, genommen und in Richtung Pfütze gezerrt. Sie hatte gebrüllt, geschlagen, getreten und gekratzt, und daraufhin hatte er sie einfach in hohem Bogen in eine Pfütze geworfen. Jessica hatte einen Krach geschlagen wie niemals zuvor und niemals danach. Als ihr Vater Lorn gekommen war, um Tsam einige Schläge ins Gesicht zu verpassen, hatte sie in der Pfütze gesessen und, nass und schmutzig wie sie war, vor Vergnügen auf das Wasser um sich geschlagen und einen Spaß gehabt, dass Tsam erst recht noch einmal zu weinen begonnen hatte.
Ach ja, die Pfützen. Mark hörte das Spritzen von Wasser, und er vermutete, dass sich die Kleinen durch das Wasser jagten und sich gegenseitig hineinwarfen, wenn sie jemanden fingen, so wie das immer geschah.
Er stand auf und sah hinaus, und sein Atem stockte ihm. Das Dorf hatte sich in eine Schlamm- und Wasserwüste verwandelt. Was nicht von Wasser bedeckt war, war so wässrig, dass jeder bis zu den Knien eingesackt wäre, und er sah zahlreiche Fußspuren darin. An den Häusern entlang sah er Bretter, auf denen man gehen konnte, um nicht im Schlamm zu versinken. Nach wie vor waren die Häuser verbarrikadiert, und es war ein ungewohnter und unangenehmer Anblick. Mark hatte niemals in seinem Leben dergleichen gesehen, denn wann hatte es schon einmal einen Grund dafür gegeben? Hier im Dorf, wo es nichts gegeben hatte außer den Menschen, den Tieren und der Stille, der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit? Mark wurde wieder schwermütiger. Es gab da keine Erzählung, die ihn auf diese Szenen vorbereitet hatte, und innerlich sträubte sich etwas dagegen. Diese Barrikaden, die das Außen abgrenzten und aussperrten: welche Gefahr sollte dort draußen bloß sein? Von welcher Gefahr meinten sie alle, dass sie draußen irgendwo ihr Unwesen trieb?
Mark sah sich die Häuser unter dem schmutzigen Himmel an, der bald schon wieder Regen bringen würde. Sie waren dunkel, durchtränkt von Nässe und schwer wie alte Steine. Das Grün der Wiesen und Weiden war dunkel und nass, und so dankbar sie auch sein mochten über den Guss, der auf sie herabgestürzt war, so sehr hatte der Regen sie niedergedrückt, dass es Tage dauern würde, bis sie sich wieder aufrichteten.
Wo Tsam sich nur herumtreiben mochte? War er unten in der Küche und saß am Tisch wie ein Bruder, den Mark nie gehabt hatte? 
Mochte Tsam dasitzen und die Lücke ausfüllen, die Jessica hinterlassen hatte? Jessica, eine Hexe, eine Andersartigkeit aus ihren eigenen Reihen – und Tsam, der diese Lücke gebührend ausfüllte, ja!
Er ging aus dem Zimmer. Wie er Treppe hinunter schritt, kam sich verlassen vor. Tsam hatte nicht im Bett neben ihm gelegen, und es war schon so unerträglich lange her, dass er aufgewacht war, ohne jemanden im Nebenbett liegen zu sehen. Das Haus kam ihm leer vor.
In der Wohnküche war niemand. Draußen spielten noch immer die Kinder. Konnte es sein, dass Tsam mitspielte? 
Mark stellte sich Tsam von all den Kindern umringt durch die Pfützen tobend vor, wie er auf alle aufpasste.
Ihm wurde schwer ums Herz. Bis vor einigen Tagen noch wäre es keine Schwierigkeit gewesen, ihn darauf anzusprechen, und man hatte darüber gesprochen. Aber nun war eine Barriere zwischen ihnen, eine, die zwar nicht ihre Freundschaft zerstörte, aber eine, die sie eigenständiger werden ließ. Plötzlich kam das Gefühl der Peinlichkeit, dem anderen etwas Bestimmtes zu erzählen. Das Gefühl, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.
Und so spielte Tsam wahrscheinlich draußen mit den Kindern und hatte ihn vergessen.
Nun, wenn schon niemand da war, so entschied sich Mark dennoch, zu frühstücken, und er wusch sich zuerst mit bereitgestelltem Wasser, um sich, nachdem er sich angezogen hatte, daran zu machen, sein Frühstück zuzubereiten.
Dann hörte er von draußen her wildes Geraune von Erwachsenen, aufgeregt und teilweise schrill, viele riefen durcheinander.
Mit einem Zug leerte er seinen Becher Milch und schritt mit polternden Schritten zur Tür. Draußen roch es nach nasser Erde. Aber da war noch etwas anderes in der Luft, geruchlos, mehr eine Vibration.
Die Kinder waren verstummt und hatten sich in einer Traube zusammengefunden, die ein paar Häuser links von ihm stand, wo einige Männer und Frauen zusammenstanden und gestikulierend miteinander sprachen. Immer mehr liefen über die feuchtdunklen Bretter am Boden, und bei jedem Schritt schmatzte das Wasser der Pfützen unter ihnen.
Sein Magen zog sich zusammen. Er machte sich auf den Weg, und obwohl er aufpassen musste, vom glitschigen Holz unter sich nicht abzurutschen, ließ er die ganze Zeit die Menge nicht aus den Augen. Je näher er kam, um so deutlicher sah er die entsetzten Gesichter, um so mehr Tränen sah er über mehr Gesichter rollen. Er sah, dass viele ihren Blick zu Boden gesenkt hatten. Er sah, dass viele die Hände vor das Gesicht schlugen und dort behielten, er sah die Kinder, die eben noch ausgelassen gewesen waren, weinten.
Mark lief immer schneller, und die Bretter beschrieben zu der Gruppe einen Umweg, er musste an ihr vorbei, an einigen Häusern entlang, bis er endlich zu der Gruppe stieß. 
Graue Gesichter empfingen ihn, so grau wie der Himmel. Man schluckte, als man ihn kommen sah. Viele sahen ihn an und nahmen sofort den Blick wieder von ihm. Sein Vater kam ihm entgegen. Und als Lorn ihm berichtete, was geschehen war, spürte Mark, wie ihm sein Herz aus der Brust gerissen wurde.
Atemlose Stille wie nach dem Ende der Welt. Stille, die davon zeugte, dass nichts mehr lebte, nichts mehr war. Stille, die jenseits aller Zeiten das Ende aller Zeiten markierte. Mark stand am Wasser des zu einem Fluß angeschwollenen Bachs und sah dabei zu, wie Harban, der auf seine fünf Pferde stolz war, in das Wasser watete und bis zur Brust darin verschwand. Er zog an etwas, das sich in dichtem Buschwerk am Rand verfangen hatte, das sonst drei Meter vom Wasser entfernt den Bach säumte.
Ein Körper hing darin, und jeder von ihnen wusste, wer da aus dem Wasser gezogen wurde. Tsams Eltern schüttelten, die Mutter lag in den Armen eines Nachbarn, der sie tröstete, weil ihr Mann nicht dazu in der Lage war. Er stand betäubt da und konnte nur reglos zuschauen. Immer wieder tauchte Tsams Gesicht aus dem Wasser auf, während Harban versucht war, den Körper so sorgsam wie möglich aus dem Geäst zu befreien. Bei vielen der Umstehenden erschien Maramis Schatten kurz inter einem Baum, neben einem Strauch, einem Haus.
Nicht wenige schlossen ihre Augen.
Harban rief Verstärkung. Der Körper ließ sich nicht ohne Weiteres aus dem Geäst befreien, und sofort stürmten einige Männer zur Hilfe, auch Lorn gehörte dazu und war einer der Ersten neben Harban. Tsams Körper war eiskalt und die Haut von leicht gräulicher Farbe.
Im Wind standen alle wie Dolmen in der Landschaft und sahen dabei zu, wie sich unter knackendem Geäst Tsams Körper aus dem Gestrüpp löste und aus dem Wasser gezogen wurde, tot für alle Zeiten.
Nach einer Weile, an deren Länge sich Mark nie würde erinnern können, lag Tsam schließlich am Ufer und das Wasser rann an ihm herab. Seine Augen blickten ins Irgendwo, ohne jeden Ausdruck in die unendliche Ferne. So sehr Mark es sich wünschte, so sehr blieb sein Blick von Tsam unerwidert. Tsams Kleidung klebte ihm am Köper und hatte das Geäst nicht unbeschadet überstanden. Die Haare lagen nass am Schädel. Der Wind glitt über ihn hinweg, ohne etwas zu bewegen, einzig die Wimpern tanzten im Luftzug. 
Sie alle traten näher heran, und auch Marks Beine trugen ihn näher an Tsam heran, um den die Männer im Schlamm knieten. Er sah Tirata erscheinen, man machte ihr Platz, und sie beugte sich zu Tsam herab, berührte seine Stirn, berührte seinen Hals, fuhr ihm durchs nasse Haar. Neben ihr stand Jessica, stumm und bleich.
Für Mark gab es keine Welt mehr. Im Fokus all dessen, was er sah, lag Tsam. Da gab es keine anderen, da gab es kein Dorf. Es gab kein Bach und kein Gras und keinen Schlamm und keinen Himmel. Da lag nur Tsam. Windböen rauschten in Marks Ohr, er spürte den Wind in seinen Haaren und sein Hemd aufblähen. 
Mehr geschah nicht, scheinbar für Ewigkeiten. Mark blickte in die Augen von Tsam und fragte sich, was er wohl als Letztes gesehen haben mochte. Etwas war es gewesen, so oder so. Unscharfe Wasserwirbel vielleicht oder der Himmel, der Boden, Gras? Maraim etwa, der ihn ins Wasser gestoßen hatte? Was zeigten diese Augen? Furcht vielleicht oder Erlösung möglicherweise, Erstaunen? Tsams Augen verwehrten Mark die Antwort.
Vielleicht waren die Geister der Corrin-Höhle für all dies verantwortlich, der Mann vor der Höhle in Morkus‘ Buch: welchen Eindruck mochte er wohl auf Tsam in den letzten Sekunden gemacht haben? Hatte dieser Mann ihn hereingeworfen? Oder war es doch Maraim, wie alle befürchteten? Und wenn er Maraim gewesen war, war Maraim nun etwa der Mann vor der Höhle in Morkus‘ Buch? Dann war dieser Mann böse.
Nie gespürte Wut stieg in Mark empor und mischte sich in seine Trauer. Es war, als begänne sein Körper zu brennen – und dieses Feuer war es, das ihn dazu brachte, sich aus der Erstarrung zu lösen. Tränen stiegen in seine Augen, und er konnte nicht anders, als sie fließen zu lassen. Er sah all die Gesichter um sich herum. All diese Menschen hätten Vieles gegeben, um Tsam wieder zum Leben zu erwecken, und Mark hätte seine Beine geopfert.
In die Stille fraß sich etwas Neues in Trauer und Schmerz. Es war Hass. Hass gegen den, der das zu verantworten hatte. Oder gegen ein Etwas, und wenn es nur ein Stein war, der sich in Tsams Weg gelegt und sein Schicksal besiegelt haben mochte. Hass gegen den Mörder, der sich als Untoter an seinem eigenen Bruder gerächt hatte. 
Mark wusste nicht mehr weiter. Er sah dabei zu, wie Harban Tsam aufhob und auf seinen beiden Armen trug, sah, wie Tsams Arme und Beine schlaff herunterhingen wie nasses Gras, wie Tsams Kopf mit seinen geöffneten Augen nach unten kippte. Sah, wie Tropfen von  Tsams Leib zu Boden fielen. Sah, wie Harban, umringt und gefolgt von den anderen, Tsam in Richtung Dorf trug. 
Mark konnte ihnen nicht folgen. Stattdessen wandte er sich ab und ging in die weiten Felder, in denen er mit Tsam so viel Zeit verbracht hatte. Er wandte sich zum Frauenbaum, der da einsam inmitten von im Wind wehendem Grün stand, und obgleich er nicht die Stimmen der Leute im Kopf hörte, die die vielen Geschichten über den Baum erzählten, so verband er mit diesem Baum doch etwas nie Gespürtes. Er und Tsam waren die einzigen Kinder gewesen, die ihn erklommen hatten, sogar einigen Male. Und jedes Mal war ein heiliges Kribbeln in ihnen aufgestiegen, ein Gefühl, als stießen sie zum Kern aller Schöpfung vor.
Sie hatten gemeint, damit Herrscher über das Schicksal zu werden. Dieser Nervenkitzel, die eigenen Finger in Rinde zu drücken, die nach den Geschichten älter war als jede Zeit, dieses Gefühl, auf Äste zu steigen, von denen man sich erzählte, dass dort mächtige Geister saßen, um von der Ferne das Dorf zu beobachten: all dies hatte Mark und Tsam zu Beherrschern des Unabwendbaren gemacht. Sie hatten ihren Mut zusammengenommen und hatten dem Ewigen und Wahren ins Auge geblickt und hatten sich darüber triumphiert, dass sich nie jemanden nahe genug an den Frauenbaum heran gewagt hätte, um sie zu verjagen. 
Immer, wenn sie in dem Baum gesessen hatten, waren sie sich großartig vorgekommen, hatten sich mächtig gefühlt, weil sie etwas gewagt hatten, das niemand außer ihnen gewagt hätte. Und weil sie niemandem im Dorf darüber berichten konnten, da sie bestraft oder schlimmstenfalls gar gemieden worden wären. So hatten die beiden einträchtig mit dem Allgegenwärtigen ein Bündnis geschlossen: sie lebten mit ihm, und es ließ sie in Ruhe.
Bis jetzt.
Der Wind um Mark schien Geräusche Tsams mit sich zu tragen. Mark hörte seine Schritte hinter sich, hörte das Gras rascheln, als liefe Tsam hindurch, hörte Zweige brechen, so als träte Tsam auf sie. Mark verlor sich in diese Vorstellungen, während er weiter ging, doch immer wenn er sich umblickte und meinte, Tsam ganz selbstverständlich hinter sich zu sehen, wie er ihm gut gelaunt folgte, musste er erkennen, dass Tsam nicht hinter ihm war, ihm nicht folgte, nicht mehr bei ihm war.
Er kam dem Frauenbaum näher und sah an ihm hoch. Der Wind keuchte durch die Äste. Mark spürte den Wind in seinen tränennassen Augen. War ihm der Baum bislang stets wie ein Freund vorgekommen, so schien dieser Freund dieses mal seine Gestalt verändert zu haben. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte der Baum zu Mark.. »Ich dulde niemanden neben mir. Ich dulde niemanden.«
Mark holte tief Luft, und es kostete ihn Kraft, sich davon zu überzeugen, dass diese Worte nur eingebildet gewesen waren. Der Frauenbaum war mächtig und böse, wie er den Wind als Stimme benutzte. Warum war Mark nur nie aufgefallen, dass dieser Baum tatsächlich furchterregend aussah?
Scharfe Windböen schleuderten durch Marks Haare, und das Laub des Frauenbaums zischte.
Mit all seiner Wut trat Mark den Stamm des Baumes, er knickte Äste ab. An die dicken hängte er sich oder kletterte auf sie, um auf ihnen herumzuspringen, bis sie abbrachen. In seiner blinden Wut wollte er den Baum zerstören, wie dieser auch sein Leben zerstört hatte. Was gab es für Mark nun noch im Dorf? Plötzlich spürte er, wie klein und erbärmlich das sonst heimatliche Dorf doch war. Was gab es hier schon? Tsam war tot. Sein Freund war fort, und es gab nichts mehr, was ihn noch hier hielt. Warum nicht fortgehen? Warum nicht dort hingehen, wo  Tsam vielleicht nun leben mochte, weit entfernt, wo die Sonne jeden Morgen aufstieg oder unterging?
Was hielt ihn nun noch im Dorf? Alle dort fürchteten sich vor Geistern, fürchteten die Rache von Maraim, den sie selbst vertrieben hatten. Alles schien sich nun für all die Trägheit rächen zu wollen, in der das Dorf seit Menschengedenken lag. 
Alles wollt der Wind von Irgendwo ändern, indem er über das Land brauste und alle mit sich riss, einen Loch in ihr Leben blies, sie aushöhlte und alle Wünsche, Träume und Sehnsüchte mit sich riss, wenn sie nicht willens waren, ihm zu folgen, dorthin, wo er alles, was er ihnen genommen hatte, ablud. Das Dorf war und blieb ein Ort des Vergessens. Und Mark wollte fort von hier. Aber vorher wollte er all die Geheimnisse lüften, die über allem lagen. Er wollte in die Corrin-Höhle gehen. Er wollte sehen, was sich dort Fremdes verbarg, und ob gemeinsam mit anderen oder allein – er wollte wissen!
Als er diesen Entschluss gefasst hatte, bemerkte er, dass er in seiner Wut den Baum zerstört hatte. Seine Äste lagen auf dem Boden, zerbrochen und zertreten. Er betrachtete sein Werk und fand, dass es gut war, und lief zum Dorf zurück, um den anderen von seinem Vorhaben zu berichten.

Erzählung „Das Ähm in M.’s Garten in der Nähe von Emsdetten“

Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Die Schneise in der Gartenerde, die es geschlagen hat, die ist offensichtlich: Erst hat es sich beim Eintritt schräg vom Himmel in die Gemüseparzellen gebohrt und ab dort eine Furche geschlagen, zu deren Rändern sich die Erde auftürmt. Je weiter es sich in Richtung Rasenfläche vorgearbeitet hat, hat es sich weiter in die Tiefe gebohrt, sodass die Furche tiefer und die Ränder höher werden. Erdklumpen rieseln herab, überall liegen Pflanzenreste, es sieht aus, als wolle jemand ein Rohr verlegen. Die drapierte Buschgruppe hat es zerlegt, es ist fraglich, ob das einst so hübsche Arrangement, das sorgsam ausgesucht das ganze Jahr über blüht und im Winter mit Immergrün erfreut, den wüsten Schneisenschlag überleben wird. Derzeit sieht es nicht danach aus. Möglich, dass die äußersten Triebe sich noch retten lassen, sorgsam getrennt, liebevoll in Erholung gepflegt – wer weiß.
Ja, all das, was sie hier sehen, ist irgendwie klar, auch wenn es an sich unfassbar ist, wie etwas aus heiterem Himmel – im wahrsten Wortsinn – kometenhaft in spitzem Winkel in den Garten eintreten konnte. Überdies hat es beim Sturz den Zaun ruiniert. Wie den eine Versicherung ersetzen soll, ist fraglich, denn da stehen sie, alle anwesenden Parteien des Hauses, in dessen Garten nun die Schneise schneist, und sie starren auf das, was bis zur Terrasse durchgedrungen ist, dass es die ersten Bodenplatten anhebt.
„Ähm“, sagt M. Er sagt es nun zum dritten oder vierten Mal. Aber mehr fällt ihm nicht ein.
„Ja“, pflichtet S. von der Etage drunter bei. „Das ist wirklich … ähm.“
„Sauerei“, zischt R., der im Parterre wohnt und das Haus so lange kennt wie niemand sonst. R. begrüßte alle bei ihren Einzügen und hat schon manchen beim Auszug verabschiedet. R. ist es auch, der gerade im Frühjahr für neue Bodenplatten auf seiner Terrasse gesorgt hat, die neben der Terrasse für die Allgemeinheit von einer stirnhohen Hecke umgeben ist, damit er blickdicht seine Ruhe hat. „Das ist eine Sauerei. Für so was haben die Geld. Und dann fällt es ihnen auch noch runter in unsere Gärten. Sauerei.“
Im Gegensatz zu L. und T. hat Frau W. noch kein Wort gesagt. Ihr ist das alles einfach zu viel, und so sagt sie nichts. Denken übrigens auch nichts. Sie steht einfach da, reines Betrachten – oder möchte man Gaffen sagen – völlig ohne Staunen und Wundern, sondern einfach nur bloßer Blick, der die Schneise bis zum Endpunkt verfolgt, immer und immer wieder.
„Ähm“, sagt M. schon wieder. „Was soll denn das sein?“
Es ist nicht das erste Mal, dass diese Frage gestellt wird. Vielmehr wird sie weiter gereicht oder reicht sich selbst weiter von Mund zu Mund, und wen soll es wundern, denn schließlich ist dies das einzig Logische, das dazu gesagt werden kann.
Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Wenigstens um die Ausmaße gibt es keine Unklarheit. Größer als einen Meter ist es keinesfalls. M. schätzt es eher kleiner. 80 Zentimeter vielleicht.
Doch ob es rund ist oder eckig, da hört es dann schon auf. Ob das ovale Teil, das sich in den Boden gebohrt hat, nun die Spitze oder das Ende, eine Seite oder das Oben oder Unten sein mag, weiß schon wieder niemand. Überhaupt, diese Form.
„Keine Ahnung“, erwidert L., ebenfalls nicht zum ersten Mal. „Echt. Echt keine Ahnung.“
„Tja.“
L. geht in die Hocke, so weit, dass seine Knie die Erde berühren, die sich am Rand der Schneise aufgetürmt hat, und seine Frau holt zischend Luft und fährt ihren rechten Arm zu seiner Schulter aus, doch es ist zu spät, da hockt er schon und reckt den Kopf. „Tja. Ein Satellit vielleicht?“
„Glaub ich nicht. Wo soll denn ein Satellit herkommen?“
„Von oben. Von wo denn sonst?“
Dass ausgerechnet jetzt Max heimkommt, ist eher unpassend. Er war mit Freunden Gott weiß wo und ist normalerweise den Tag über nicht da, aber ausgerechnet jetzt kommt er doch heim und ist allein. „Was machst du denn hier?“ fragt seine Mutter verstört, und er schaut sie an und gibt zurück „Sorry, ich wohne hier?“ Dann blickt er auf das, worauf alle starren. „Was ist das denn?“
„Ähm“ sagt M.
Und ja: Was ist es nur?
Das beginnt nicht nur mit der Form und Größe, sondern auch mit der Farbe. „Irgendwie grau?“ hat L. eben gefragt, und obwohl jeder aus der Hausgemeinschaft „irgendwie schon“ formuliert hat, sträubt sich dagegen die Erkenntnis, denn es ist gleichzeitig ein „irgendwie nein“. Grau: Was heißt das schon? Ein wie auch immer geartetes Dazwischen von Weiß und Schwarz, eine Schattierung dieser Mischung beider Töne ist nicht erkennbar. Denn da ist keine Schattierung zu erkennen, keine Ahnung von Schwarz, keine Andeutung von Weiß. Überhaupt ein Farbton – ist da einer? Niemand weiß es, L. nicht, wie auch die anderen nicht. Im Gegenlicht, je nach Blickwinkel macht es den Anschein, als reflektiere es die Sonne, andererseits auch wieder nicht. Nein, es glänzt nicht. Und weil es nicht glänzt, reflektiert es auch das Sonnenlicht nicht. Andererseits hat es je nach Sonneneinfall und Blickwinkel hellere und dunklere Partien.
M. hat weder Begriff noch Vorstellung dafür außer einer Sache: Er hat dergleichen noch nie gesehen und sich nie vorgestellt. Was er sicher weiß ist, dass es seinen Garten ruiniert hat, und so bricht sein Blick immer von der Unbekanntheit vor ihm ab in den Garten, den er pflegt, den er plant, den er umsorgt. Er zahlt mehr Geld als alle für die Nutzung dieses Raums, den Rasen, die Beete, und die Tomaten, die dort wachsen und die noch neben der Schneise im Sonnenlicht leuchten, erst gestern hat er einige von ihnen im selbst gemachten Salat verputzt. Dieses Ding, was immer es sein mag und wo immer es auch herkommen mag, hat seinen Garten ruiniert, so viel steht fest. Fest steht auch, dass es nicht damit getan ist, die Zerstörung zu fotografieren – er wird das Chaos so lange bestehen lassen müssen, bis Sachverständige da gewesen sind, Polizei ganz sicher, aber auch Versicherungsmenschen, die prüfen müssen, ob und in wie weit sie für den entstandenen Schaden geradestehen werden. Ärgerlich.
Niemand hat mitbekommen, dass sich Max auf den Boden gelegt hat und mit dem Oberkörper nah über dem Ding schwebt. Seine Mutter ruft „Max“, doch es ist zu spät. Er reckt seine Hand danach aus. „Mach dir nicht ins Hemd“, sagt er, ohne den Blick von dem Ding zu nehmen, „ich fass es nicht sofort an, ich bin doch nicht bescheuert.“
M. mag Max. Ihm gefällt diese Rotzigkeit, mit der der Junge mit seinen 16 Jahren  auftritt. 
Jeder hält den Atem an, während Max Hand kurz über dem Ding schwebt. „Also heiß scheint es nicht zu sein“, meint der Junge. Er streckt den Zeigefinger aus, und jeder spürt, dass Max fast das Herz stehen bleibt, doch er kann nicht anders: Trotz aller eigener Bedenken tippt er daran, nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ne. Ist nicht warm.“
„Pass wegen der Radioaktivität auf“, stöhnt seine Mutter durch die Hände, die sie vor ihren Mund geschlagen hat. 
M. schaut sie verstört an. „Wieso Radioaktivität?“
„Naja“, beginnt sie, ihre Hände noch immer vor den Mund gepresst, die Augen tellergroß, „sind diese Dinger nicht immer radioaktiv?“
„Wieso sollten sie das sein?“
„Naja. Es kommt ja von …“
Der Rest ist Schweigen.
Frau W. schreitet die Schneise ab und ist inzwischen an den Gemüsebeeten angelangt. Sie sucht zwar nichts, aber sie schaut trotzdem über das, was ihr Nachbar M. so züchtet und sich regelmäßig in die Töpfe und Salatschüsseln schnippelt.
Max pult in der Erde, die auf das Ding rieselt ohne Geräusch. Nichts deutet darauf hin, dass das Ding sich tiefer in die Erde gebohrt hat und damit einen Teil von sich verbirgt. „Komisch, hat keine Delle oder so.“
„Ja, es sieht unbeschädigt aus“, meint M. 
„Aber aus was ist es dann gemacht?“
Metall ist es nicht, und wenn, dann eines, das noch niemand gesehen hat. Und überhaupt: Das Material ist jedem fremd.
„Ähm“, sagt diesmal L., der noch immer kniet und sich der Hand seiner Frau auf seiner linken Schulter sicher weiß.
„Was ist denn da bei Ihnen passiert?“ ruft es da von jenseits des Zauns, und als sie sich alle umdrehen, bemerken sie die zahllosen Gesichter, die über Zäune und aus Fenstern und von Balkonen rund um das Grundstück zu ihnen und ihrer Misere herüberschauen.
„Etwas ist abgestürzt“, ruft L. pflichtschuldig, so laut es geht, „wir wissen auch nicht, was es ist!“
„Um Gottes Willen, jemand muss die Polizei rufen!“
„Eine Bombe! Eine Bombe! Passen Sie bloß auf!“
Sie wenden sich wieder dem Ding in der Erde zu, das Max, der noch immer auf dem Boden liegt, inzwischen mit beiden Händen berührt. Fasziniert streicht er darüber, betrachtet es, und es scheint, als habe es ihn ganz in den Bann geschlagen. „Max, nicht!“ ruft seine Mutter ungehört, und Max stellt fest, dass er keine Ahnung hat, wie es sich anfühlt, was da vor ihm liegt. „Nicht warm, nicht kalt. Nix.“
„Wie, nix?“, will M. wissen und bückt sich seinerseits, um es zu berühren. Die anderen Gesichter recken sich synchron herab und sehen M.’s Händen bei der Berührung zu. 
„Er hat recht“, meint M. „Nix.“
„Was soll das heißen? Wie fühlt es sich an?“
„Das ist es ja: Es fühlt sich gar nicht an.“
Jedes Material bietet ein Gefühl, doch dieses hier sendet Signale ins Leere. M. weiß nur, Derartiges nie gefühlt zu haben.
Ungläubig streicht er über die Fläche, und es gibt keinen Ton der Reibung. Er spürt keine Kante, keine Unebenheit, aber auch nichts, was auf eine gänzlich glatte Oberfläche hindeutet. Er spürt nur Fremdheit.
„Hm.“
„Ja hallo, ich möchte den Absturz eines Dings melden.“
Alles dreht sich um, denn die Stimme gehört zu Frau W., die mit der Polizei telefoniert. Sie steht ein wenig abseits, ihr linker Arm um den Oberkörper geschlungen, ihr Telefon am rechten Ohr, und ohne jede Regung schaut sie in Richtung Ding, ohne es anzusehen. „Wir wissen es nicht. Es ist vom Himmel gefallen. Ja, runter. Natürlich runter, es kam ja vom Himmel. Es hat den Garten verwüstet. Nein, ich kann Ihnen nicht sagen … – kommen Sie doch her und sehen es sich selbst an. Nein, ich kann es nicht beschreiben, nein. … – warten Sie.“ Sie schaut in die Runde. „Die wollen wissen, was es ist.“
„Sollen sie es sich doch selbst ansehen“, grollt M. „Woher sollen wir das denn wissen?“
Frau W. spricht weiter: „Maschine? Keine Ahnung. Nein, ich kann nicht beschreiben, wie es aussieht. Bombe? Moment.“ Sie sieht sie an: „Kann es eine Bombe sein?“
Niemand hat bislang von ihnen eine Bombe leibhaftig gesehen. Aber niemand kann sich eine Bombe wie diese vorstellen.
Frau W. schürzt die Lippen. „Eher nicht. Warum kommen Sie nicht selbst, dann sehen Sie es doch? Warten Sie.“ Sie fragt wieder in die Runde: „Er will das Material wissen. Ob es ein Meteorit oder ein Ding ist.“
„Was unterscheidet denn einen Meteoriten von einem Ding?“, kläfft L. „Keine Ahnung. Sieht nicht nach einem Stein aus. Oder?“
Max und M. befühlen das Fremde weiter und finden nicht, dass es aus Stein ist. Oder Holz. Aus Plastik aber auch nicht.
„Sie kommen nicht“, sagt Frau W. „Sie halten es für einen Scherz. Sie meinen, sie können nicht kommen, wenn nichts passiert ist.“
L.’s Frau wedelt mit beiden Händen in Richtung Ding. „Ist da etwa nichts passiert?“ Sie weist weit ausholend auf die Schneise im Garten. „Ist DAS etwa nicht passiert? Was wollen die denn noch?“
„Er meinte, verarschen kann er sich selber.“
„Ich glaub’s nicht! Muss die Polizei nicht kommen, wenn man sie ruft?“
„Er meint, wir müssten angeben können, was passiert ist.“
„Ich fass es nicht.“
„Ja aber …“ M. richtet sich wieder auf. „Was ist denn passiert, frage ich Sie? Was können wir sagen, was passiert ist? Da ist dieses … – dieses … ähm …“
„Es ist vom Himmel in unseren Garten gekracht!“ empört sich L.
„In meinen Garten“, sagt M. „Es ist mein Garten.“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, dürfen wir weiter in Ihrem Garten stehen und Anteil nehmen? Also wirklich! Immerhin liegt es direkt an UNSEREM Haus und UNSEREN Wohnungen!“
„Ja aber er hat recht“, sagt L.’s Frau. „Was ist passiert? Was ist das da?“
Alle Blicke wandern wieder auf das fremde Ding ohne Nähte, ohne Ösen und Schrauben, ohne jeden erkennbaren Hinweis darauf, gemacht zu sein.
Da reißt Frau W. ihre Augen auf, lässt das Telefon in den Rasen fallen und springt mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen entsetzt zurück. „Oh Gott!“
Kaum liegen die Worte in der Luft, ergreift jeden die Panik, denn jedem ist nun klar, auf was Frau W. zu sprechen kommen will. Auch wenn niemand recht daran selbst gedacht hat, steht nun eine Möglichkeit im Raum, die der Instinkt jedem von ihnen in den Geist gelegt hat.
„Es LEBT!“ ruft sie aus, und jeder weicht zurück. Max ist schneller auf den Beinen, als irgend jemand sehen kann, und M. wird schlagartig heiß. Da krabbelt etwas seine Hände hinauf, mit denen er eben noch das Ding berührt hat, ein scheußliches Kribbeln, als werde sein Körper geentert. 
Es ist, als habe jemand alle Atemluft aus der Welt gesogen, und voller Grauen starren sie alle auf das Ding da, das … – vielleicht LEBT?
Wie lange sie starren und schweigen, wissen sie nicht, als Max die Stille durchbricht: „Also wenn das so ist, dann ist es jetzt sicher tot.“
M. kann wieder Sauerstoff in seine Lunge ziehen. 
„Naja, das überlebt doch keiner“, schließt Max. „Fallt ihr mal vom Himmel und kracht in den Garten. Das will ich sehen, was das überlebt.“
„Und wenn es ein Panzer ist wie bei einer Schildkröte?“
Sie nähern sich schrittweise und beugen sich zaghaft herab.
„Ne, glaub ich nicht“, meint L. „Kann aber sein. Ach, was weiß denn ich.“
„Okay“, sagt M. da. „Das wird mir jetzt zu blöd. Lassen wir es einfach liegen.“
Alle Augen richten sich auf ihn, und er blickt in die Runde. „Ja, ich meine es ernst. Was sollen wir denn den Leuten erzählen? Ich hab keine Ahnung, was das ist, oder geht es einem etwa anders?“
Verstohlene Blicke sind die Antwort. „Na also. Wir wissen alle nicht, was das da ist, was das da soll und woher es kommt. Also ich hab echt keine Idee.“
„Wir sollen also einfach so tun, als wäre es nicht da?“
„Was heißt, so tun? Da ist nichts! Nichts, was wir benennen können. Nichts, wovon wir eine Vorstellung haben. Für mich ist das quasi gar nichts.“
L. schürzt die Lippen. „Da hat er recht.“
„Stimmt“, pflichtet seine Frau ihm bei.
Max, der wieder auf dem Boden liegt und seine Hände mit größerer Vorsicht als zuvor über die Oberfläche gleiten lässt, gibt ein kurzes „Hm“ von sich. Während er das Ding so untersucht, wird ihm klar: „Die Leute würden das auch für einen Fake halten.“
„Einen was?“ Frau W. ist irritiert.
„Eine Fälschung. Wenn ich das fotografiere und teile, denkt jeder, ich mach nen Witz. Das glaubt einfach keiner.“
„Und wer soll so eine Schneise aus Jux in einen Garten buddeln?“
„Geht auch als Fake durch. Und es gibt echt viele, die notfalls buddeln, um was zum Erzählen zu haben.“
Sie schauen herab, hinter ihnen verschwinden die ersten Zuschauer und wenden sich ab. Grillgeruch weht herüber, die Stille der Umgebung weicht.
„Deshalb sag ich ja“, meint M. „lasst es uns einfach zuschütten. In ein paar Wochen ist wieder Gras über die Sache gewachsen und kein Hahn kräht mehr danach.“
„Und wenn es doch lebt?“, fragt S. besorgt. „Unsere Terrasse ist doch direkt daneben …“ Der Gedanke, dass dort jemand oder etwas nächtens plötzlich vor seiner Terrassentür stehen mag, behagt ihm gar nicht. „Nachher wächst das noch zu einer echten Krise aus!“
Max zuckt die Achseln. „Also wie gesagt: Nix überlebt das.“
M.’s Blick wandert zu seinen Gemüsebeeten. Das Chaos, die abgeknickten Äste, die halb herausgerissenen Pflanzen tun ihm fast körperlich weh, und die Sehnsucht überfällt ihn, sie zu richten. Dass da Tomaten und Gurken auf der Erde liegen, stört ihn, er möchte nicht, dass sie faulen. „Also. Es ist meiner Meinung nach nichts passiert. Sieht es jemand anders?“
Niemand sagt etwas. Mit jedem Schwung Erde, der das Ding im Boden kurze Zeit später verdeckt, kehrt Frieden ein. S. verbuddelt es nahezu im Alleingang, Max kommt mit seiner Schaufel kaum hinterher. M. sortiert seinen Gemüsegarten, und von jenseits des Zauns nimmt man nur wahr, dass dort Ordnung einkehrt. Sicher, die Büsche sind größtenteils hin, und bis diese Bresche vollends zugeschüttet ist, werden Tage vergehen. Ganz zu schweigen von der Zeit, die es braucht, bis das neue Gras gewachsen ist. 
Aber ihm dabei zuzusehen, wie es täglich mehr wird, ist doch ein schönes Gefühl.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 4 Maraim und die Frösche komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Mit der hereinbrechenden Dunkelheit wuchs die Begeisterung der Menschen. Das Fest war nahe, und in der Luft lag der unverkennbare Duft eines vergehenden Tages. Die Sonne stand noch immer heiß im unteren Viertel des Himmels, und man sichtete Lorn, Jessica und Tirata schon von Weitem.  Sofort verbreitete sich die Nachricht im Dorf, und alle kamen zusammen, standen beieinander, um Tirata zu begrüßen, wie es sich geziemte. Man atmete die Luft, die mit ihr kam, und respekterfülltes Schweigen machte sich breit. Niemandem wäre aufgefallen, wenn irgendetwas oder irgendjemand in eines der leeren Häuser gegangen wäre.
Einige hundert Augen blickten auf Tirata, und nur auf sie; Lorn war nur Beiwerk, man würde ihn erst loben, wenn das Fest in vollem Gange war. Die Bäume an Tiratas Haus spieen ein sich weit verbreitendes Rauschen aus, das wie ein Flüstern über sie selbst zur wartenden Gemeinde rollte.
Lorns Mund war trocken und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Gleich würde er einen hochprozentigen Schnaps trinken, und vielleicht sofort noch einen hinterher. Er sah nach vorn und auf Jessica, die in der Mitte der beiden ging, und es behagte ihm nicht, dass seine Tochter allem Anschein nach Feuer gefangen hatte für diese Hexe mit ihrer Magie und ihren merkwürdigen Kräften. Doch allem Verdruss zum Trotz wagte er nicht, etwas dagegen zu unternehmen, denn wahrscheinlich hatte Tirata gerade Jessica verhext, und sein Herz krampfte sich bei dem Gedanken daran zusammen.
Sie kamen schweigend näher, und schweigend wurden sie empfangen. Tirata war es, die das Schweigen brach. »So ist es nun wieder so weit, dass man das Feldfrucht-Fest feiert, und ich soll ein paar Worte dazu sprechen.«
»Deshalb holte ich dich«, meinte Lorn, der sich daraufhin wie ein Held vorkam, zumal jeder mitbekommen hatte, dass er sie freimütig angesprochen hatte.
»Nun«, meinte sie, während Stille in der Luft hing, »das Leben ist hart, aber auch schön. Es ist gut, zu feiern, wenn man Grund dazu hat.«
Niemand wagte, etwas zu sagen, ja, niemand wagte es einmal, auch nur den Blick von ihr zu nehmen. Es war Heiliges, das da aus ihrem Mund kam.
»Ihr habt es euch verdient, und mögen die Augen des Himmels von eurem Fest etwas sehen, das ihr ihnen zu Ehren feiert. Ihr feiert schließlich nicht euch, ihr feiert das Allgegenwärtige, das uns mit dem gleißenden Auge der Sonne am Tag betrachtet und mit dem funkelnden Licht der Nachtaugen in der Dunkelheit. Es ist euer Verdienst, dass ihr so gut leben könnt, denn ihr tut Manches dafür. Aber ohne das Allgegenwärtige, das euch die Möglichkeit dazu gibt, wäret ihr zum Schaffen und zum Leben nicht in der Lage, vergesst das nicht. Vergesst nicht einen Augenblick lang euren Respekt dem Allgegenwärtigen gegenüber. Es ist gnädig und gütig, aber verstimmt es nicht allzu sehr. Dankt ihm. Feiert es. Genießt es. Freut euch.«
Und so konnte das Fest beginnen. Mit dem Schwinden des Tageslichtes begannen die Augen der Nacht über dem Dorf zu leuchten, und der Ozean um sie herum wurde grau und grauer, bis er eine unbestimmbare schwarze Masse war, deren Wellen man nur zu hören ahnte.
Man feierte das Fest, ein großes Feuer brannte in der Mitte des Dorfes und viele kleine darum herum, auf denen gebraten und gekocht wurde. Um sie herum saß und sprach man, trank, sang und spielte Musik, fiel in den Rausch des Alkohols und freute sich, das zu feiern, was man feierte.
Auch Mark und Tsam waren eifrig dabei. Sie aßen und tranken reichlich, wie es üblich war, und langsam wurden sie immer betrunkener. Es machte Spaß zu spüren, wie der Boden unter ihnen zu kreisen begann, wie nichts mehr festzustehen schien, wie sich alles in Gallerte auflöste, und wie man über noch so Verrücktes laut zu lachen begann. Es war ihr erster Rausch, und er kam schneller als erwartet, dafür genossen sie ihn umso mehr. Man ließ sie trinken, man ließ sie lachen.
Mark sah sich um, und alles um ihn herum flackerte in merkwürdigem Scheine der vielen Feuer. Andere hatten sich zu ihnen gesellt, auch Sarah, die ihn ansah und sich still verhielt.
Irgendwann sah er sie. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, und ihre Haare trug sie offen. Sie war ein wahrhaft schönes Mädchen, das erkannte er nun. Und nicht nur das. 
Wieder regte sich etwas in ihm, das er nicht zu deuten verstand, vor dem er sich gar fürchtete, aber gegen das er sich nie hatte wehren können – und nun schon gar nicht.
Er sah sie an, wie sie in einigen Metern Entfernung von ihm saß, umgeben vom flackernden, gelblichen Schein, und ihre Haut machte nie geahnten Eindruck auf ihn, und in ihren Augen lag etwas Merkwürdiges, das er nicht verstand. Aber so hatte sie ihn noch nie angesehen, und er spürte, wie eine Macht in ihm aufwallte und ihn ergriff.
Tsam stieß ihn an. »He, die Kinder wollen Maraim nun seine Abreibung geben. Komm mit.«
Teilnahmslos fragte er nur: »Was?«
»Hast du mir nicht zugehört?«
Wie es in ihm pumpte und schlug, und er begann zu begreifen, warum es stets hieß, dass Männer und Frauen zusammengehörten, auch wenn er nicht leugnete, mit Tsam genauso leben zu können.
Mark sah Sarah an, die ihn nicht losließ mit ihrem Blick, und er verspürte die Lust, zu ihr zu gehen, sich neben sie zu setzen, einen Arm um sie zu legen, sie zu küssen, sie … was eigentlich? Was sollte er mit ihr machen? Was wollte er von ihr? Er war nicht so dumm, dass er nicht wusste, was zu tun war, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen, es selbst zu tun, auch wenn sein Körper nun danach verlangte. Nur, wie sollte er es anstellen? 
»Mark! Du hast es vorgeschlagen! Jetzt komm auch mit!«
Er sah zu Tsam auf, der ungeduldig neben ihm stand. »Ich weiß schon, was mit dir ist«, meinte dieser ziemlich vorwurfsvoll. »Ich kenne das. Aber Sarah?«
»Warum nicht?«
»Helena ist viel, nun …«
»Helena? Versuch doch, an sie heranzukommen.«
Tsam grinste. »Das war natürlich auch ein Grund, weswegen ich mich auf heute gefreut habe. Komm schon. Erst Maraim, dann das Andere.«
So gingen sie.
In der guten Stimmung, bei der Musik, die in der Luft hing, dem Lachen und den Gesprächen war es ein Leichtes, die Kinder des Dorfes zu sammeln. Mit andauerndem Kichern holte man Eimer und Schüsseln, in denen es glibberte. 
Das Dorf war eine flackernde und sich bewegende Masse. Die Häuser schienen zu zucken und unregelmäßig zu tanzen, Feuergeruch und Hitze lagen in der Luft, und im Schutz der Schatten und der Dunkelheit bereitete man sich auf den größten Streich vor, den man jemals im Dorf gesehen hatte.
Maraim saß unbeachtet und gemieden an einem Feuer, um ihn herum tobte das Fest, ohne dass er es recht mitbekam.
Niemand sprach mit ihm, niemand war interessiert an ihm, jeder hatte irgendeine Abneigung gegen ihn. Wäre er nicht so abscheulich gewesen, hätte er das Fest wohl schöner verleben können. Da er aber jedem seiner Art und Weise wegen ein Gräuel war, war er der Pol des Schweigens in einem bunten, redenden, und johlenden Haufen, der sich im seltsamen Licht und Schatten der Feuer amüsierte und trank allein. Mittlerweile völlig im Rausch, nahm er das Meiste nicht mehr wahr, was um ihn herum geschah; und hätte sich jemand mit ihm unterhalten, wäre allen aufgefallen, wie verletzlich Maraim war, wenn er sich allein betrank. Zu einem Gespräch war es noch nie gekommen, meistens war er unverschämt und wies alle von sich, um etwas Dunkles in ihm zu verschleiern, das er mit niemandem teilen konnte und teilen wollte, auch, weil ihm die Begriffe fehlten für das, was in ihm vorging.
Ohne es zu wissen und ohne dass die Erwachsenen es wussten, war er bei den Kindern die Hauptperson des Abends – und wäre der Grund dazu nicht so ein finster gewesen, hätte sich Maraim das erste Mal rühmen können, bei einigen Personen im Mittelpunkt zu stehen.
Die Kinder, unter ihnen auch Mark und Tsam, waren im Licht zuckende Tentakel, die sich überallhin ausbreiteten, wohlkoordiniert und Maraim umschließend, um möglichst von allen Seiten an ihn heranzukommen. Niemandem fiel auf, dass die lachenden Kinder Eimer und Schüsseln trugen.
Nichtsahnend vergaß er alles um sich herum und war nicht einmal mehr dazu in der Lage, seine Nachbarn auszumachen, die einige Meter von ihm entfernt das Fest feierten. 
Die Kinder schlichen kichernd auf ihn zu, von fast allen Seiten, und sie lachten teils laut, um kurz darauf einen erstickten Laut von sich zu geben, wenn sie sich das Lachen abzuschnüren versuchten. Sie sahen Maraim sitzen. 
Sein massiger Oberkörper war zusammengesunken, seine Augen waren triefend, seine Haare fettig, seine Beine lagen wie nicht zu ihm gehörig leicht gegrätscht vor ihm, und alles in allem machte er den Eindruck einer dicken, tranigen Kröte.
Jessica juckte es im Magen, so nervös und belustigt war sie. Sie konnte es gar nicht abwarten, bis Maraim unter all dem Schlamm und Glibber sowie Froschlaich verschwand. Auch hatten sie Kuhmist gesammelt. Mark sah sich um und gab Handzeichen. Sie alle waren nur noch ein paar Meter von Maraim entfernt, und auf Marks Wink hin begannen sie zu laufen, kreisten ihn ein und entleerten mit Schwung ihre Eimer und Schüsseln. Schlamm, Laich und Kot trafen ihn ins Gesicht und auf die Brust, faserige, glitschige Pflanzen benetzten ihn, und die Kinder schrien laut vor Vergnügen.
»Hier hast du das, woraus du kommst, du Kröte!« schrie Tsam, dass sich seine Stimme überschlug, und Maraim, dem der Schlamm vom Gesicht troff, schrie aus Ekel und Schreck. Er war nass, kalt und glitschig, und einige gefangene Frösche sprangen und quakten um ihn herum. Er konnte nur dasitzen, von Ekel und Schrecken zusammengezogen und brüllen, und die Kinder liefen um ihn herum und riefen und sangen: »Maraim, die alte Kröte! Maraim, die alte Kröte!«
Die Umsitzenden und Umstehenden stimmten ein gemeinsames Lachen an, sie lachten und schrien vor Vergnügen, sie zeigten mit Fingern auf ihn und machten ihn zum Mittelpunkt des Hohns und der Schadenfreude. Sie kamen heran, um Maraim auszulachen, denn es gab niemanden im Dorf, der ihm diese Behandlung nicht von Herzen gönnte. Das hatte er nun von seiner an den Tag gelegten Abscheulichkeit, die er jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellte. Im Dorf, in dem jeder am Leben arbeitete und jeder zugleich auch das Leben der anderen lebte, mithalf und unterstützte, war er das Geschwür, das sich diesen Streich wahrhaftig verdient hatte. Und nun lachte man über ihn und lobte die Kinder, die um ihn herumtanzten und noch immer sangen: »Maraim, die alte Kröte!«
Maraim selbst war außer sich. Er war erschrocken, angeekelt – und allein. Er schrie allen Zorn aus sich heraus, ohne mehr tun zu können, als nach einigen Sekunden damit zu beginnen, sich Schlamm, Kot und Laich aus seinem Gesicht zu wischen. Dabei konnte er bei der Menge nicht verhindern, dass ein wenig davon in seinen Mund kam. Schlamm rutschte in sein Hemd, in seine Hose, überallhin. Schließlich sprang er auf und weinte lauthals. Es hörte sich an wie der Schrei eines Bullen, der sich die Beine gebrochen hatte und nun auf der Weide lag. Es ging im Lachen der Leute und im Singen der Kinder unter. Er war die Hauptperson des Moments, ohne ihn zu fragen.
Er lief fort. Man sprach von ihm als rennende Schleimkröte. Die Feuer tätowierten den Lachenden und Vergnügten Masken der Schadenfreude und des Hohnes in die Gesichter, und sie ließen Maraim laufen, der panisch vor allem davonlief, hinein in die Dunkelheit, hinein in das, was von den Menschen des Dorfs um diese Zeit zumeist gemieden wurde: die Nacht.
Mark und Tsam waren stolz auf sich. Sie lachten und konnten einfach nicht aufhören. Um sie herum tobte eine Schar Kinder, die die Soprane eines donnernden Tutti darstellten, das alle vor Lachen von sich gaben. 
Derlei hatte es im Dorf noch nie gegeben, und wenn, dann lag es so weit zurück, dass keiner der Lebenden dabei gewesen war. Und überliefert war auch nichts.
Dafür hatten Mark und Tsam und alle anderen Kinder etwas getan, das überliefert werden sollte. Es gab keinen richtigen Ausdruck dafür im Dorf, und so war das Getane nur eine herzerfrischende Abreibung.
Die kleinen Kinder tanzten und hüpften um Mark und Tsam herum, und diese beiden hielten sich laut lachend in den Armen. »Wir haben uns verewigt«, meinte Tsam stolz, und sie ließen sich etwas ferner eines der Feuer nieder. Hier war es nicht voll, die Erwachsenen waren alle nahe der Feuer, und die Kinder rannten vergnügt wieder zu ihnen, um sich loben zu lassen für ihre Tat.
Die Einzige, die bei den beiden blieb, war Sarah. Sie stand vor ihnen und sah Mark abermals auf diese wundersame Weise an, und Mark konnte sich dem Blick nicht entziehen. »Das war großartig«, sagte sie. Sie wollte sich wohl nicht setzen, und so sah sie auf ihn herab. Die Feuer, die hierher nur einen diffusen, flackernden Schein von der Schwäche eines fernen Sterns trugen, zeichneten in ihr Gesicht einen fremden, unnatürlichen Eindruck. Ihre langen, gekämmten Haare waren eine dunkelgraue Masse, und die Schatten auf ihren Zügen waren tief. Was war es nur, was in ihnen lag?
Eigentlich hatte Mark ihr entgegnen wollen, wie sehr es ihn freute, dass es ihr gefallen hatte, doch die Luft schien ihm das Sprechen verbieten zu wollen. Er saß nur da und sah zu ihr auf. Ihr Kleid war luftig und leicht, und das erste Mal wollte Mark die Silhouette ihres Körper unter dem Kleid bemerken, ein Umstand, der ihn einerseits befremdete und andererseits anregte. Mit einem Mal wurde die Nacht, die er sonst höchstens aus jugendlichem Übermut nicht hatte meiden wollen, zu etwas Wundervollem, wurden die Schwärze und die Undurchsichtigkeit zu etwas Idealem. Die Corrin-Höhle, dachte er sich, ohne sich dessen bewusst zu werden, musste reizvoll sein in all ihrer Unergründlichkeit. Tief in ihr zu sein, wo das Innerste lebte und bebte, wo das Geheimnis schlummerte, das überall um sie herum war und das an ihm nagte – dort hatte es Ursprung und Erfüllung.
Die Nacht machte unsichtbar, sie löschte Existenzen aus, wie die Corrin-Höhle mit allem, was dazugehörte. Und Tirata – mochte sie sagen, was sie wollte. Wo der Drang ist, zu erkunden, kann kein Weg zu steil, zu stachelig und zu tief und zu gefährlich sein.
Er erschrak ein wenig, als er bemerkte, dass Tsam nicht mehr bei ihnen war; jedoch sah er sich nicht einmal um. Tsam war fort, und das war wohl ganz gut so. Er widmete sich ganz Sarahs Gesicht und dem merkwürdigen Ausdruck darin, den leicht orangenen, gesunden, fleischlichen Schein, den sie zur Schau trug.
Und als er sie das erste Mal berührte und küsste und ihre Haut spürte, dachte er an die Tiefe und Fremde der Corrin-Höhle, ohne auf den Gedanken zu kommen, wirklich ihr Geheimnis lüften zu wollen.
Beschmutzt und elend rannte Maraim wie von Sinnen vom Fest fort und von all den Menschen, die dabei waren und die ihm so Böses angetan hatten. Man schien ihn nicht mehr dulden zu wollen. Hinzu kam sein Rausch, der ihn ins Trudeln versetzte und nur noch mehr seine Wut und Traurigkeit anstachelte. Maraim war nicht fähig zu erfassen, weswegen man ihm seine Behandlung gegönnt hatte, und das lag nicht nur am Alkohol. Auch im nüchternen Zustand war er nicht fähig dazu. Er besaß weder Takt noch Anstand, aber auch nicht das geistige Potential, das zu erfassen. Das brachte ihn in eine einmalige, schlechte Situation. Er weinte, heulte, holte geräuschvoll Luft, und in ihm pumpte es dermaßen, dass er nichts anderes tun konnte, als zu laufen wie ein Mann von Sinnen. Mittlerweile hatte er schon vergessen, wo er war, und das war ihm auch völlig gleichgültig, er wollte nur fort, fort, und sein Rausch ließ ihn alles vergessen. Für ihn war die Nacht ein schwarzer Tunnel, und alles, was in ihm war, schoss an ihm vorbei, ohne sich in sein Gedächtnis einzubrennen.
Irgendwann brannte ein Feuer in ihm, er bekam keine Luft mehr. Seine Lunge schmerzte,  und Übelkeit überkam ihn. Nichts war hier vom Fest zu hören und zu sehen, er musste weit gelaufen sein. Vor ihm türmte sich ein bedrohlicher, kaum sichtbarer schwarzer Riese auf, es waren die Berge, vor denen er stand. Die Nacht war so unheimlich schwarz und undurchsichtig, dass es Maraim geschockt hätte und vor Furcht hätte vergehen lassen, wenn er sich ihrer bewusst geworden wäre. Auch wäre ihm dann aufgefallen, dass er sehr nah an die Berge gelaufen war, ein enorm weites Stück, und für nachts schon eine an Wahnsinn grenzende Entfernung.
Maraim keuchte und weinte alles aus sich heraus. Er spürte nicht, wenn er sich in Dornen verfing, die ihm Kleidung und Haut zerrissen, er hörte das Knacken der Äste nicht, wenn er sie zertrat, er nahm kaum wahr, dass er hin und wieder Bäume rammte. Brechreiz stieg in ihm auf, er würgte, und die säuerliche Masse spülte schon in seiner Kehle, er röchelte nach Luft, doch er lief dessen ungeachtet weiter, als plötzlich gegen etwas stieß, er verlor das Gleichgewicht, fiel zu Boden wie ein kippender Baum, und als er aufkam, kam es einem Hammerschlag gleich. Sein Kopf wollte explodieren, es gab einen Knall, als sein Schädel zerbarst und Blut spritzte in die Nacht auf den Stein, auf den er gefallen war mitsamt seinem beachtlichen Gewicht.
Als Maraim den furchtbaren Schlag spürte, riss er die Augen auf und rollte ein wenig zur Seite, Dornen bohrten sich in sein Fleisch wie tausend kleine Nadeln, und er sah in den letzten Augenblicken seines Lebens die Sterne in der Unendlichkeit des Alls, und er strebte zu ihnen, bevor die Finsternis Arme ausstreckte, die ihn auffingen, bevor sich die Nacht über ihn legte wie ein Totentuch und er in wohligen, ewigen Schlaf sank.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 3: Bei Tirata komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

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Jessica war gespannt auf das, was kommen sollte.
Nicht, dass es das große Ereignis war, das immer näher rückte. Das Feldfrucht-Fest war ein Fest zu Ehren dessen, das den Menschen des Dorfes die Dinge gab, die sie benötigten. Das waren Lebensmittel, Holz zum Bauen, Nutztiere, die Gunst des Wetters, auf dass die Früchte der Felder und Bäume und Sträucher gut und erntereich gediehen. Die Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was Gott war oder sein sollte. Sie beteten die Natur an und ihre Dinge. Sie zu erfassen, überstieg die Denkweise der Menschen des Dorfes, wäre da nicht immer eine Frau gewesen, die von sich behauptete, Wahrsagerin zu sein, eine Weise, eine Allwissende fast, die die Sterne zu deuten verstand und die in der Lage war, längst Vergangenes und gerade Geschehenes zu einer Zukunftsdeutung zu verbinden. Somit besaß Tirata, die Wahrsagerin, einen hohen Stellenwert im Dorf.
Sie war weise und gefürchtet. Jeder achtete sie in einer Art und Weise, die vergötternder Furcht gleichkam. Man erzählte sich, dass Tirata einem anderen Geschlecht abstammte, das es im Dorf sonst nicht gab. Einmal im Leben einer Wahrsagerin wurde ein junger Mann aus dem Dorf ausgewählt, um mit ihr ein Kind zu zeugen, und, so wundersam es auch erschien, es waren immer Töchter. Kam es zu einer Totgeburt, wurde ein neuer Mann auserkoren, bis eine Tochter das Licht der Welt erblickte. Aus diesen Mädchen erwuchs stets eine neue Wahrsagerin, die die Anlagen von etwas Nichtirdischem innehatte, Markenzeichen sowohl innerer, als auch äußerer Art, die sie von dem normal Menschlichen abhob. 
Sie als Zukunftsdeuterin und Wunderheilerin, die das ganze Dorf beeinflusste und auf gewisse Weise leitete, nicht darin, sondern weitab davon einsam wohnte, hatte jedem Ereignis wie Geburt, Tod, Heirat oder großen Festen mit ein paar Worten das entsprechende Quantum Heiligkeit zu verleihen. Wenn sie sprach, schwiegen gar die Vögel, und was sie sprach, ließ keinen Zweifel offen: Sie wusste als Einzige über das Rätselhafte, das in allem steckte, Bescheid.
So sollte sie auch nun ein paar Worte sprechen, um das Feldfrucht-Fest zu segnen und seine Bestimmung deutlich zu machen. Zu diesem Zweck war es diesmal Lorn, Tirata im Namen des Dorfs zu bitten, das Dorf zu besuchen. Jessica hatte mitgehen wollen, obgleich sie sich vor Tirata fürchtete. Es war der merkwürdige Zug des Menschen, an dem Schrecklichen das Schöne zu finden.
Jessica sah Tirata nicht oft. Bei jedem Fest tauchte sie auf und hielt sich vielleicht eine Stunde bei der Dorfbevölkerung auf, bevor sie sich entschuldigte. Einmal hatte Jessica einer Geburt beiwohnen dürfen, bei der sie auch Tirata gesehen hatte. Und bei einer Beerdigung hatte sie sie einmal gesehen – und öfter hatte sie sie niemals zu Gesicht bekommen.
All die anderen Gesichter des Dorfes sah man jeden Tag gleich mehrere Male, und wenn nicht, dann war das am Rande des Merkwürdigen.
Tirata hingegen war eine Sensation. Manchmal sah man sie aus der Ferne, wenn die in Richtung Corrin-Höhle ging, um dort für einige Stunden zu verschwinden. Niemand sonst traute sich in die Corrin-Höhle, und nach dem, was Tirata erzählte, würde dies niemand außer ihr tun. »Die Geister der Vergangenheit sprechen in dieser Höhle«, meinte sie einmal. 
Niemand stellte das in Frage, und niemand dachte daran, das nachzuprüfen. Wer es wagte, wurde verrückt, oder kehrte niemals wieder – von solchen Fällen berichtete man.
Tiratas Haus lag etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes inmitten einer weiten Weide, und es wurde von den Wellen des grünen Ozeans umspült. Im Sommer flog die Gischt der Samen an die Wände, und einige Bäume um das Haus ließen den Wind zu einer hörbaren Stimme werden.
Es war still und heiß, als Lorn mit Jessica in Richtung Tiratas Haus ging. Sie hatte ihre kleine Hand in die große, schweißnasse Hand ihres Vaters geschoben, die sie festhielt. Der Wind rauschte durch das hohe, dichte, saftige Gras, und der Himmel war azurblau, von tiefster Schönheit, und einige Vögel jagten über ihn hinweg. Zu ihrer Linken türmte sich das Gebirge auf, mit dem tiefen Schlund der bösen Corrin-Höhle irgendwo im Gestein. Niemand sagte ein Wort. Sie hörten ihre raschelnden Schritte, sie hörten die Vögel, ansonsten hörten sie nichts. Sie sahen sich nicht zum Dorf um, wo es geschäftig zuging, und wo jeder, mit Ausnahme von Alba, der Frau vom Schmied, die über eine böse Magenverstimmung klagte, auf den Beinen war. Sie hatten alles hinter sich gelassen und schauten nur nach vorn auf das Haus von Tirata, dieser Hütte umgeben von Bäumen und Grün, dessen Dachholz allmählich brüchig wurde, und durch das es durchregnen musste. 
Wer einmal in das Haus kam, war bald ebenso eine Sensation wie alles, was auch nur weit entfernt mit dieser Frau zu tun hatte. Lorn hatte diesmal die Ehre bekommen, wobei Ehre nur dazu missbraucht wurde, den Menschen des Dorfs nur einmal im Leben diese Aufgabe aufzubürden.
»Hast du eigentlich Angst, Pepe?«, fragte Jessica leise in den Wind hinein.
»Nicht doch«, antwortete Lorn viel zu leise. Denn ja, er hatte Angst. Er wusste, dass Tirata nichts Böses tat, dass sie nicht einmal böse war, doch die Ehrfurcht ließ ihn fürchten. Er presste Jessicas kleine Hand.
»Aua, du tust mir weh«, meinte Jessica und versuchte, die Hand ihm zu entreißen.
»Oh, entschuldige, Kleines«, meinte er verstört und ließ sie los, um sich daraufhin seine Hände zu reiben, mit denen er eben noch in Litern von Blut des Schlachtviehs gesuhlt hatte, die Eingeweide und Organe herausgenommen und den Tieren zum Fraß vorgeworfen hatte.
»Ich glaube, Tirata tut nichts Böses, Pepe. Sie ist unheimlich, aber richtige Angst habe ich auf einmal gar nicht mehr vor ihr. Sie ist sicher nur alt und lieb.«
»Sie ist alt, aber lieb ist sie nicht. Nein, sie ist nicht böse, und sie tut auch niemandem etwas, aber sie ist nicht lieb, ganz sicher nicht. Sie kann viel Böses tun.«
»Kann sie die Leute verwandeln?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie die Menschen verschwinden lassen?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie den Menschen Angst in die Träume bringen?«
Lorn schüttelte es. »Ja, das kann sie.«
Das Haus war näher gekommen, und sie erreichten die Skelettfinger der Bäume, die es umrandeten. Jessica sah zu ihnen auf und ließ den Blick auf den Raben in den Wipfeln haften.
»Was sind das für Bäume, Pepe?«
»Ich weiß es nicht, Jessica. Sie stehen jedenfalls nur hier.«
»Du hast Angst, das merke ich. Du hast Angst. Warum hast du Angst, Pepe?«
»Weil man vor Tirata immer Angst hat. Und weil sie merkt, wenn du keine vor ihr hast und sie dann böse wird.«
»Will sie denn, dass man sie fürchtet?«
»Jeder fürchtet sie.«
»Ist das ein Grund, Pepe?«, wollte sie wissen und sah zu ihm auf, blieb stehen und wartete, bis auch er ein paar Schritte später stehengeblieben war und sich nach ihr umsah. Der Wind rauschte um sie beide. »Wenn alle Angst vor ihr haben, muss das einen Grund haben. Sie kann Böses tun.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie ist mächtig und geht in die Corrin-Höhle. Sie ist mit den Geistern dort in Verbindung.«
»Na und? Und was ist, wenn die Geister gar nicht böse sind?«
»Sie sagte es uns aber, Jessica, und willst du sagen, dass sie gelogen hat?«
»Nein. Dann wird es wohl so sein.« Sie schritt zu ihrem Vater und ergriff seine Hand. Seltsamerweise hatte sie nun wirklich keine Angst mehr vor der Frau. Vielmehr war sie neugierig, sie zu sehen, sie zu begrüßen und sie allerlei Dinge zu fragen, auf die sie sich Antworten erhoffte. Und dann war sie wenigstens ein bisschen so mächtig wie Tirata.
Ehrfurcht hatte sie. Bewunderung, auch – aber Furcht? Nein. Warum auch? Die Frau hatte ihr nie etwas getan, und sie konnte sich auch nicht an irgendeine der vielen Geschichten erinnern, die man sich am Lagerfeuer erzählte, in denen auch nur einmal andeutungsweise eine böse Tat oder Absicht vorgekommen wäre.
Das Haus, in dem die Wahrsagerin wohnte, war älter als alle, die Jessica aus dem Dorf kannte, und der Wind flüsterte unverständliche Geschichten durch die Ritzen des Hauses und durch die Wipfel der Bäume. Lorns Knie waren weich, er zitterte am ganzen Körper, und trotz der Wärme war ihm kalt. Wann hatte er Tirata jemals so aus der Nähe gesehen? Er konnte sich an ein Mal erinnern, aber das war Jahre her und er wäre auch beinahe gestorben vor Angst. Diese erhabene Gestalt der Frau, die schon damals alt war und nun noch viel älter, und die nie sterben zu wollen schien, ihre langen, grauen Haare, ihre schnarrende Stimme, ihre Vorhersagen, die sie getroffen hatte und die eingetreten waren. Und nun sollte er sich ansprechen. An ihre Tür des Hauses klopfen, das er immer gemieden hatte. Er hatte es immer nur aus der Entfernung gesehen, von sich zu Hause, von den Feldern. Immer hatte es einsam und still dagelegen wie ein Felsbrocken im Gras, manchmal hatte er Tirata gesehen, wenn sie nach draußen kam und in ihrem Garten Gemüse und Kräuter holte, wie sie Wasser schöpfte oder wie sie gar ihre Tiere schlachtete. Das tat sonst keine Frau.
Sein Herz raste, als er vor der Tür Halt machte. Er sah an sich herab, begutachtete seine Kleidung, denn er wollte nicht ungepflegt erscheinen, kurzum, er wollte ihrer würdig erscheinen. Mit einem Anflug von zusammengefasstem Mut räusperte er sich und klopfte gegen die Tür. Was wollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Sollte er wieder gehen, schnell und heimlich, sich durchs kniehohe Gras ungesehen davonschleichen und im Dorf sagen, er hätte es sich nicht getraut? 
Welch Blamage!
Da öffnete sich die Tür.
Lorn stand da und das Herz wollte ihm stehenbleiben, ein Schlag von unerträglicher Hitze überwallte ihn. 
Da stand er Tirata gegenüber, und er hatte einen grässlich trockenen Mund.
Wie sie dastand und ihn ansah mit ihren dunklen, geheimnisvollen Augen. Sie trug bunte Schnüre in ihrem langen Haar, das grau war wie altes Holz, und ihre Falten schlugen Täler in die fremde Landschaft ihres Gesichts.
Es hatte ihm die Sprache verschlagen, und der Wind wehte um sie herum, Luft aus dem Innern dieses merkwürdigen, gemiedenen Hauses stieg ihm in die Nase. Sie roch süßlich und ließ ihn schwindelig werden.
Tirata blickte ernst wie immer; man sah sie nie lachen. Sie blickte ihn an und schien darauf zu warten, dass er etwas sagte, und da er es nicht tat, blickte sie nach unten und erblickte dieses reizende Mädchen, das da neben Lorn stand und zu ihr aufblickte mit großen Augen und keiner Spur von Angst darin.
»Oh, kleine Dame, bist du nicht die kleine Jessica?«, fragte die Wahrsagerin mit tiefer, brüchiger Stimme, die schon oft am abendlichen Feuer beschwörend in die Runde getragen worden war.
Für Jessica eröffnete sich etwas Neues, und sie war in der Lage, wenngleich auch leise, zu antworten: »Ja, das bin ich.«
»Jessica«, wiederholte Tirata geheimnisvoll und wiegte den Namen in ihrem Mund, aus dem so manch Rätselhaftes kam. »Jessica. Jessica. Ein schöner Name, dieser Name.« Sie zeigte beiläufig mit der linken Hand auf Lorn, ohne ihn anzusehen. »Hat er ihn dir gegeben?«
Jessica nickte nur. 
»Wie kam es? Kann er schreiben, dass er ihn aufgeschrieben hat, oder kann er tatsächlich sprechen und tut das nur nicht mit jedem?«
»Er hat Angst vor dir«, erklärte Jessica freimütig und spürte, wie Lorns Hand sich strafend fest um die ihre drückte.
Da sah Tirata an und durchbohrte ihn förmlich mit einem stechenden Blick. »Dann bist du Lorn, richtig?«
Ein heißer Schauer überlief ihn, und mit weit aufgerissenen Augen nickte er nur verängstigt die Andeutung eines Nickens.
»Soso. Du hast eine kluge Tochter. Bewundernswert. Soll ich sie fragen, weswegen du angeklopft hast?«
Tausend Möglichkeiten rasten durch Lorns Kopf, wie er es anfangen konnte, Tirata zum Fest einzuladen, doch ihm fiel keine ein. Keine der tausend Möglichkeiten war einer Meinung nach die richtige.
»Kommt erst einmal herein, es ist ziemlich windig heute.«
Sie schritt zur Seite und bedeutete so, dass die beiden hereinkommen sollten.
Jessicas erster Impuls war, einen Schritt nach vorn zu machen, doch plötzlich wurde sie der Tatsache gewahr, dass Lorn noch ihre Hand hielt und noch keinen Zentimeter von der Türschwelle gewichen war.
Für ihn war dies eine zweite Corrin-Höhle, in der es umging, in der Dämonen lebten, in der  böse Dinge geschahen, die seinen Horizont überstiegen. Er sah nur die Einrichtungsgegenstände und erschauerte. Sie hatte eine viel größere Feuerstelle als alle anderen im Dorf, an den wenigen Fenstern hingen Stoffe, die das Sonnenlicht milderten und den ganzen Innenraum in ein schummriges, fremdes Licht tauchten; ein Feuer brannte in der Ecke links voraus von ihm, und das Knistern war so gespenstisch, dass es kein normales Holz sein konnte, das da brannte. Es roch nach Feuer und nach etwas Süßlichem, das er nicht deuten konnte. Er sah kein Bett, wohl aber wallenden Stoff, der von der Decke herabhing und etwas verbarg. Auf einem Holztisch lagen bunte Steine, ein kleines Säckchen lag daneben. In Tassen war Wachs, und er sah einige Bücher, von denen er nur wusste, dass in ihnen Geheimnisse standen.
Dies war kein normales Haus, dies war somit kein Heim einer normalen Frau. Nicht, dass sie eine Hexe war. Aber sie war schrecklich. Sie sah schrecklich aus, sie hatte eine schreckliche Stimme, sie hatte Schreckliches in ihrem Haus, und selbst das war schrecklich, weil es bald zusammenfiel.
»Komm, Lorn, tritt ein. Ich werde dir die Zukunft sagen.«
Lorn konnte nicht, und jede Faser in ihm wehrte sich dagegen. Jessica stand nach wie vor da und zog ihn ein wenig mit ihrer spärlichen kindlichen Kraft.
Tirata sah ihn böse an. »Willst du deiner Tochter meine Gunst verwehren, Lorn?«
Das genügte. Ihre Gunst nicht innezuhaben hieß, von bösen Träumen geplagt zu werden. Das sollte nun auf seine kleine Tochter zukommen, einzig und allein durch seine anscheinend nicht überwindbare Feigheit? Langsam tat er einen Schritt und noch einen in die zweite Corrin-Höhle, obgleich alles in ihm dagegen revoltierte.
Tirata schloss hinter ihm die Tür und ging um sie herum. »Hast du Durst, Jessica? Ich habe etwas ganz Besonderes für dich. Nur ich weiß, wie man es zubereitet, wie ich so vieles als Einzige weiß in diesem Dorf.«
Jessica nickte stumm und sah sich um. Wie hübsch es hier war. Die bunten Steine waren lustig, der Stoff, der überall hing, war in einer Weise romantisch, dass sie auf die Bezeichnung romantisch nie gekommen wäre; es gefiel ihr einfach. Das brennende Holz roch eigenartig, aber es roch gut und erfüllte das Haus. Sie schritt im Raum herum und sah die vielen Töpfe, Pfannen, Löffel und Stäbe, die in der Küche hingen. Niemand sonst hatte so viel Töpfe und Pfannen und Löffel und Stäbe.
Die alte Frau betrachtete sie und bemerkte ihr Interesse daran. »Habt ihr Zuhause nicht so viele Dinge zu Kochen?«
»Nein. Was machst du nur damit?«
»Viele Dinge. Viele Rezepte, die nur ich weiß. Sie stehen in den Büchern da.«
»Du weißt, was darin steht?«
»Natürlich weiß ich das. Meine Mutter hat es mir schon vor langer Zeit beigebracht, und meine Großmutter hat es meiner Mutter beigebracht. Meine Urgroßmutter meiner Großmutter, und so weiter.«
»Und sind das merkwürdige Sachen, die du kochst?«
»Merkwürdig nur, weil niemand sonst sie kennt. Und nur ich esse sie, mein Kind.«
Lorn stützte sich an einem Stuhl ab und nahm seinen ganzen Mut zusammen, er räusperte sich und formte einen Satz, als Tirata ihn ansah. »Oh, Lorn, möchtest du mir etwas sagen? Ich nehme es an, denn du bist bestimmt nicht gekommen, um mir nur guten Tag zu sagen, da du ja nicht einmal das getan hast.«
Das Blut raste durch Lorns Adern, und er spürte, wie er puterrot wurde. »Ich … bin gekommen, um …ähem …«, und er räusperte sich wieder unbeholfen.
Tirata stand mit Jessica in einigen Metern Entfernung und sah ihn geduldig an. »Weswegen bist du gekommen, Lorn?«
»Heute ist der Tag des … Festes, und ich bin gekommen, um dich zu bitten, dass du ein paar Worte sprichst.«
»Was soll ich denn sagen, Lorn?«
»Das … musst du wissen, Wahrsagerin. Heute ist das Feldfrucht-Fest.«
»Ich weiß, ich weiß, Lorn. Ich danke dir für die Einladung, und selbstverständlich werde ich kommen. Setz dich. Möchtest auch du etwas von meinem Getränk, das niemand außer mir kennt? Deine Tochter ist angetan davon. Setz dich endlich hin. Auf den Stuhl da.«
Lorn setzte sich und war wie vor den Kopf geschlagen. Eigentlich hatte er nun gehen wollen, schnell, schnell zurück ins Dorf und vielleicht noch ein, zwei Schweine schlachten. Holz hacken. Mähen. Vielleicht den Frauen und Kindern beim Beerenpflücken helfen. Ganz gleich, nur raus hier aus diesem schrecklichen Haus.
»Du scheinst über deine Ehre, mich diesmal einladen zu dürfen, nicht besonders glücklich zu sein, Lorn.«
Er sagte nichts und sah betreten zu Boden.
»Er hat einfach nur schreckliche Angst«, platzte Jessica heraus. »Ganz schreckliche Angst.«
»Die Angst vor Wissen und Macht ist immer ratsam, Kind.«
Lorn wurde plötzlich schlecht und er sah seine Befürchtungen bestätigt.
»Bist du denn wirklich so mächtig?«
»Jessica«, tönte es kleinlaut vom anderen Ende des Raumes, wo Lorn saß und sich schlecht fühlte. »Wie kannst du es wagen, so eine Frage zu stellen? Natürlich ist sie das. Tirata, verzeih, aber ich habe ihr das nicht …«
»Ist gut, Lorn, ist schon gut. Ich werde dich nicht strafen. Du bist ein guter Mann, und ich habe keinen Grund, dir etwas tun zu wollen. Habe du nur weiter Angst vor mir, Angst ist immer gesünder als Vertrauen. Ein Hase traut auch keinem Wolf über den Weg. Also bleib du ruhig der Hase und sieh mich weiter als Wolf, wenn du willst. Deine Tochter fragt ganz Natürliches. Nur fragt mich das sonst niemand.« Sie sah zu Jessica herunter und hielt ihr Kinn mit kalten, dürren Fingern. »Jessica«, begann sie leise und fuhr ebenso fort, »es gibt viele Geheimnisse um uns. Der Wind spricht. Die Corrin-Höhle ist seltsam, und Geister gibt es überall. Das Mächtige ist um uns, Kind. Wir sind ihm unterlegen. Ich gehöre einem Geschlecht an, das die Aufgabe hat, zumindest ein wenig mehr darüber zu erfahren. Ein wenig mehr zu wissen als die anderen. Weil ich auch mehr wage. Ich gehe in die Corrin-Höhle, ich höre den seltsamen Stimmen zu, die überall wispern. Und ich glaube, etwas ist in mir, das mir die Gabe gibt, mehr zu verstehen als ihr. Und so bin ich für euch da, um euch zu helfen.«
»Auch, uns zu strafen?«
Tirata sah auf und ging zu einem Tisch, auf dem ein Krug stand. »Hier, Kind, trink das. Es wird dir guttun. Du auch, Lorn?«
Lorn schüttelte den Kopf.
Tirata goss etwas in einen Becher und reichte ihn Jessica. »Trink, Kind, es ist eine Spezialität, kein geheimnisvolles Gift, keine mystische Essenz. Deiner Tochter werden schon keine neuen Köpfe wachsen.«
Lorn fand das gar nicht komisch und fragte recht brüsk: »Können wir dann gehen, wenn meine Tochter getrunken hat?« 
Tirata sah ihn lächelnd an. »Aber natürlich, Lorn, natürlich.«

„Der Wind von Irgendwo“ geht weiter mit Kapitel 4: Maraim und die Frösche am Sonntag, 10. April 2021

 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 2: Der Streich komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Erst Kapitel 1 lesen

Der Tag erblühte mit jeder Minute und gelangte zur Reife. Die Sonne stieg weiter auf, es wurde heller, und die Natur wiegte sich in Sonne und Wind. Im Dorf wurde eifrig gearbeitet. Man ging in Keller oder Scheunen, um alte Girlanden aus Truhen zu kramen, man machte sich daran, die Feuerstelle inmitten des Dorfes zurechtzumachen und mit Holz zu versorgen.
Mark beschäftigte sich noch immer mit Holzhacken, und aufgrund der Hitze hatte er seinen Oberkörper freigemacht. Somit wurde er zu einem Blickpunkt für so manches Mädchen, das an ihm vorbeikam. So kam Sarah in seine Nähe und blieb unverblümt stehen, um den Jungen zu betrachten. Er war ein stattlicher Anblick, denn die Arbeit, die er oftmals erledigte, hatte an seinem Oberkörper sichtbare Spuren hinterlassen. 
Sarah betrachtete gern das Muskelspiel des Jungen, der der Schwarm aller Mädchen im Dorf war.
Mark, ganz beschäftigt, bemerkte den Blick nicht. Er keuchte und schwitzte unter Hitze und Arbeit, und hörte nur selten auf, um den an seiner Stirn herabrinnenden Schweiß am Einlaufen in die Augen zu hindern.
»Hallo, Mark«, hörte er eine Mädchenstimme hinter sich sagen, und er drehte sich um. Blinzelnd erkannte er Sarah, die beschlossen hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie lächelte, versucht, distanziert und freundlich zu wirken.
»Hallo«, antwortete er. »Hast du viel zu tun?«
Sie nickte verschämt und nutzte das Blinzeln Marks kalt aus, um ihn unverblümt zu betrachten und sich an seinem Anblick zu ergötzen.
»Aber sicher nicht sowas wie ich, oder?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe eben mit meiner Mutter ein paar Hühner gerupft.«
»Ich muss auch gleich mithelfen, Hasen zu schlachten.«
»Das ist mir zu blutig.«
»Nun ja, was soll ich sagen. Um so besser schmecken sie mir heute Abend.«
Sarah legte den Kopf schief und scharrte mit dem linken Fuß im Boden. »Ich hoffe, du kannst tanzen, Mark.«
»Tanzen? Ich? Nun, wenn ich betrunken genug bin, sicher.«
»Nein, ernst, Mark. Kannst du tanzen?«
»Ich habe es noch nie ausprobiert außer dem Gehopse auf den Festen. Aber ob das Tanzen ist, weiß ich nicht.«
»Heute Abend werde ich das erste Mal an unserem Tanz teilnehmen, und dazu braucht man immer zwei.«
Mark wusste Bescheid. »Diese Formationstänze sind doch gähnend langweilig, Sarah. Sie sind viel zu langsam und öde.«
»Es kommt immer darauf an, mit wem man sie tanzt.«
»Das finde ich nicht. Das ist doch kein Tanzen, das ist – … keine Ahnung, was das ist. Es macht jedenfalls keinen Spaß.«
Sarah sah zu Boden.
»Aber das soll ja nicht heißen, dass ich nicht mit dir tanzen würde, wenn ich betrunken genug bin.«
»O, danke, Mark.«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte sagen, dass ich vielleicht tanze, mal sehen, wie ich gelaunt bin.«
»Na, vielleicht wirst du in der Stimmung sein.«
»Kann ich jetzt noch nicht sagen.«
»Verstehe.«
»Bist du beleidigt?«
»Nein, wieso? Ich blitze gerne ab.«
»Wieso abblitzen? Habe ich gesagt, ich würde nicht mit dir tanzen wollen? Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber ich will nur auch vorbeugen, dass du allzu enttäuscht bist, wenn ich es dir versprochen habe und mein Versprechen breche. Das mache ich öfter.«
»Ja,ja, schon gut.«
Der Wind spielte um sie herum, und Mark spürte einen angenehmen Luftzug. Er versuchte immerzu, Sarah so zu betrachten, wie er es eigentlich gewollt hatte, doch sie hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegt und stand im Licht der Sonne, so als wäre sie eine Geburt von ihr.
In einem solch kleinen Dorf kam es oft vor, dass ein Mann, Junge, Mädchen, eine Frau sich in einen anderen versah und vergötterte, zumindest eine Zeitlang. Da gab es Phasen, da sich diese Menschen in die Träume der anderen vorwagten, so ganz von allein, um dann einige Zeit später ebenso von allein wieder daraus zu verschwinden.
Auch Sarah war Mark so manches Mal in die Träume gefolgt, doch hatte sie sich schnell wieder verflüchtigt. Mark kannte diese Gefühle nicht und wusste sie nicht zu deuten. 
Er wusste nicht, mit Liebe, Zuneigung oder Ähnlichem umzugehen. Und so stand er Sarah nun gegenüber und wusste nicht mehr ganz genau, was er denken sollte.
»Du bist jetzt beleidigt«, sagte er. »Gib zu, dass du beleidigt bist.«
»Ich bin nicht beleidigt. Nur enttäuscht. Habe mir was anderes versprochen.«
»Das weiß ich.«
Sie errötete und sagte nichts.
»Ist dir das unangenehm?«
Noch immer sagte sie nichts und sah zu Boden.
Er suchte nach Worten, nach Gesten, nach Phrasen, doch ihm blieb nichts als die verzweifelte Tatenlosigkeit, die ihn zum Dastehen und Stillschweigen verdammte. 
»Wir sehen uns heute Abend, Mark«, presste sich Sarah heraus und war verschwunden. Mark wusste nicht, ob er ihr nachrufen oder sie ziehen lassen sollte. Er wusste nichts. Und so ging sie.

Mit der Zeit wuchs der Haufen des Holzes neben ihm, und er betrachtete beiläufig die Veränderungen, die sich im Dorf vollzogen.Alles wurde langsam aber sich immer festlicher, alles wurde bunter.
»Du kannst gleich aufhören«, sagte ihm sein Vater. »Pet hilft mir gleich beim Schlachten, das brauchst du also nicht zu machen. Hör auf und ruh` dich aus.« Und so war Lorn wieder verschwunden, und Mark ließ die Axt fallen. 

Seine Arme waren ihm schwer, seine Schultern schmerzten ein wenig. Es war gut zu wissen, dass nun Schluss mit dem Holzhacken war. Es hatte ihn schon die ganze Zeit in die Ruhe gezogen, in das, was das Dorf umgab. Die weiten Wiesen und Weiden, die sanften Hügel, die Baumgruppen und die Felder waren und blieben immer ein großer Reiz für Kinder. Dort war ihr Abenteuerspielplatz. Was sollten sie auch anderes tun, als sich in der Umgebung zu vergnügen, auf verstaubten Dachböden oder in alten Scheunen? Wo nichts anderes existierte als der Frieden oder Unfrieden der normalen Dinge, da war die Phantasie der Zeitvertreib. Wer in der Lage dazu war, sie zu benutzen (und das waren nahezu alle im Dorf), der entdeckte so Manches, was dem Unerfahrenen auf alle Zeiten verborgen blieb.
Die Geschichten, die man sich erzählte und die eingingen in die Köpfe der Menschen – ob nun wahr oder nicht – waren die Dreh- und Angelpunkte des Lebens im Dorf.
Und Mark empfand wie alle seiner Mitmenschen: die großartige Umgebung war das Faszinierendste, das sie kannten. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen und beinahe gedankenverloren sein Hemd, um es sich lediglich lose über die Schultern zu werfen. Um ihn herum liefen die Leute, schmückten die Wagen, trugen Holz und Bänke und rollten Fässer. Man tat, was man tun musste, tat es gründlich, schnell, aber nicht übereilt, immer bereit, zu verschnaufen, wenn es denn nötig war, ein paar Worte mit anderen zu wechseln, die einem entgegenkamen, und allgemein die Gesellschaft zu pflegen.
Mark schätzte das wie jeder andere auch. Doch nun war er etwas erschöpft und wollte seine Ruhe haben. Die Kinder rannten und tollten um ihn herum, Vierjährige liefen sich hinterher, und oftmals zupfte eines der Kinder an seinen Kleidern und rief »Mark, Mark«, doch er wollte nicht reagieren. Er ging einfach weiter zum Rand des kleinen Dorfes, zum Strand am Ozean der grünen Wiesen, aus dessen Fluten sich fernab die Berge erhoben, und die der grünen Flut, die an ihnen hochklimmen wollte, mit felsener Starrheit stolz trotzen. 
Mark war alles andere als ein Einzelgänger und ein melancholischer Junge, doch hatte er von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach Einsamkeit.
Im Dorf erzählte man sich, dass hin und wieder, äußerst selten, Wolfsrudel daherkamen, aus dem Wald in der Nähe, und das Dorf bedrohten. Jeder wusste, dass mit den Wölfen nicht zu spaßen war, und so verschanzte man sich so lange, bis sie wieder fortgegangen waren. Diese Belagerung, die hin und wieder, aber ganz selten auftrat, wurde ertragen und dauerte nie so lange, dass man zu hungern und dursten anfing. 
Zugegeben, man hatte Angst vor den Wölfen, man hatte Angst vor dem Schmerz, den ihre Bisse verursachten, aber niemand hatte Angst vor dem Tod. Und wo die Angst um das Leben, die Sorge um ein Fortbestehen verlorengegangen ist, hat auch die Panik ihren Nährboden verloren. Zurück bleibt nur noch ein Teil dessen, nämlich die Angst vor so Manchem und so Vielem, aber nicht vor etwas Bestimmten. Man fürchtete Tirata, ohne zu wissen, weshalb, man fürchtete die Corrin-Höhle, ohne zu wissen, was in ihr lag, man fürchtete den Frauenbaum, weil es hieß, er hätte irgendwelche dämonischen Kräfte inne, von denen man nicht wusste, welche es waren und wie sie wirkten. Aber dieser rudimentäre Teil der Angst war lebensbestimmend für die Menschen, denn sie hatten Angst, große Angst sogar. Sie hatten in latenter Weise Angst deshalb, weil sie nicht wussten, wovor sie sich eigentlich fürchteten. Das war im Grunde genommen schrecklich, denn dass etwas zum Fürchten vorhanden war, das wussten sie alle, und sie ängstigten sich wohl auch zu recht, aber sie fürchteten sich vor Dingen, von denen sie nichts verstanden. Es war wohl so, dass sie sich vor der Natur selbst fürchteten, weil sie sie so vergötterten. Man fürchtete und liebte einen Gott stets gleichermaßen. Aber der Umstand, sich nie sonderlich in Gefahr um das Leben zu sehen, machte die Menschen zu Ruheliebenden, die sich gern allein in eine Wiese legten und gedankenverloren in den Himmel über sich starrten. 
Mark ging auf das Haus von Tsams Eltern zu, ein Holzhaus wie alle. Es war solide und ohne eine Ordnung einzuhalten in das Dorf gebaut, wie alle Häuser. Da standen Häuser, Hütten und Scheunen umgeben von Wiesen, ohne erkennbare Ordnung. Hier galten keine geometrischen Regeln; hier standen die Gebäude wie zusammengewürfelt. Sie standen alle mit einigem Abstand auseinander, so weit, dass jedes Haus von einer freien Fläche und Wiese umrahmt wurde. Aber auch nicht so weit, dass man nicht mehr von einer Dorfgemeinschaft sprechen konnte. Tsams Haus lag irgendwo inmitten dieses Dorfes, und wenn man genauer diese Häuser betrachtete, erkannte man: keines glich dem anderen. Sie unterschieden sich in An- und Aufbauten, an den Gärten, an den Anordnungen der Fenster – nur das Material war Holz und so bei allen gleich, sonst nichts.
Mark stieg die kleine Treppe hinauf und klopfte laut gegen die Tür, bevor er eintrat und das gewohnte Bild in Tsams Haus sah: die Wohnküche, die den unteren Teil des Hauses beherrschte, war hell erleuchtet. Man legte Wert auf viele große Fenster in Tsams Elternhaus. Hier brannten keine Feuer, und Maraim, der Bruder Tsams, sah ihn und winkte ihn zu sich. »Hallo, Mark. Suchst du Tsam?«
»Ja«, antwortete Mark und setzte sich dem drei Jahre älteren Maraim schräg gegenüber an den Tisch. Einige Krüge hochprozentigen Tropfens standen auf dem Tisch. Maraim bemerkte Marks Interesse daran und grinste. »Er ist nicht hier. Was stierst du denn so auf die Krüge, hä? Juckt dir die Kehle nach was Hartem, hä?«
Mark zuckte die Achseln. »Klar.«
»Dann fass mir mal zwischen die Beine, Kleiner, hahaha!«
»Du bist ein altes Schwein. Wo ist er?«
»Wer. Mein Hartes?«
»Tsam natürlich.«
»Er ist mit den Kindern draußen.«
»Was, zum Teufel, macht er mit den kleinen Kindern?«
»Nicht, was ich mit ihnen machen würde, wenn sie’s nur nicht weitererzählen würden, hahahaha!«
»Hör auf mit deinen Sauereien.«
Maraim lachte laut und krächzend. Jeder Junge oder Mann fand früher oder später ein passendes Mädchen, aber bei ihm war es sicher, dass er niemals eines bekommen würde. 
Was Maraim so abstoßend machte war nicht nur ein Streich der Natur, ihn mit Unansehnlichkeit zu schlagen; es waren seine Anlagen innerer Widerlichkeit, die er stets voll zur Geltung brachte. Er betrank sich bei jeder Gelegenheit maßlos, er war zu laut und zu ordinär; man nahm ihn als notwendiges Übel im Dorf hin. Er trug nur schmutzige Sachen und hielt nichts von Sauberkeit.
Man sah ihm gehörige Schmierigkeit an, und so vermied es jeder, allzu sehr in seiner Nähe zu sein.
»Er betreut sie.«
»Er tut was?«
»Ja, du hast richtig gehört. Tsam spielt mit den kleinen Kindern, um sie uns allen vom Leib zu halten.«
»Das wird ihm nicht gefallen.«
»Es stinkt ihm wie die Scheiße eines Gauls. Willst du ’nen Schluck von dem Kram hier?« Er deutete auf die Krüge.
Mark schüttelte den Kopf. »Ich will mich erst heute Abend betrinken.«
»Zum Besaufen ist es nie zu früh. Hier, trink.« Und ehe Mark sich versah, hatte er einen Becher mit dem Schnaps vor sich und spürte die Versuchung.
»Komm schon, Gottkind, sauf den Kack.«
»Wenn es Kack ist, warum soll ich es dann trinken?«
»Weil du dich besaufen willst, du Neunmalklug! Und jetzt runter damit, oder bist du heute Feigling?«
Das reichte, um in Mark Stolz auszulösen. Er nahm den Becher und leerte ihn mit einem Zug. Das Brennen in Mund und Kehle riss ihn fast vom Stuhl. Seine Augen weiteten sich und er hustete heftig. Maraim grölte. »Na, Süßer, noch auf den Beinen?«
Röchelnd erwiderte Mark: »Es geht gerade noch. Scheiße, was ist das nur für ein Zeug?«
»Pure Kacke, habe ich doch schon gesagt. Pure Kacke. Kuhscheiße, frisch aus dem Arsch. Haut rein, was?«
»Du bist und bleibst ein Dreckschwein, Maraim. Ich suche jetzt Tsam. Und du jetzt lass’ mich in Ruhe, du Widerling!«
Er stand auf und ging hinaus, noch immer mit Schwindel und Brennen überall.
Maraim lachte hinter ihm. »Gut gesagt, Kleiner. Werd` s mal versuchen, vielleicht kommt was dabei raus!«
Und Mark schlug einfach die Tür zu.

Am Ufer des Baches sah Mark schon von weiter Ferne eine Schar Kinder verschiedenen Alters, die zwischen den Bäumen und Büschen entlang der Wasserlinie und im Wasser selbst entlang huschten. Sie gaben ihrer Vergnügung offenkundigen Ausdruck. 
Der sanfte Wind trug ihr Geschrei und Gequieke weit über das Land, und es schien, als wären alle Kinder hier versammelt. Sie spielten Fangen und Verstecken, sie ließen flache Steine über das Wasser hüpfen, sie schwammen, sie platschten, sie warfen sich gegenseitig ins Wasser, und besonders die Mädchen mussten es hilflos über sich ergehen lassen, wie sie von den Jungen lange Zeit unter Wasser gedrückt wurden. Wenn sie hochkamen, holten sie tief Luft, japsend und keuchend, ohne die Gelegenheit zu bekommen, außer Keuchen und Strampeln darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen diese Behandlung missfiel, denn stets wurden sie sofort wieder unter Wasser gedrückt. Nun, ertrunken war noch niemand, doch hätte Tsam seine Aufgabe ernster genommen, dann hätte er dies wohl gesehen und verhindert. 
Doch nichts interessierte ihn sonderlich. Er lag unter einem Baum und ließ die Götter gute Menschen sein. Mark steuerte auf ihn
zu, ohne von ihm gesehen zu werden. Mark benutzte diesen Vorteil, um sich von hinten anzuschleichen, in beiden Hände Berge von Erde, um sie Tsam von hinten überraschend auf Bauch und ins Gesicht zu werfen.
Tsam schrak mit einem lauten »Iiih« auf und stand sofort. In seinem von der Sonne gebräunten Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde, spiegelte sich Wut wider, weil er an einen Spaß der ihn nervenden Kinder gedacht hatte. Als in seinem Hirn der Impuls über die Sichtung Marks angekommen war, entspannte er sich ein wenig. »Du warst das?
»Sicher, warum nicht. Ich habe mich an dir für seinen Bruder gerächt.«
»Wieso, was hat er getan?«
»Er hat wieder den üblichen Mist erzählt. Er ist wirklich widerlich. Manchmal wünschte ich, Tirata würde ihm die Beulen an die Eier zaubern.«
Tsam setzte sich wieder unter seinen Baum in den Schatten. 
»Was wolltest du bei uns?«, fragte er.
»Ich habe dich gesucht«, meinte Mark und setze sich dazu. Beiläufig sah er den herumtollenden Kindern zu. »Ich habe nämlich jetzt nichts mehr zu tun, und da dachte ich, du könntest Gesellschaft gebrauchen, wenn du nicht gerade arbeitest.«
»Gut Idee«, sagte Tsam und schloss die Augen.
»Solltest du nicht auf die Kinder aufpassen?«
»Eigentlich schon.«
»Sie ertränken sich gegenseitig.«
»Na hoffentlich. Sie gehen mir auf die Nerven. Ich hätte lieber Holz gehackt.«
»Wieso, du hast es doch hier ganz gut.«
»Klar, weil ich alles vernachlässige. Das ist der Trick an der ganzen Sache. Ich mache mich doch nicht fertig, wenn ich mir für den Abend ein großes Betrinken vorgenommen habe.«
Mark dämpfte seine Stimme. »Tja, das ist so eine Sache. Ich habe mich wirklich darauf gefreut, aber Pepe hat mir für heute verboten, zu trinken. Er hat schlechte Laune wegen der vielen Arbeit und meinte, mich damit ärgern zu müssen.«
Tsams Augen waren mittlerweile geweitet und auf Mark gerichtet. »Was willst du damit sagen?!«
»Dass ich heute Abend nicht mittrinke, Tsam.«
»Was? Nicht mittrinken? Mit wem soll ich denn dann trinken?«
Mark hob kurz die Achseln und entgegnete resigniert: »Es gibt andere als mich. Pepe wird sich bestimmt betrinken. Du kannst es ja mit ihm machen. Oder mit den anderen.«
»He! Die sind doch alle entweder alle zu alt oder zu jung! Du bist der einzige im Dorf in meinem Alter! Ich will mich mit dir betrinken, und mit sonst keinem! Was soll das?«
»Ich habe keine Ahnung.« Mark sah zu Boden. »Frag Pepe. Er ist heute schlechter Laune.«
»Das ist mir doch egal! Was mache ich jetzt? Heute ist das erste Feldfrucht-Fest, an dem ich mich betrinken darf, und ich freue mich schon den ganzen Winter darauf, und ein paar Stunden vorher kommt so was! Das ist nicht gerecht!« Tsam sprang auf. »Wo ist dein Pepe? Ich werde ihm sagen, dass er mir alles versaut, wenn er dich nicht mittrinken lässt!«
Er sah zum Bach herüber, wo ein Junge ein Mädchen pausenlos unter Wasser drückte und sie nur kurz Luft holen ließ.  »He!« brüllte Tsam mit voller Stimmkraft. »Lass sie los, oder ich binde dich unter Wasser an einen Stein! Loslassen, sofort, sage ich!« Er war außer sich, und Mark grinste in den Schatten und sah Tsam von hinten an. Wie erbost Tsam war! Wie aufgeregt! Mark stand auf und ging zu ihm. Kinder rannten um sie herum und zupften an ihnen. »Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Och bitte, spielt mit uns doch Pferd und Reiter!«
Mark beachtete sie kaum, doch Tsam stieß sie wutentbrannt und grob zur Seite. »Zieht Leine, kleines Kreppzeug!«
Verdutzt über Tsams Wutausbruch wichen die Kleinen zurück und wagten es erst in einigen Metern Entfernung, zaghaft wieder mit ihrer Tollerei zu beginnen.
Mark grinste, legte seinen linken Arm um Tsam, drückte ihn ein wenig an sich und sagte, aufs Wasser blickend: »Weißt du, man sollte nicht alles glauben, was einem der beste Freund aus Spaß erzählt.«
Tsam sagte nichts.
»Es war ein Witz«, gab Mark Nachdruck.
Tsam sah ihn an. »Hast du gerade Witz gesagt?«
Mark sah ihn grinsend an und nickte. »Mmhmm.«
»Du hast mich also angelogen?«
»Mmhmm.«
»Du Drecksack«, rief Tsam und warf Mark zu Boden, setzte sich auf ihn und kitzelte ihn durch, dass Mark japste. »Du mir Lügen erzählen? Na warte, na warte!«
»Hör auf«, versuchte Mark ins Lachen zu sagen, doch er schaffte es mehr schlecht als recht. Tsam hörte nicht auf. 
»Ich will, dass später gesagt wird, dass Tsam seinen besten Freund Mark zu Todes gekitzelt hat, weil er ihm Lügen vor dem Feldfrucht-Fest erzählt hat. Er hat ihm weismachen wollen, dass er nicht mit ihm mittrinken durfte, obwohl sich beide das ganze Jahr auf nichts anderes gefreut hatten wie auf das.«
»Nein! Nein! Hör auf!«
»Nein, ich höre nicht auf. Du kriegst deine Strafe. He, Kinder, kommt her! Wir kitzeln Mark durch! Macht alle mit!«
Mit frenetischen Jubel zogen sich die Kinder zu einer Traube zusammen und fielen über Mark her wie eine brüllende Horde Welpen über die Zitzen ihrer Mutter. Sie alle gaben nach Kräften ihr Bestes, was Mark nicht zugute kam. Er schrie und brüllte unsichtbar unter einer bunten Schar von Kindern und Tsam, der auf ihm saß, und konnte sich nicht wehren, und erst nach einiger Zeit hörte Tsam auf und stand auf. Mark schaffte es dann recht leicht, die Kinder von sich abzufegen wie Staubkörner. Als er stand, war er dreckig, zerzaust und halb nackt. Die Brut hatte ihm im Eifer des Gefechtes das Hemd halb heruntergerissen und die Haare durcheinandergewirbelt. 
Tsam lächelte. »Ich würde mir demnächst überlegen, ob du mir irgendwelche Geschichten erzählst«, meinte er.
Die Traube von Kindern hatte nicht genug und ließ nicht von Mark ab, bis er sie anbrüllte: »Geht spielen!« Wie ein Bienenschwarm huschten die Kinder zurück zum Wasser und machten sich wieder daran, sich gegenseitig zu ertränken.
Mark richtete sein Haar und machte sich daran, sein Hemd wieder in die Hose zu stopfen. Er setzte sich neben Tsam unter einen der Bäume. »Dein Bruder ist ein Widerling. Er ist verdorben von oben bis unten. Er ist …«, Mark fand keinen treffenden Ausdruck.
Tsam starrte in die Leere. »Ja, das ist er. Ich schäme mich, so einen Bruder zu haben. Maraim ist das Letzte. Heute Abend, wenn er richtig betrunken ist, wird er wieder anfangen, zu toben. Das macht er oft.«
»Du kannst heute bei mir schlafen, wenn er wieder gewalttätig werden sollte.«
»Ich glaube, das tue ich auch. Es wird wohl besser sein.« Ein Grinsen umspielte Marks Züge. »Wollen wir uns schon vorab dafür rächen?«
»Wie meinst du das?«
»Na, wir könnten ihm doch einmal einen richtig schönen Denkzettel verpassen dafür, dass er ist, wie er ist, und ist, was er ist.«
»Und wie willst du das anstellen?«
Mark stand auf. »Komm mit. Aber verkneif dir das Lachen.«
Tsam tat, wie ihm geheißen und ging mit Mark zum Bach, dessen Wasser wild durch die Gegend spritzte, da sich die Kinder darin herumwälzten und plantschten. »He, Kinder«, rief Mark, und das ausgelassene Toben verebbte sofort. »Kommt, ich erzähle euch eine Geschichte. Habt ihr Lust?«
Natürlich hatten die Kinder das, und sie machen sich daran, sich eilig im Mark und Tsam zu scharen und erwartungsvoll dreinzublicken. Geschichten, die man sich erzählte, waren immer Ereignisse, und schon früh lernte man, sie zu erzählen; aber nie, sie als Unsinn abzutun.Als die Kinder versammelt waren, bewegte sich Mark unter die Bäume, und wie ein Haufen Ameisen folgten ihm die Kinder und Tsam und ließen sich im Schatten nieder.
Mit einem Mal war es still geworden. Hatte es eben noch den Anschein eines Abenteuerspielplatzes gehabt, so vernahm man nun das ferne Pfeifen der Vögel, das allgegenwärtige Summen der Insekten, das Zirpen, das Quaken, das um sie herum war, und dieses himmlische Adagio betäubte die Anwesenden und machte sie offen für die Geschichten, die vom sanften Rauschen der Blätter im lauen Wind untermalt wurde.
Mark begann mit seiner Geschichte. »Ihr kennt doch alle den widerlichsten Menschen im Dorf, oder? Wer ist es?«
Aus vielen Kinderkehlen kam es gleichzeitig und in allen Tonlagen: »Maraim! Maraim!«
Mark nickte zufrieden. »Richtig. Maraim. Es hat noch nie einen so widerlichen Menschen gegeben, oder?«
»Nein, nein«, riefen die Kinder einhellig, und auch die Größeren unter ihnen, die begannen, wie Pflanzen zu sprießen, schüttelten eifrig den Kopf.
Tsam saß da und überlegte, was er tun sollte. Jeder wusste, dass Maraim sein Bruder war, und nun hatte er Furcht, dass etwas auf ihn zurückfiel.
»Findet ihr, Tsam hätte so einen Bruder wie Maraim verdient?«
Kollektives, lautstarkes Verneinen.
»Findest ihr, Maraim könnte überhaupt Tsams Bruder sein?«
Da war die Verneinung nicht mehr so einhellig.
Mark riss die Augen weit auf und wartete auf ein lautes Rauschen der Blätter, mit dem er leise und fast flüsternd in den Wind hauchte: »Er ist gar nicht Tsams Bruder.«
Die Kinder erschraken, und Tsam am meisten. Er sah nicht minder verblüfft Mark an, auf den so viele große Augen und offene Münder gerichtet waren.
»Wisst ihr, das ist ein großes Geheimnis. Maraim ist nicht mal ein richtiger Mensch. Seht ihn euch doch an, diesen Widerling. Und riecht er wie ein Mensch?«
Kopfschütteln.
»Er stinkt doch fürchterlich, oder?«
Kopfnicken.
»Es war vor vielen Jahren, als noch niemand von uns lebte. Da kam ein Mensch von weither, und niemand kannte ihn.« So einfach dies ausgesprochen war, so unvorstellbar war es. Die Welt war das Dorf, mit dem, was darum zu sehen war, aber hinter dem Wald, hinter den Bergen hörte die Welt auf, das wusste man. Dahinter gab es nichts, auch keine Menschen. Und woher sollten sie sonst kommen, als aus der Corrin-Höhle?
»Dieser Mensch kam ins Dorf und wollte hier leben. Aber er war dumm. Zu dumm zum Säen, zu dumm zum Ernten, zu dumm zum Schlachten. Er konnte nicht mal Wasser holen, selbst dazu war er zu dumm.«
Kichern fraß sich durch die Gemeinde.
»Niemand hatte jemals einen solch dummen Menschen gesehen, und auch nie einen so hässlichen. Er hatte überall am Körper dicke Beulen, die gelb, grün und blau waren.«
Ekel verzog die Gesichter der Zuhörer.
»Aus diesen Beulen kam Eiter, der furchtbar stank.«
Nun gaben die Zuhörer ihrem Ekel verbal Ausdruck.
»Niemand wollte ihn haben, weil er aus dem Mund stank und Eiter versprühte. Niemand konnte ihn ansehen, ohne dass einem schlecht wurde. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, dazu war er nicht zu dumm. Aber das Mädchen wollte ihn nicht. Weil er auch immer kotzen musste.«
Bähs und Böhs machten die Runde, und Tsam senkte den Kopf, um sein Lachen zu verbergen.
»Ja, dieser Fremde war wirklich ein hässlicher Kerl. Nun, es kam der Tag, an dem die Leute im Dorf ihn nicht mehr länger bei sich haben wollten. Er ging ihnen auf die Nerven, und sie wollten endlich wieder frische Luft atmen. Sie prügelten ihn aus dem Dorf. Er lief, so schnell ihn seine fetten Beine trugen, und als er weit genug fort war, ließ man ihn in Ruhe. Man meinte, endlich Ruhe vor ihm zu haben. Aber falsch gedacht. Er schlich sich wieder ans Dorf heran und wartete. Was er nicht wusste, war, dass er so unerträglich stank, dass man ihm im Dorf roch. Und die Männer wussten, was sie zu tun hatten. Sie schlichen sich eines Nachts zu ihm. Er war ungefähr hier, wo wir jetzt sind.«
Erstaunte Blicke huschten über die Landschaft, und Mark und Tsam merkten, dass vor den geistigen Augen der Kinder der hässliche, stinkende Fremde auftauchte.
»Sie warfen ihn ins Wasser, als er schlief, und er fiel nicht nur ins Wasser, er fiel auch in Schlamm und Kacke, in Berge aus Schlamm und Kacke. Er verfing sich darin, und aus lauter Angst machte er sich in die Hose. Er riss sich im Wasser die Hose runter, die Frösche behüpften ihn. Und die Kacke aus seiner Hose vermischte sich mit dem dem Schlamm und der Kacke. Der Mann lief davon und wurde nie wieder gesehen. Aber seine Kacke schwamm im Wasser. Lange war es still im Dorf, aber irgendwann kam eine andere Gestalt – es war Maraim! Er war eine Mischung aus dem Schlamm und der Kacke des grässlichen Fremden. Er ist kein Mensch. Er ist eigentlich nur Abfall. Stimmt doch, oder?«
»Ja, ja«, riefen die Kinder, und Tsam lachte lauthals, weil er die Beschreibung und die ganze Geschichte so komisch und treffend fand.
Mark sagte weiter: »Vor ihm muss man keine Angst haben. Oder habt ihr etwa vor Pferdeäpfeln Angst?«
»Nein, nein!«
»Also. Wenn ihr ihn aus dem Dorf haben wollt, müsst ihr ihn mit Fröschen und Schlamm aus dem Bach bewerfen, denn davor ekelt er sich maßlos. Bewerft ihn heute beim Fest damit und gebt es ihm zu essen, dann wird er aus dem Dorf verschwinden. Macht ihr das?«
Die Begeisterung für diesen Plan war ausufernd, und sogleich machten sich die Kinder des Dorfes mit Ausnahme derer, die ihren Eltern hatten helfen wollen oder müssen – darunter auch Jessica – daran, den Bach und das Ufer nach Fröschen abzusuchen, und es gab genug davon. Im Bach fanden sie massenhaft Schlamm, und sie legten alles in Eimer.
Maraim sollte am Abend die Rache der Kinder zu spüren bekommen.

Nach getaner und schwerer Arbeit setzte sich Lorn in seine Wohnküche. Er musste ein wenig ausruhen, und das hatte er sich auch verdient. Das Licht der Sonne flutete durch die Fenster, und es war angenehm kühl. Die Luft roch holzig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Haus sich mit Hitze aufgeladen hatte. Für jeden Mann im Dorf war jedes Fest mit Alkohol ein wahres Fest. Es war eine gute Angelegenheit, sich einen hinter die Binde zu kippen und um berauscht zu tanzen ebenfalls. Das Fest konnte nur gut werden, denn es gab da nichts, was irgend jemandem das Fest hätte vergällen können.
Es klopfte an der Tür.
»Ja«, sagte er lapidar, ohne sich umzusehen. Er vernahm Schritte und eine männliche Stimme, die sagte: »Tag, Lorn. Mit der Arbeit fertig?«
Lorn hörte schon an der Stimme, dass es Alkon war, der da hineinkam und schließlich in seine Sicht trat, um sich vor ihn zu setze. Der Besucher, etwa so alt wie Lorn, brachte einen Schwall Frischluft mit sich.
»So ziemlich«, entgegnete Lorn. »Es gibt noch einiges zu tun, aber das ist nicht so eilig. Ich habe mich erst mal hingesetzt.«
»Das gönne ich dir, wenn ich bedenke, was ich noch alles zu tun habe …«
»Ach, und du ruhst dich auch bei mir ein wenig aus?«
»Eigentlich nicht.« Alkon schürzte die Lippen.
»Was ist denn los?«, fragte Lorn leicht verunsichert.
»Nun, wir haben beraten, und du bist es diesmal, der Tirata einlädt und abholt.«
Lorn erstarrte. »Was, ich?«
»Es war eine gerechte Entscheidung. Jeder muss einmal gehen, und du hast nun das richtige Alter. Es ist ja auch nur ein Mal.«
»O, nein, ich …«
»Du musst ihr doch nur Bescheid geben. Du musst nicht einmal zu ihr hinein. Rufe es am besten durch die Tür, nachdem du angeklopft hast.«
»Das … das … schaffe ich nicht.«
Jessica kam mit einem Eimer voll Schlamm hereingestürmt. »Hallo, Pepe«, rief sie und stellte den Eimer in eine Ecke. Sie war heilfroh, dass Lorn nicht fragte, was in dem Eimer war.
»Warum war ich nicht dabei?«, wollte Lorn wissen.
»Na, na, das hört sich sehr nach Misstrauen an, Lorn. Meinst du, man will dir was Böses? Jeder muss es einmal tun, und diesmal hat man dich gewählt. Ganz einfach. Warum sollte es dich nicht treffen?«
»Jaja, du hast ja recht, aber …« Er schluckte schwer, und Jessica kam zu ihm. »Was ist denn, Pepe?«
»Dein Pepe muss zu Tirata, um sie zum Fest abzuholen.«
Begeisterung keimte in ihr auf. »Ich komme mit, Pepe!«
»Nein, Jessica, nein. Du bleibst schön hier.«
»Och, Pepe. Was soll sie denn tun? Uns fressen? Oder frisst sie nur kleine Mädchen?«
»Jessica, bitte.«
»Was soll das? Lass sie doch mitgehen.«
Und so blieb Lorn noch ein wenig sitzen, um seinen Mut zu sammeln.

„Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 3: Bei Tirata

Erzählung „Im Schweigen“

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Du sitzt da und schweigst, du hältst dein Glas vor dir fest und schaust verstohlen auf die Spiegelung deines Handys, während ich rede. Machst du es dir damit einfach? Oder bist du einfach nur sprachlos?
Stopp. Ich müsste mal die Klappe halten, Luft holen, einen Schluck trinken, mal sehen, was geschieht. Ich trinke, halte mein Glas weiter umfasst und warte. Auf Antwort. Auf Reaktion. Auf irgendwas.
Die Redepause nutzt du zu einem Schluck aus deinem Glas, und da kommt der Lärm von denen, die hier sitzen, stehen, trinken, essen, reden, lachen, kichern, diskutieren und schwatzen, lästern, schimpfen, sich anvertrauen, aufs Klo gehen, vom Klo zurückkehren, die Bedienungen bahnen sich ihren Weg wie tänzelnde Eisbrecher durch die Menschen, all das spritzt Gischt um uns, die wir zwei schweigende Felsen sind in einem Meer der Bewegung und des Lärms, während ich sitze und warte, während du nochmals einen Schluck aus deinem Glas nimmst. Du stellst dein Glas ab, während ich im Schwall der Worte um uns und warte.
Siehst du einem inneren Film zu? Oder starrst du einfach nur ins Nichts? Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Es sei bedauerlich, aber verständlich, klar und in Ordnung so weit.
In Ordnung? Nichts ist in Ordnung! Aber ich kann das Rad nicht zurückdrehen, nichts wird ungeschehen sein, wie sehr ich es mir auch wünsche. Ich habe nun aufgehört zu kämpfen. Das Leben schmerzt nur solange, wie man es vergeblich zu ändern versucht. Wer aufhört, es ändern zu wollen, beginnt eine sanfte Reise auf dem Ozean der Ruhe und Stille mit dem Schiff namens Gelassenheit. Loslassen ist Befreiung.
Das Schweigen wird lang. Um uns trudelt die Welt durch ihre Bestimmung und hat mit uns nichts zu tun. Warum sagst du nichts?In meinen Därmen sprudelt die Quelle der Unruhe und im Gewirr meines Hirns beginnt das Verlangen nach Gewissheit zu sprudeln, ob ich Recht habe oder nicht. 
Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Stein für Stein hab ich die Mauer aufgebaut, um den Schmerz fern zu halten, und habe versucht, es mir dahinter gemütlich zu machen, doch nun stelle ich fest, dass ich mich durch dein Aussperren eingesperrt habe.
An einem der anderen Tische, drei Meter links von mir, in der heimeligen Ecke dort, sitzt eine junge Frau, die ebenso wartet wie ich. Der Stuhl ihr gegenüber ist leer, ihr Blick gleitet, ohne haften zu bleiben, ihre braunen Haare fallen in Locken über die Schultern, und trotz der Entfernung und des dämmrigen Lichts, das allen Kneipen zu eigen ist, da sie der Privatheit gedimmter Schummrigkeit bedürfen, trotz dieses Lichts also, das in seiner Gemütlichkeit heischenden Trübe die Farben aller Dinge in stimmungsvolles Grau zieht, erkenne ich Dutzende Sommersprossen auf ihren Wangen und Nasenflügeln. Mit großen braunen Augen betrachtet sie immer wieder ihr Handy auf dem Tisch in der Hoffnung, eine Nachricht möge kommen, die nicht kommt. Sie wartet wie ich im Stimmentosen. Sicher ist sie traurig. Ich denke mir, dass ihr bewusst ist, dass aus anfänglichem Wartenlassen, diesem Gewebe aus Langweile und Hoffnung, ein Sitzenbleiben geworden ist, eine Säure, die im Magen eines Riesen schwappt, der sie nun zu verdauen beginnt. Mit solch einem Ausgang kann sie nicht gerechnet haben, sonst wäre sie nicht hier. Hat mit Aufmerksamkeit gerechnet, sich Wichtigkeit gegeben, über die letztlich nur der Andere entscheidet – doch niemand kommt. 
Ich sehe dich an und versuche zu deuten, was ich sehe. Die Tischplatte zwischen uns, auf der unsere Gläser stehen und unsere stummen Handys liegen, trennt Universen, wer hätte das gedacht!
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, aber nur weil ich es sagte, muss ich es doch nicht wollen! Du warst mir nahe wie ein Zahn – lange Jahre ein Teil von mir, bis die Fäulnis einsetzte, warum auch immer, und nun bist du herausgerissen aus mir, die Wunde mag verheilen irgendwann, aber die Lücke wird immer bleiben.
Du schweigst, ich warte. Ich sehe dich an und wünsche mir, dein Blick ins Nirgendwo fände dort Antwort und Lösung, wünsche mir, dass du auf den großen Fang wartest, aber Hoffnung, was ist das schon, was ist es mehr als nur ein Wort, das nur Erlösung oder Vernichtung bringen kann, das uns im Dunkel unserer Wünsche und Neigungen tappen lässt, verstrickt im Außen, dem es Spaß macht, geliebt, begehrt, verehrt zu werden, dessen sadistische Befriedigung sich nur in Vorenthaltung oder Fortreißen zeigen kann, Hoffnung, diese Zersetzung, die mein Herz zerfrisst, denn ich will nur, dass du sagst, wie sehr ich im Unrecht bin, ich will, dass du mich dazu bringst, mich bei dir für meine Worte und Meinung entschuldigen zu müssen, sag was, ein Wort von mir aus nur, oder wenigstens zeig eine Geste, einen Blick, der mir zeigt, dass ich mich irre, bitte!
Themenblöcke werden zu Sand zerrieben, Jahre rieseln von uns herab. Wortlos blickst du blicklos durch den Tisch, auf dein Getränk, drehst versonnen dein Glas, und ich warte noch immer, auch wenn nun die Gewissheit Überhand gewinnt, dass alles gesagt worden ist.
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, und habe das gesagt,  was dir längst klar gewesen ist. Wir sind am Ende, habe ich gesagt, damit du es nicht zuerst sagen konntest, aber du hättest es nie gesagt. Nicht, weil du es nicht hättest wahrhaben wollen, sondern weil ich es längst hätte wissen müssen. Meine Worte waren ein Luftschnappen meiner Eitelkeit, die mich in der Illusion wiegen sollte, es wäre meine wohlüberlegte Entscheidung gewesen, das Wohlfühlprogramm in Zeiten des Unwohlseins, das nur mit Verblendung funktioniert.
Hinten in der Ecke trifft eine Frau ein, die sich zur Sommersprossigen setzt – das war es dann mit Sitzenlassen, das doch nur ein Wartenlassen war. Das war es dann mit Traurigkeit, die sich doch nur an meinem Tisch abspielt und die ich lieber dort drüben als bei mir gesehen hätte. 
Nun bin ich da, wohin ich gehöre: am Ende meiner Einbildungen.
Du schweigst, aber dein Schweigen sagt alles. Es ist egal, ob du nichts zu sagen weißt oder nichts mehr zu sagen hast. Die Tischplatte zwischen uns hackt uns in zwei Regionen, da erscheint die Welt in Regenbogenfarben. In den Prismen meiner Tränen offenbart sich gar das Licht als Täuschung der Sinne, die es uns bequem machen, die uns eine Welt zeigen, die so gar nicht ist, und nur in Momenten wie diesen erkennen wir es.
Wir sind am Ende, habe ich sagt und habe es nicht so gemeint. Ich wollte, dass du es mir ausredest, dass du wütend oder traurig oder sonst was bist, aber dass du wortlos da sitzt, damit habe ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, wie es hätte werden können, aber die Möglichkeit einer Möglichkeit wäre tröstlich gewesen. Ein Ende wie nun ist eine Sackgasse. Sie erzwingt Umkehr und Rückzug.
Wortlos ertaste ich Geld, viel zu viel, und lege es auf den Tisch. In mir ist Beklemmung, die den Verlustschmerz gebiert. Das Ende dieses Weges mündet in das Ende aller Worte. Das Schweigen der Worte ist ein Schweigen der Zukunft. 
So gehe ich, während du weiter schweigst und sich dein Blick in den Spiegelungen deines Handys verliert.

Meine SF-Story "Bleib bei mir" in der Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft" 4/2020

Alles begann auf einem Rudergerät im Fitnessstudio, als mir die Idee zu dieser SF-Story kam. Den Auslöser werde ich hier nicht nennen, weil das ein Hinweis gäbe, um was es in der Geschichte geht.

Fakt ist jedenfalls, dass ich den Sport unterbrach, um mich sofort an die Arbeit zu machen.

Das Resultat ist jetzt deutschlandweit im Zeitschriftenhandel zu haben – ich freue mich sehr, dass Bleib bei mir in der Ausgabe 04/2020 des Wissenschaftsmagazins Spektrum der Wissenschaft in der Rubrik »Futur III« erschienen ist.  Die Ausgabe ist auch dauerhaft als PDF-Download verfügbar.
Bleib bei mir ist damit die erste meiner Geschichten mit einem derart großen potenziellen Publikum.
Ich hoffe sehr, sie gefällt. Viel Spaß beim Lesen. 

Meine SF-Story "König Kunde" in der Anthologie "Rebellion in Sirius City"

Was für ein Cover! Ich liebe das Cover dieser Retro-Anthologie Rebellion  in Sirius City mit SF-Stories, die im Stile der 50er-Jahre geschrieben sind. Allein deshalb freut es mich schon, dass meine SF-Story König Kunde in einer Story-Sammlung mit solch einer tollen Aufmachung erscheint. Da hat der Verlag für Moderne Phantastik aus meiner Sicht ganze Arbeit geleistet. 

Um was es in König Kunde  geht, möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, nur so viel: Vor wenigen Jahren wurde das Thema schlagartig besonders aktuell. Zu der Zeit gab es die Geschichte bereits und das Ereignis machte mir klar, dass sie ihre Berechtigung hat, vor allem wegen ihrer satirischen Elemente – oder sind sie zynisch?

Jedenfalls fasste ich die Story noch einmal an und brachte sie in die jetzt veröffentlichte Form. Zuerst als eBook erhältlich, wird es voraussichtlich im Juni 2020 auch die Print-Version geben. Viel Spaß beim Lesen.

Roman-Tagebuch 4: Eine Idee endet (vorerst)

Manchmal muss man Ideen einfach aufgeben – so auch den Neustart des Romans, über den ich hier zumindest teilweise berichtet habe. Nach all den Jahren der Beschäftigung damit haben sich mir mehrere Herausforderungen gestellt.

Über die Tatsache, dass es nur einen Protagonisten gibt, habe ich schon berichtet – nun wäre eine Robinsonade wie diese nicht die erste ihrer Art gewesen, da neben Robinson Crusoe auch Marlen Haushofers „Die Wand“ ein weiteres prominentes Beispiel ist.

Gerade mit letzterem Roman hätte sich meiner immer vergleichen müssen, obwohl so gut wie nichts ähnlich zu Haushofers Roman ist – außer der Einsamkeit des Protagonisten und seinem Weg darin. 

Gerade in den letzten Monaten habe ich Fortschritte erzielt hinsichtlich Kontinuität und Gestaltung. Dennoch blieben Zweifel daran, ob es mir letztlich gelingen würde, die Story angemessen umzusetzen. Offenbar gelang es mir nicht. Und offen gestanden: Ich habe während der Arbeit daran nun auch die Lust verloren. Was nicht heißen soll, dass ich niemals weiterarbeiten werde. Aber das, was ich in den letzten Monaten erarbeitet habe, gefällt mir nicht, überzeugt mich nicht, und ich kann keine Motivation dafür schöpfen – und ich denke, das ist dann auch der springende Punkt. Es liegt weniger an dem Roman selbst, als mehr an meiner Haltung dazu. Ich arbeite an anderen Dingen, die sich größer gestalten, als ich anfangs dachte. Es ist auch eine befriedigendere Arbeit, der ich mich nun zunächst stärker widme. 

Das ist in Ordnung. 

Wie es letztlich mit meiner Version einer Robinsonade weitergeht, weiß ich nicht. Darauf kommt es auch gar nicht an. Wichtig ist nur, den Kopf freizubekommen und nicht aus dem Schreiben selbst zu geraten. Vielleicht werde ich noch eines Tages erneut von einem Blitz getroffen, vielleicht ist der Roman eines Tages tatsächlich fertig. Oder auch nicht. Es ist nicht wichtig.

Die Idee gebe ich für andere auf, die derzeit Gestalt annehmen. Es wird ein guter Tausch sein.

Kalender und Zeitnöte

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Kalender zu führen ist ja so einfach. Immerhin hat jedes Smartphone die passende App gleich als Standard installiert. Dem heutigen Menschen ist offenbar in die technische DNS geprägt, als Basisdisziplin des Lebens alle Termine verfügbar und – wohl noch wichtiger – jederzeit eintragen und verschieben zu können.

Mir ist das zu beiläufig. Wie geschnappter Atem werden da Wochen zerhackt und Wochenenden verplant, einfach weil es so einfach eingetragen ist. Es ging nicht um Lust und Vergnügen an der Sache, sondern lediglich um den nächsten freien Termin; und mein Privatleben bestand fortan nicht mehr aus Verabredungen und Vorhaben, sondern nur noch aus Time Slots und Einträgen – und ich sah mich oft mit Dingen konfrontiert, die ich letztlich gar nicht wollte. Weil ich keine Zeit hatte, sie zu bedenken, bevor ich angesichts der Einfachheit des Eintragens meine Lebenszeit verschleuderte. 

Denn was in all den Kalenderapps immer fehlte, war das, was keine App mir geben kann: Die Zeit für mich – es sei denn, ich bin so wahnsinnig, und trage mir die entsprechend auch noch als Termin in einen freien Time Slot ein oder ergebe mich der Peinlichkeit, für die Beurteilung dessen, was wann gut für mich ist, eine App zu benötigen und damit wirklich jeden Rest der menschlichen Freiheit über mich selbst einem Progrämmchen anderer Leute anzuvertrauen.

Andere mögen sich die Frage nicht stellen, ob sie so leben wollen, und bitte sehr, dann eben nicht. Ich jedoch nehme mir diese Freiheit ganz ausdrücklich.

Und das hat Folgen.

Seit Langem schon weigere ich mich, Verabredungen als Termine in freie Time Slots einzutippen. Ich weigere mich, bei jeder Idee sofort das Gerät zu zücken und zu schauen, ob ich da Zeit habe. Stattdessen gewinne ich Zeit, sage nicht sofort zu sondern sage: „Ich muss nachschauen.“ 

Denn zu Hause liegt mein wirklicher Kalender, ein Buch mit Papierseiten, den ich mit Bleistift und Füller führe. 

Auf diese Weise nämlich gewinne ich notwendige Zeit, die ich brauche, um mir eine ganz besondere Frage zu stellen: „Will ich das überhaupt? Ist mir das in dieser Woche eigentlich recht?“ Der zeitliche Aufschub bewahrt mich vor der Leichtfertigkeit, die mich so häufig in Bedrängnis gebracht hat. Die Entschleunigung bringt mir Entscheidungsfreiheit zurück, die ich in der Hochgeschwindigkeit der technischen Machbarkeit und Allverfügbarkeit nicht wie gewünscht habe. Meine Verabredungen haben wieder mehr mit mir zu tun und meiner eigenen Geschwindigkeit. 

Hinzu kommt: Es ist eine Frage der Ästhetik. Auf einem Smartphone in was auch immer herumzutippen, hat nichts Ästhetisches. Im Gegenteil. Seit es die Geräte gibt, sehen wir alle aus wie Affen, die sich lausen. Statt von Haptik ist jetzt nur noch von Usability die Rede – dabei liegt zwischen Fühlbarkeit und Bedienbarkeit ein ganzes Universum. Auch dies ist etwas, das mir verloren ging, und das ich wiederfand. In der Hochgeschwindigkeit des Bedienens und Eben-schnell-mal-Machens fällt das nicht weiter auf und dürfte nicht vermisst werden.

Das ist legitim.

Ich jedoch mache es mir gerne und mit Freude in meinen Entscheidungen gemütlich. 

Vom verfluchten Sommer

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Nun, da endlich Sommer ist und mit Ende Mai tatsächlich noch zu früh, endet das Lamento, das seit April den Alltag prägte, dass nämlich immer noch kein Sommer sei. Die letzten Jahre brachten mit all der Hitze, Dürre, Sturm und Platzregen nur eine Apokalypse, nämlich dass die Welt stets untergeht, wenn gerade heute einmal kein Sommer ist. Das Hoffen, der Klimawandel könne bitte ausbleiben oder wenigstens kleiner ausfallen als befürchtet, hat angesichts des Hoffens aller auf noch mehr Hitze, möglichst schon von März, April an und bitte unterbrechungsfrei, keine Chance.

Da ist es nun Ende Mai und plötzlich 25 Grad warm, und alles jammert über all die vergangenen Tage, an denen es nicht auch schon so warm oder wärmer gewesen ist. Erstaunlich, das Ganze. Einhergehen wird der nun so plötzlich, heftig – und eigentlich immer noch zu früh – hereingebrochene Sommer statt dem Glück über seinen ersehnten Anfang mit zwei ganz anderes Dingen:  Dem Jammern darüber, dass es nicht 40 Grad ist, und dem Jammern bei jedem Tröpfchen, jedem Wölkchen, jedem Lüftchen, das ab abends bald die Hitze aus den Ecken wirbelt. Denn dann werden bei 25 Grad im Schatten fröstelnd Jacken angezogen, was soll denn das, wenn es abends irgendwann so kalt wird, und außerdem war heute auch mal kurz bewölkt, das ist doch kein Sommer sowas.

Nun also ist er da, der Sommer, begleitet von Weh und Ach, um dann im Herbst und Winter wieder zuverlässig betrauert zu werden, weil man von dem Sommer ja gar nichts Schönes hatte, und natürlich nicht genug.

Das war es also mit den Sommern, die man erwartet und ersehnt, genießt und sich an ihnen erfreut. Immerhin warten nun alle auf ihn, um wenigstens seine langen Tage dazu zu nutzen, sich zu beklagen und zu bemitleiden.

Ich vermisse diese Sommer.

Fehler als Glücksfall: Mein Roman „Dickhäuter“ reloaded

Da druckt sie aus: Die neue 2019er-Version meines Romans „Dickhäuter“, den ich ja eigentlich vor Kurzem erst mit neuem Cover erneut als eBook veröffentlicht habe – was ist passiert? 

Manchmal sind Fehler Glücksfälle. Jemand wird mich auf einen Fehler gleich auf Seite 1 hin, der auch in den Vorschauen zu sehen war, und der bislang niemandem aufgefallen war. Ich zog die Veröffentlichung zurück und entfernte den Roman aus allen Shops. Und nahm dies zum Anlass, noch einmal ans Manuskript zu gehen. Es geriet zum Glücksfall.

Ich habe „Dickhäuter“ bereits 2001 geschrieben und bei der letzten Überarbeitung lediglich beschriebene Technologien und Verhaltensweisen angepasst – 2001 war nicht zu ahnen, was mit mobilem Internet und Sozialen Medien über uns kommen sollte …

Doch nun 2019 erkannte ich, dass ich noch mehr ändern musste. Es begann schon auf Seite 1, Kapitel 1 hat nun komplett neue Dialoge, Kapitel 8 und 9 haben sogar neue Szenen. Außerdem strich ich einige Passagen auch einfach ersatzlos und formulierte andere um. Der Ton hat sich verändert und der Dickhäuter hat nun als Person eine Facette hinzu bekommen. Der Roman ist weniger anklagend, dafür differenzierter geworden. Von einer Neuversion kann also wirklich die Rede sein. Und das alles wegen eines Fehlers, den niemand zuvor bemerkt hat. Manchmal muss man für Fehler dankbar sein. Voraussichtlich in eine Woche lade ich ihn wieder hoch, sodass er erhältlich sein wird.

Ich gebe Bescheid.

Geschichten im Turbo-Boost: Schreibprozess und Berlinale

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Warum es mich seit 2006 fast jedes Jahr zur Berlinale zieht, obwohl ich sie stets zu anstrengend finde? Weil sie für mich eine Inspirationsquelle sondergleichen für mein eigenes Schreiben ist.

Das Erweitern und Aufbrechen des eigenen Mindsets ist mir wichtig, und so kehre ich zwar immer völlig erschöpft, manchmal gar entnervt nach Hause zurück, aber auch vollgetankt mit Ideen und Eindrücken, die ich sonst in dieser Dichte und diesem Reichtum nicht bekommen hätte, und von denen ich anschließend noch lange profitiere.

Denn Stoffe, Motive, neue Erzählweisen und Perspektiven: Mehr Unterschiedliches auf engstem Raum als Inspiration und Schulung des eigenen Schreibens ist kaum möglich als auf einem Filmfestival wie die Berlinale. Vor allem ist es eine ungemein abwechslungsreiche Schule der eigenen Wahrnehmung: Was sieht man, was löst ws aus und wie geht man damit um? Gwrade hinsichtlich des bereits erwähnten eigenen Mindsets bin ich immer sehr dankbar für die zahlreichen Erweiterungen, die ich hier erleben darf:

Hier bekommt man zu sehen, was in den meisten Fällen nirgendwo sonst zu sehen sein wird. Mit über 400 Filmen aus aller Herren Länder in zahlreichen Sektionen, die auch wagemutig und experimentell Stoffe entwickeln und ohne finanziellen Druck ganz besondere Geschichten erzählen, kann man innerhalb einer Woche von Ideen und Herangehensweisen förmlich überrollt werden – aber es lohnt sich. Denn die meisten Produktionen erreichen den regulären Kinobetrieb erst gar nicht.

Für mich sind Filme seit jeher hervorragende Schreibschulen. Schnitt, Motiv, Beleuchtung, all diese Handwerkskünste wecken Assoziationen. Häufig geht es mir gar nicht so sehr um die Story an sich, sondern vielmehr um ihre Montage und das, was Bild und Ton bewirken.

Es kommt vor, dass ich mich frage, wie man die Szene imitiert Worten erzählen könnte, und dabei erlebe ich häufig positive Überraschungen.

Ebenso häufig erlebe ich, dass eine bestimmte Einstellung des Grundstein zu einer eigenen Geschichte legt – die mit der Story des Films nichts zu tun hat, sondern mit dem, was mir plötzlich dabei einfällt: Eine Assoziation, ein Charakter, eine Stimmung, ein Gefühl. Und da die Filme eines Filmfestivals häufig den Mainstream verlassen, ihn variieren oder biegen, bin ich mir sicher, sie sonst nicht und vor allem nicht in dieser Konzentration bekommen hätte.

Die Folge: Ein überreicher Fundus an Szenen und Ideen, die sich im Laufe der Zeit zu Erzählung formen und verdichten müssen. Manchmal entsteht daraus ein eigener Text, manchmal reichern sie andere Texte an, schleichen sich ein.

Kehre ich von der Berlinale heim, bin ich so erledigt wie voll. Aber ich zehre lang davon. Weswegen auch die kommenden Berlinalen mit mir rechnen können.

Neue SF-Story „Der Gärtner von Eden“

Manchmal braucht es Gelegenheiten, die einen dazu bringen, eine Geschichte zu schreiben, die man ohne die Gelegenheit vielleicht nie geschrieben hätte – wie es mir jetzt mit meiner neuen SF-Story Der Gärtner von Eden ging. 

Alles begann damit, dass mich die Lektorin und Autorin Simona Turini zu einer Lesung einlud, die die letzte in ihrer 4-teiligen Reihe „Future Monday“ im Karlsruher Kulturverein KOHI sein sollte. Thema: Datenschutz. Hier las ich gemeinsam mit Datenschützer und Autor Jens Glutsch von der Manufaktur für digitale Selbstverteidigung, der aus seinen Publikationen vortrug, zum Thema „Wir wissen, was du machst! Datenkraken & Sammelwut“

Ob ich dazu nicht zufällig eine Geschichte oder zwei auf Lager hätte?

Hatte ich nicht.

Zusagen war dennoch Ehrensache, und so dauerte es keine fünf Sekunden, bis mir klar war, dass eine der beiden Geschichten, die ich für die Lesung schreiben würde, Der Gärtner von Eden sein musste.

Rückblickend war dies das Beste, was mir hat passieren können – zumal meine Bedenken, die zugegeben abstrakte Geschichte könnte die Zuhörer ratlos zurücklassen, unbegründet waren. Vielmehr konnte ich mich über äußerst positive Resonanz freuen – so ließ die Karlsruher Tageszeitung Badische Neueste Nachrichten (BNN) den Leser wissen, man habe „gebannt“ zugehört.

Nun, da Der Gärtner von Eden fertig und öffentlich vorgestellt wurde, bin ich froh, dass ich mich an der Lesung beteiligt habe.

Ich brauchte insgesamt drei Anläufe, bis ich die Geschichte letztlich auf der Schiene hatte. Den beiden ersten Anläufen fehlte etwas, und als ich es gefunden hatte, war der dritte Anlauf ein durchgängiges Vergnügen mit einem Text, der sich fast schon von selbst schrieb.

Die nächste Etappe ist natürlich: Vielleicht findet sich ja eine Veröffentlichungsmöglichkeit.

Meine Story „Die Schwelle“ als kostenloses eBook

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Alles beginnt mit einem Treppensturz – oder geht zu Ende, wie man es sieht. Hier, an der Schwelle des Todes, tun sich neue Eindrücke auf. Die Welt, wie sie war, wird unwichtig, das was da kommen mag, ist ungewiss. Was nun geschieht, geschieht vielleicht oder geschieht vielleicht nicht – wer weiß das schon? Und wie schnell geschehen Dinge hier, wenn sie denn geschehen sollten?

„Die Schwelle“ ist eine Chronik des Verlöschens und daher weniger plotgetrieben als spekulativ.

Ich habe Sie mehrfach gelesen, und es macht mir tatsächlich Freude, diese Geschichte vorzutragen – denn sie lebt meiner Ansicht nach vom Vortrag.

Das Video gibt es natürlich auf meinem YouTube-Kanal.
Videolesung von Die Schwelle jetzt ansehen.

Hier gibt es „Die Schwelle“ zum kostenlosen Download als eBook für alle Reader:

Erzählung „Die Schwelle“ für Leser mit tolino, Kobo im EPUB-Format kostenlos downloaden:

Die Schwelle von Oliver Koch im EPUB-Format

Erzählung „Die Schwelle“ für Leser mit tolino, Kobo im MOBI-Format kostenlos downloaden:

„Die Schwelle“ von Oliver Koch im MOBI-Format

Mir gefallen solche Themen, nennt mich morbide. Aber der Tod war schon als Teenager für mich interessant. Ich startete 1985 als 14-Jähriger eine Kurzgeschichten-Reihe namens „Blick in den Tod“, von der ich acht Episoden Keep Reading

Meine Erzählung „Die Ruhe vor dem Knall“ als kostenloses eBook

Das Sterben eines Unternehmens als Mitarbeiter zu erleben, ist eine Erfahrung, die man so schnell nicht vergisst. Im Sommer 2003 entließ die Firma, in der ich damals angestellt war, über mehrere Wochen mehr als die Hälfte der 170-köpfigen Belegschaft und ging kurz danach ganz unter.

Entlassene Mitarbeiter wurden freigestellt und hatte nach ihrer Kündigung lediglich eine Stunde, um ihren Schreibtisch zu räumen und das Gebäude zu verlassen.

In meiner sehr kommunikativen Funktion bekam ich hautnah mit, wie sich Büros leerten und ganze Räume plötzlich unbesetzt waren.
Mich und meine Kollegin traf es schließlich am Ende der zweiten Entlassungswelle. Es war abzusehen, schließlich hatten wir bereits nichts mehr zu tun und saßen unsere Arbeitszeit mit Warten ab.

Damals beschäftige mich das Ganze derart, dass ich mit „Die Ruhe vor dem Knall“ dieses Firmensterben in Worte fassen musste.
Ironischerweise schrieb ich gerade daran, als wir zum Vorgesetzten gerufen wurden, um unsere Kündigungen entgegenzunehmen.
Ich fuhr nach Hause, informierte die Familie und schrieb den begonnenen Text am selben Nachmittag zu Ende.

Seitdem habe ich den Text absichtlich nicht weiter bearbeitet – ich wollte ihm nicht seine Unmittelbarkeit nehmen, aus der er entstand.
Heute, 15 Jahre später und zumindest klimatisch mit einem ähnlich heißen Sommer konfrontiert, sind mir diese Tage und der besagte Tag noch immer äußerst präsent, wenn ich „Die Ruhe vor dem Knall“ lese. Sie ist noch immer meine persönliche Schau auf die Ereignisse, die ich hoffentlich weder so, noch in abgewandelter Form wieder erleben möchte.

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Die Ruhe vor dem Knall – Erzählung von Oliver Koch

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Mrs Dalloway

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Eine schöne Vorstellung: Mrs. Dalloway aus Virginia Woolfs gleichnamigem Roman kauft an einem Sommersamstag des Jahres 1925 ihre Blumen selbst. Es ist die Geschichte eines Weges durch London, friedvoll. Was wir als Leser nebenbei erfahren, ist ein Schlaglicht auf einen typischen Samstagmorgen in London der höheren Gesellschaft dieser Zeit.

Ein wenig kann es neidisch machen. Mrs. Dalloway geht einfach, kein Vergleich zu unseren heutigen Rasen, das häufig die Samstage so vieler Menschen bestimmt.

Eine Routine ist ein Halt im Treiben, eine Zäsur im Fremdbestimmten, die unser eigene Wille setzt. Zu Fuß losmarschieren, um Blumen zu kaufen: Das klingt nach wunderbaren Frieden, nach Schönheit und Ästhetik, nach Leben in vollen Zügen.

Überhaupt Blumen: Es sind ja nicht die wichtigen Besorgungen, die sich eher durch Freudloses Gemacht-werden-Müssen auszeichnen, sondern bewusste ohne Not, aus einer Laune und einem Hang zur Schönheit heraus. Beiwerke eines Lebens, das durch sie nicht bloß erledigt, sondern reicher wird.

Wie wäre es also mit solch einer Routine, die auf den ersten Blick nichts Wichtiges bedeutet, wohl aber das Leben erst zu dem lebenswerten Zustand macht, der genossen werden kann?
Eine Routine, so anders als das Abhaken auf einer Liste?

Der Zufall will es, dass es nicht weit von mir einen kleinen Blumenladen gibt, im besten Sinne. Nicht einer dieser Pflanzenschleudern, die massenweise Konfektionsware in Supermärkten verramscht, sondern einer jener schützenswerten Orte, in den es um Blumen geht und Blüten, deren Duft aus ihnen kommt statt von Chemikalien.
Statt eines Verkäufers steht dort eine Blumenhändlerin, abermals etwas Schützenswertes, an dem der Zahn der Zeit nagt wie an diesen Berufen und damit an den Zuständen, die sie entfachen.

Als Routine erst etabliert, erwartete mich künftig regelmäßig und gar notwendigerweise ein samstäglicher Abstecher in eine kleine, wundersame Welt, in der Funktion und Funktionieren Sendepause haben und die von jenen auch nie erklärt werden können.

Mrs. Dalloway mochte in ihrem Blumenkauf an einen Samstag ins London des Jahres 1925 keine Routine gemacht haben, aber das Inspirierende dieser Szene tauge als Inspiration und Vorschlag für das eigene Leben allemal.
Womit sogar ein Teil über Literatur gesagt wäre. Die Dinge legt, die lohnend sind, beachtet zu Werden.