Denkbar

Fotos als reine Information oder: Wozu das alles?

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Kürzlich suchte ich zum Testen eines mobilen Druckers ein Foto auf meinem Smartphone.
Es traf mich wie der Schlag: Ich fand nur mit Mühe eines, das den Ausdruck wert war. Wozu, frage ich mich nun, habe ich all die anderen Fotos gemacht, wenn sie allesamt nicht gut genug waren, gedruckt zu werden?
 Abgesehen von meinen fotografischen Fertigkeiten: Was sind all diese gemachten Fotos, die mein Smartphone bevölkern? Was war ist Sinn? Und haben sie noch immer einen Sinn?

Reine Information, sonst nichts

Die Sache ist klar: All diese Fotos sind keine Fotos an sich, keine bildlich eingefangenen Motive – sie sind reine Information und sonst nichts. Ich habe sie gemacht, um einen Post in sozialen Netzwerken zu bebildern, damit man sehen konnte, worüber ich schrieb. Sie dienen als Bestandteil einer Beitragsgrafik im Blog. Ich hatte sie gemacht, um sie an andere Personen zu schicken – nicht als Foto, sondern als eine reine Information: Das da meine ich. Schau mal. Ich wollte damit erreichen, dass sich andere ein Bild von etwas machen konnten, worüber ich sprach.
Diese Fotos sind fast wie Untertitel zu einer Nachricht.

So hatte ich meine Fotos noch nie gesehen: Ob sie auch als Foto selbst, als Bildkomposition Bestand hätten. Es ist ernüchternd zu wissen, dass dem nicht so ist.
Diese Fotos sind Information, nicht mehr. Kalte, seelenlose, unkünstlerische Information, Bebilderung zu einer Mitteilung. Kontext allenfalls, vielleicht auch Erinnerungsstütze.
Von Motiv kann man nicht sprechen. Was ich da fotografiert habe, sollte Nutzen bringen, etwas zeigen, anstatt etwas darzustellen. Sie hatten und haben selbst keine Aussage. Sie sind reine Anhänge. Rein künstlerisch gesprochen wertloser Informationsmüll. Sie sind da, um einmal gesehen und danach vergessen zu werden.

Ist es das, wofür wir hauptsächlich Fotos machen? Um ein „Guck mal” in die Welt zu schreien in der Hoffnung, jemand blickt darauf, liked es kurz und hebt damit kurzfristig unseren Hormonspiegel an, weil wir damit wissen, dass man uns bemerkt hat?

Warum habe ich sie überhaupt noch?

Ich schaue nun auf all die Fotos und frage mich: Warum habe ich sie überhaupt noch, wenn sie für sich selbst nichts darstellen? Selbst Fotos von Orten und Landschaften sind langweilig, schnell dahingeknipst, wofür? Damit ich sie mir später einmal ansehe? Sie sind langweilig. Sie sind unausgegoren. Sie stellen überhaupt nichts dar, sind reine Funktion: Mich zu erinnern nämlich. Sobald ich auf diese festgehaltene Langeweile, dieses geknipste Unvermögen schaue, muss meine Erinnerung an den Tag, den Moment womöglich, den Rest übernehmen und die Langweiligkeit dieser Fotos ausgleichen. Was ich mir nicht ausdrucken würde, weil es einfach so schlecht ist, schaue ich mir doch auch auf Smartphone oder Tablet nicht mehr an. Oder ist der Anspruch bei digitalen Fotos so dermaßen gesunken?

Eigentlich könnte ich nun auf einen Schlag mehrere hundert Fotos einfach löschen, sie haben ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Sie gaben einer Nachricht Futter, einem Post ein Bild, sie waren Information zu einem bestimmten Punkt, als ich sie machte, um sie mitzuteilen. Niemand wird sich an die Nachricht erinnern, ebensowenig an das Foto. Die Info ist gegeben worden, die Info ist angekommen, die Info ist vergessen worden, danke, nächste – wie das so ist mit Infos. Ihr Nachrichtenwert dauert sogar noch kürzer als die Zeit, in der sie entstehen. Ex und hopp.
Und nun?

Wer damit, und warum mache ich das alles?

Alles löschen, weil eh alles überflüssig ist? Ja, zumindest das Meiste davon. Künftig bessere Fotos machen? Nun, wozu? Wenn die meisten ohnehin nur entstehen, um einer Nachricht als Anhang oder Kontext hinterhergeschludert zu werden, muss man sich nicht abmühen, Wertvolles zu machen – es wird auch gar nicht gelingen. Denn die Anlässe für derlei Fotos sind überhaupt nicht wichtig genug, um sich Mühe zu geben. Man wirft eine Information als Nachricht in den endlosen Strom anderer Informationen als Nachricht. Niemand würde die Mühe zu schätzen wissen, und sind wir ehrlich: Die Nachrichten selbst sind die Mühe nicht wert, weil sie nämlich keinen anderen Sinn haben, als das schon erwähnte „Schau mal“ zu bebildern. Es sind Nachrichten geringer Güte, die nur zeigen, schaut mal, wo ich bin, was ich habe, worüber ich mich freue. Sie sind Information zur Kommunikation, mehr nicht. Fotos sind sie vielleicht technisch, aber inhaltlich nicht. Sie sind die schlechte Serie ohne Sinn und Verstand, die technisch eine Serie ist, aber erzählerisch keinen Pfifferling wert ist.
Womit ich mich nun frage: Warum mache ich das alles? Eigentlich kann ich mir das Meiste davon sparen. Frei nach Rilke: Ich muss mein Leben ändern.

Die Entdeckung von Orten der Stille

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Kürzlich fand ich in Berlin mehrere Orte voller Stille. Mitten in der Stadt.

Gemeinhin sagt man ja, an solchen Orten bliebe das Leben stehen. Doch es ist umgekehrt: Hier öffnet sich ein Raum für das Leben, weil der lärmende Alltag stehenbleibt. 

Die Entdeckungen fand ich bedeutsam, und ich genoss jede einzelne davon. Ich setzte mich, entspannte mich und ließ den jeweiligen Ort auf mich wirken. Dass so etwas mitten im Stadtlärm möglich ist, finde ich großartig.

Kaum fasste ich den Entschluss, diese Orte in sozialen Netzwerken zu teilen, kam die Erkenntnis, das genau das falsch gewesen wäre. Diese Orte sind deshalb Orte, weil man sie weitestgehend in Ruhe lässt. Ortskundige und Anwohner suchen sie vielleicht zur Erholung auf, aber Orte wie diese hören auf, Orte wie diese zu sein, wenn sie zu Touristen-Hotspots hochstilisiert werden.

Die Orte sind deshalb so magisch, weil sie dem Strom und der Zeit und dem Diktat des Getriebenseins trotzen. Sie widersetzen sich nicht aktiv, sondern sind ein Gegenpart zum Beschäftigtsein, weil sie einfach so sind, wie sie sind. Wer hierher kommt, will seine Ruhe haben, möchte Luft holen, braucht einen Ort zum Luftschnappen. An solchen uneitlen Orten gibt es nichts Besonderes zu sehen – sie sind einfach nur Pausen. Sie sind einfach zu dem gewachsen, was sie nun sind. Touristen finden hier außer einer Pause und friedlicher Pause in Stille nichts. Alles, was es hier zu entdecken gibt, sind Dinge in einem selbst.

Daher unterließ ich es, auf die Orte aufmerksam zu machen. Sie sollen das bleiben, was sie sind. Wer sie eines Tages zufällig entdeckt und sich dort hinsetzt, wird sich eingeladen fühlen und wissen, was ich meine.

Von Haiku, Festhalten und Loslassen

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Manchmal gibt es keine andere Möglichkeit für mich, sofort etwas aufzuschreiben.

Dabei kommt es auf Schnelligkeit an, denn was spontan auftaucht, ist oft schneller wieder fort, als man es sich merken kann. Auf Äußerlichkeiten muss ich dabei verzichten. Hauptsache, ich kann festhalten, was sich da plötzlich in meinem Kopf gezeigt hat.

Es erinnert mich daran, aus einem fahrenden Zug oder Auto einen Zweig oder eine Blume zu greifen. Schnell sein, koordiniert und konzentriert vorgehen – oder es verpassen.

So entstand dieser Haiku, eilig ohne Rücksicht auf vernünftige Handschrift festgehalten:

Lass es, lass los, lass
fließen, was zu fließen hat
sei gelassen, frei

Festhalten: das ist so bedeutungsvoll in unserem Leben. Weil so vieles flüchtig ist. Die Momente, die Gelegenheiten, die vorüberziehen, teilweise an uns vorbeirasen, machen uns schnell wehmütig. Wir wissen nämlich von all den Momenten und Gelegenheiten, die wir nicht festgehalten haben, auf welche Weise auch immer.

Dass das Haiku um genau das Gegenteil geht, nämlich das Loslassen, entbehrt nicht gewisser Ironie. Doch es ist eben das Loslassen, das dem Wunsch, alles festzuhalten, sinnvoll begegnet. Denn trotz aller Bemühungen, Momente festzuhalten und Gelegenheiten zu ergreifen, wird es nie immer gelingen. Das Verlieren durch Vorbeisausen ist ein Teil des Lebens, dem man Akzeptanz begegnen sollte. Zudem nicht jeder Moment den Aufwand wert ist, nicht jede Gelegenheit mündet im Guten, nur weil man sie ergreift.

Die Gabe, loszulassen, wappnet gegen Verlustgefühle und leert den Akku jener Akkumulationsmaschine, die uns ständig antreibt, festzuhalten, auszubauen. Beim Festhalten geht häufiger um das Haben als ums Sein.

Beim Loslassen verhält es sich meist umgekehrt.

In diesem Haiku treffen sich beide. Eilig aus dem Vorbeisausen des Gedankenstroms gepflückt und dem Vergessen entrissen, steht er nun da in der Welt, sichtbar, lesbar. 

Und sagt: wäre er vergangen, wäre es in Ordnung gewesen.

Der offene Bücherschrank als Projekt und Ort

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Den offenen Bücherschrank nutze ich oft, um dort alte Bücher abzugeben.

Eigentlich sind es zwei Bücherschränke in der Nähe. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man den eigenen Büchern damit ein zweites Leben schenken kann – und anderen die Möglichkeit, interessante Bücher zu lesen, die sie sich vielleicht selbst nicht leistet könnten. Für mich haben Bücherschränke deshalb eine soziale Dimension, denn sie sind soziale Projekte und Begegnungsorte mit Mensch und Literatur.

Mich von Büchern zu trennen, fiel mir schon immer schwer. In meiner ersten Wohnung lagerte ich kistenweise in meinem Kellerraum ab. Beim Umzug entschied ich schließlich: Sie müssen fort.

Hätte ich niemals ein Buch abgegeben, hätte ich inzwischen, was ich mir immer erträumt habe: Eine eigene Bibliothek, mit vor Büchern überquellenden Regalen. Natürlich wären viele zweifelhafter Qualität darunter. Viele Romane, die ich mir schon als Schüler als preisreduzierte Mängelexemplare nach Hause schleppte. Doch es wären auch sehr viele interessante Titel darunter, heute manchmal gar wahre Schätze – genau das hat mich oft dazu bewogen, auch Fachliteratur aus dem Studium oder verschwenderische Gesamtausgaben zu verkaufen, zu teils enormen Preisen (die dreibändige Sammlung aller Gedichte von Theodor Fontane der Großen Brandenburger Ausgabe beispielsweise, deren Verkauf mir damals viel einbrachte, mich aber heute noch zur Verzweiflung treibt).

Und doch weinte und weine ich jedem einzelnen Buch noch heute hinterher. Einige habe ich inzwischen sogar antiquarisch wieder angeschafft.

Bücher sind für mich Liebe, eben gerade dann, wenn sie gedruckt sind. Diese Liebe empfinde ich eBooks gegenüber nicht, auch wenn ich sie sowohl kaufe als auch lese.

An den Bücherschränken habe ich einige Male bemerkt, wie sich Menschen auf die Titel stürzten, die ich dort abgelegt habe. Wenigstens das war jedes Mal ein gutes Gefühl. Da ist Interesse, Wertschätzung, sowohl an Thema, als auch an dem Buch als Medium.

Wenn ich sehe, wie sehr die Bücher dort Freude verbreiten, freut mich das besonders. Und so wandern immer wieder Bücher dorthin.

Aber nicht nur die: Ich gebe auch Magazine dort ab, denn auch für sie habe ich eine Schwäche. Thematisch ist es breit, die Magazine sind teils aufwendig und so teuer wie gängige Taschenbücher. Was ich an Text und Gestaltung, Könnerschaft und Herzblut darin sehe, ist beachtlich – sie stehen Büchern meist in nichts nach. Deshalb sollten sie auch so behandelt werden. Vielleicht werden derlei Magazine eines Tages auch als Buch angesehen, verdient haben es viele Publikationen.

Einige von ihnen sammle ich und behalte sie entsprechend. Aber viele auch nicht. Es ist ein breites Spektrum, und ich habe die Hoffnung, dass es Menschen inspiriert, dass sie Titel kennenerlernen, die sie vorher nicht kannten. So ist der Bücherschrank eine stimmlose Empfehlungsplattform.

Auch alte Filme, vorwiegend auf DVD, landen dort und haben den gleichen Effekt.

Jedes Mal also, wenn ich mich schweren Herzens auf den Weg mache, um dort etwas abzugeben, kann ich mir sicher sein, dass es nutzbringend ist. 

Ja, das macht glücklich.

Unkraut, das kein Unkraut ist

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Unkraut nennt der gelernte Fachjargon das, was da zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons wächst. Unkraut deshalb, weil es dort wächst, wo es nicht wachsen soll.

Wir lernen: Ob eine Pflanze Unkraut ist oder nicht, ergibt sich aus dem Ort, an dem sie das Pech hat, zu wachsen. Wo bestimmt wird, dass sie dort nichts zu suchen habe, wird aus einer Pflanze also ein Unkraut, ein abwertendes Urteil.

Ist das nicht bedauerlich?

Ich habe nachgeschaut: Was da zwischen zwei Bodenplatten sprießt, nennt sich Ruprechtskraut oder Geranium Robertianum. Sie gehört zu den Storchschnabelgewächsen, Paracelsus hat sie als Heilpflanze beschrieben. Erste Aufzeichnungen gab es laut Wikipedia bereits im 13. Jahrhundert – damals wurde dieses „Unkraut“ zu medizinischen Zwecken in Gärten angebaut.

Was da nach eingängiger Meinung wächst, soll helfen gegen Frauenleiden, Zahnschmerzen, Prellungen, Fieber, Gicht, Nieren- oder Lungenleiden, Herpes und Nasenbluten. Auf Wikipedia ist weiterhin zu lesen:

Der Aufguss von der Pflanze wurde als Stärkungsmittel eingesetzt und galt auch als wirksam gegen Durchfall. Auf Wunden aufgelegt sagt man ihm antiseptische Wirkung nach. Aufgrund des eigenartigen Geruchs der zerriebenen Blätter wird es auch als mückenabwehrende Pflanze angesehen.

Daher, meine Damen und Herren, bitte: DAS soll ein Unkraut sein? 

Diese Pflanze da, die ich nun nachdrücklich nicht als Unkraut bezeichnen möchte, lasse ich wachsen, zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons. Denn sie ist wertvoll – und sie sieht gut dort aus mit ihren kleinen Rosa Blüten. Woher kommt die Versessenheit auf das Ordnungsprinzip durchgehender Stein– und Betonflächen? 

Ich freue mich über dieses unvorhergesehene Sprießen von Natur, die mein Leben eindeutig mehr bereichert als stört. Übrigens ist dieses eine Ruprechtskraut nicht allein auf meinem Balkon, denn ich habe weitere Geschwister entdeckt. 

Was ich dazu sage? Schön! Kommt nur alle her. 

Wir können aus diesem Beispiel lernen: Gängige Muster der Abwertungen sollten wir uns sparen, denn sie sagen mehr über uns selbst aus als über das Objekt der Abwertung.

Oberflächliche Betrachtung führt zu falschen Schlüssen. Ein Kennenlernen und Schätzenlernen findet nicht statt.

Und mehr noch: Man verkennt, von welcher Fülle man umgeben ist, wieviel Gutes, Schönes und Vernünftiges in der Welt ist, das wir allzu gern bereit sind, aus Unkenntnis und Unlust zu vergiften – und damit auch uns selbst.

Von der Schrulligkeit kostenloser Wochenendzeitungen

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Älterwerden und Altwerden sind glücklicherweise zwei verschiedene Zustände. Dennoch kommt es vor, dass ich mich frage: Werde ich alt? Nicht wegen körperlicher Gebrechen oder Vergesslichkeit, sondern wegen Verhaltensweisen, dir mir, als Älterwerdender, wie die eines Altwerdenden vorkommen.

Eine dieser schrulligen Verhaltensweisen, die sich mir angeheftet haben, ist das interessierte Durchblättern der kostenlosen Wochenendzeitung. Vor ewigen Jahren habe ich sie selbst eine Weile lang ausgetragen. Ich war durch meinen damaligen Wohnort gewandert und hatte fremden Menschen das in ihre Briefkästen gestopft, was im Fachjargon allen Ernstes „Werbeträger“ heißt – also gedrucktes Drumherum, um darin Werbeprospekte zu versenken. Damals war ich erstaunt, dass manche Leute schon in ihren geöffneten Fenstern lagen, weil sie so sehr darauf gewartet hatten. Es gab manche, die sich bei mir beschwerten, dass ich so spät kam. Ein Mensch beschwerte sich sogar bei der Firma über mich. Ich käme erst am Vormittag, dabei vermisste man das Blättchen bereits zum Frühstück. 

Ich fragte mich damals, was diese Menschen nur an diesen kostenlosen Werbeträger-Blättchen finden mochten.

Nun bin ich selbst einer geworden, der sie Woche für Woche durchblättert. Immerhin vermisse ich sie nicht morgens, manchmal ist sie erst Sonntag da statt Samstag, und das ist mir noch immer egal. Aber wenn sie da ist, blättere ich sie aufmerksam durch, lese gar manche Beiträge.

Was ist bloß mit mir los?

Vielleicht einfach gar nichts oder vielleicht eine Menge. 

Früher habe ich diese Druckerzeugnisse respektive Werbeträger mit dem Aufkleber „Keine kostenlose Werbung und kostenlosen Zeitungen“ abgewehrt. Bis die Hausverwaltung entschied, uns allen der schöneren Optik wegen einheitliche Aufkleber zu verpassen – auf denen lediglich „Keine kostenlose Werbung“ stand. Fortan also hatte sich das kostenlose Zeitungswerbeträgerding in meinen Briefkasten und somit in mein Leben geschoben. Nach dem Motto „Wenn sie schon da ist, kann ich auch reinschauen“ muss es irgendwann passiert sein: Gewöhnung setzte ein. Ich mutmaße, das es der gleiche Impuls so vieler Leute sein könnte, abends einfach den Fernseher einzuschalten, um „fernzusehen“ . Und wie stehe ich zu den kostenlosen Wochenendblättchen?

Ich habe mich gefragt, ob sie in den letzten Jahren möglicherweise besser geworden sind – so finde ich zuverlässig Artikel über Orte in der nahen und weiteren Region, die ich anschließend besuchen möchte. 

Auch ist mir das ein und andere Mal eine Veranstaltung in der Stadt begegnet, die ich sonst verpasst hätte.

Mit diesem sonst so geschmähten Medium hat sich also ein praktischer Nutzen verknüpft. Hatte ich früher einfach keinen Sinn dafür, dass ich all das übersehen habe? War ich früher einfach zu jung dafür – als Antithese zur Frage, ob ich nun stattdessen alt werde? Und wenn dem so wäre: Ist das wöchentliche interessierte Blättern in diesen Wochenendzeitungen dann doch nur eine beruhigende Kombination aus positiv besetztem Älterwerden und dem damit verbundenen weiteren Blick auf Welt und Umwelt?

Wer weiß – ich denke, letztlich ist das alles nicht so wichtig. Schließlich mischt sich bei derlei Überlegungen schnell ein Meinungs-Cocktail aus verschiedenen Instant-Zutaten zusammen, die gemeinsam keinen guten Drink ergeben. Es stehen uns nämlich Vorurteile, Werturteile, Meinungen, Ansichten, Befürchtungen ebenso im Weg wie auf der anderen Seite Wünsche, Ziele, Ambitionen. All das zusammengerührt kann man Ego nennen, und das sehen nicht nur die Buddhisten als nicht objektiv, sogar als schädlich kritisch.

Auch dieses Wochenende habe ich mich also dem Printerzeugnis gewidmet und fühlte mich ganz gut damit. 

Womit doch alles gesagt und entschieden ist. 

Mein Beinaheleben in Kamen-Methler

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Ich weiß nicht, wie mein Leben gewesen wäre, hätte ich es ab dem Jahr 1982 oder 83 in Kamen-Methler gelebt. Aber ich dachte erstmals darüber nach, als ich kürzlich auf einer Reise mit dem Zug dort hielt. Fast nämlich wäre es so gekommen. In der Schule dort war ich bereits angemeldet. Angeblich, so sagte mir damals meine Mutter, freuten sich die Jungen der Klasse auf mich, denn es gab dort mehr Mädchen.

Meinem möglichen Leben in Kamen-Methler auf der Spur

Ich finde es nicht eigenartig, 40 Jahre später darüber nachzudenken. In dem Moment nämlich, in dem mein Zug dort hielt, war alles so präsent, dass die Jahrzehnte nur irgendwelche Zahlen waren.
Natürlich ist alles Spekulation eines über 50-Jährigen, der sich einen möglichen Lebensweg seines 11- oder 12-jährigen Ichs vorstellt. Was immer ich mir vorstelle, geht von meinem heutigen Kenntnisstand meines wirklich gelebten Lebens aus. Alles, was im Leben nicht erfreulich verlief, gerät sofort auf die Liste „Was mir erspart worden wäre“. Eigenartig, dass erst später die Liste „Was mir alles entgangen wäre“ wichtig wurde.

Kamen-Methler. Eigenartig, dass wir seit damals immer Kamen-Methler sagen anstatt Kamen. In anderen Städten sagt man auch nicht automatisch den Ortsteil. Ich habe in Osnabrück gewohnt, in Hamm, in Waldbronn, in Karlsruhe. Nie spielte der Ortsteil je eine Rolle. Nie haben wir gesagt, in Osnabrück-Eversburg zu wohnen oder in Hamm-Süden, Waldbronn-Busenbach oder Karlsruhe Südstadt.

Bei Kamen-Methler schon. Vielleicht ist das der Grund der genauen Erinnerung. Die Spezifizierung als Trigger eines Neubeginns, der letztlich zum Beinahe-Neubeginn geworden war.
Wären wir wirklich dorthin gezogen, wäre es mir leichter gefallen als 1985, als wir letztlich nach Hamm zogen. Kamen-Methler war fortan fast vor der Haustür, aber Kamen bin ich nur auf der Autobahn oder im Ikea nahegekommen. Methler habe ich seither niemals wieder betreten.

1982 oder 83 wäre mir der Wechsel zwar nicht willkommen gewesen, aber es wäre in Ordnung gegangen. Ich war noch nicht so gefestigt in Osnabrück, obwohl ich diese Stadt immer so geliebt habe. Ich wäre ein 11- oder 12-jähriger Junge gewesen, der in einen anderen Ort gezogen wäre. Ein Neubeginn wäre nicht einmal ein Neubeginn gewesen, sondern ein Weitermachen unter anderen Vorzeichen. Dass man mich angeblich auf mich freute, hatte es mir einfach gemacht. Es kann gut sein, dass man mir es damals nur gesagt hatte, um mir den Wechsel zu erleichtern. Heute will ich gar nicht wissen, ob dem so war. Wahrscheinlich könnte sich meine Mutter auch gar nicht mehr daran erinnern.

Was wäre aus mir geworden? Schwer zu sagen. Ob ich nach der Realschule dort auch weiter aufs Gymnasium gegangen wäre wie in Wirklichkeit, kann ich nur spekulieren. Schon damals habe ich ständig Geschichten geschrieben, arbeitete an einem Science-Fiction-Roman, dessen handschriftliches Original ich tatsächlich noch besitze. Er blieb unvollendet. Nach einem gewissen Kapitel hatte ich keine Lust mehr, und heute kann ich nicht mehr sagen, wie er hätte weitergehen sollen.

Dass ich mit dem Schreiben in Kamen-Methler aufgehört hätte, kann ich mir nicht vorstellen. Meine Stärke in der Schule ist immer Deutsch gewesen. Das wäre auch dort nicht anders gewesen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ich auch dort aufs Gymnasium gegangen wäre, später wie in meinem wirklichen Leben an die Uni. Die Anlagen dessen, was mich heute noch ausmacht, waren damals schon ausgeprägt genug, dass ich sie guten Gewissens prägend nennen kann.
Auch kann ich sagen, was ganz sicher nie passiert wäre: Ich wäre nie in einen Fußballverein gegangen und hätte mich nie für Autos interessiert. Das weiß ich, weil mein Desinteresse daran schon damals ausgesprochen klar war.

Haarscharf am Leben in Kamen-Methler vorbei

Aber hätte ich nicht doch eine Lehre begonnen, weil ich „weg von zu Hause wollte“ oder weil sich eine tolle Gelegenheit bot? Und würde ich noch in der Nähe wohnen?
Mit dem Zug am Gleis stehend, fotografierte ich die Anzeigetafel im Zug, auf der Kamen-Methler stand. Ich fragte meine Mutter später, ob unsere Beinahe-Wohnung in der Nähe eines Gleises lag, doch sie entsprach meiner eigenen Erinnerung: Nein.

Wie kommt es aber, dass Kamen-Methler noch derart präsent sein kann? Weil es so unglaublich knapp gewesen war. Wir hatten bereits eine Wohnung dort. Sie war bereits tapeziert, die Tapete meines Zimmers hatte ich mir selbst ausgesucht. Ich hatte in dem tapezierten Zimmer gestanden und mich gefragt, wo meine Möbel stehen sollten. Das Einzige, was noch gefehlt hatte, war der eigentliche Umzug. Die Trennung meiner Mutter von ihrem damaligen Lebensgefährten kam buchstäblich in letzter Sekunde. Gedanklich hatte ich mich damals bereits ganz auf mein Leben in Kamen-Methler eingestellt.

Überall gibt es Geschichten

Ich bin neugierig, was ich über Methler finden mag, und erlebe einige Überraschungen: Methler hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Darin ist zu lesen: „Die erste urkundliche Erwähnung des Namens Methler geht auf eine Schenkungsurkunde vom 11. April 898 zurück“ – Donnerwetter. Und es geht noch weiter: „Die Bodenfunde in Westick, einem germanischen Handelsplatz mit hohem Anteil römischen Fundmaterials, weisen aber auf weitaus ältere Besiedelung im Bereich Methler hin.“ Im Hammer Museum kann man sich Funde ansehen. 2006 wurde im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft die spanische Mannschaft in Kamen-Methler untergebracht.

Überall gibt es Geschichten, meine eigene hat einen anderen Verlauf genommen. Meine Geschichte ging bis 1985 in Osnabrück weiter. Wen ich kennengelernt hätte, wessen Freund ich geworden wäre – und ob ich vielleicht sogar bis heute mit mindestens einer dieser Menschen befreundet wäre – wer weiß. Eines jedoch ist klar: Meine Geschichte wäre vollkommen anders verlaufen. Ich hätte andere Erfahrungen gemacht und gewisse Erfahrungen, die mich auszeichnen, dafür nicht. Ich wäre eine Version von mir geworden, die mit mir Heutigem nur die Anlagen gemeinsam hätte.

Kamen-Methler war und ist ein bedeutsamer Abzweig in meinem Leben. So vieles wäre anders geworden, als es jetzt ist. Sich damit zu befassen, ist inspirierend. Es erlaubt einen Blick auf Möglichkeiten und mein eigenes Leben.

Es ist erstaunlich: Während meines Zugstopps sah ich so gut wie nichts. Aber der Name an der Anzeigetafel und später auch auf den Schildern am Gleis öffneten eine Tür zu einer Vergangenheit, die 40 oder 41 Jahre zurückliegt. Das ging ganz schnell. Die Tür öffnete sich, und etwas sagte mir „Schau hin.“ Das Nachsinnen über damals, darüber, wie knapp das Ganze war, und welches Leben ich hätte führen können, dauern indes länger.

Was soll dieses Nachdenken über derart ungelegte Eier? Es zeigt die Mechanik des Erinnerns, denn wie schon erwähnt, war zuerst die Liste mit all den Dingen präsent, die mir erspart geblieben wären. Ist das nicht seltsam, und ist das nicht eine Art von Sehnsuchtsort, den sich nur der ersehnt, der mit dem eigenen Leben unzufrieden ist?

Tatsächlich nicht. Auch diese Erkenntnis gehört zum Nachdenken dazu, und ich bin froh, dass es mich zu ihr geführt hat. Als ich 1985 letztlich nach Hamm zog, war es schwer für mich. Mit 14 hatte ich einen festen Freundeskreis und wollte niemals aus Osnabrück weg und ganz sicher nicht jemals nach Hamm ziehen. Aber Hamm war gut zu mir. Natürlich war die erste Zeit dort schwer, aber schnell schlug ich Wurzeln dort – eine große Hilfe: Mein Schreiben. Es machte mich unabhängig, und genau das war es, was ich damals gebraucht habe. Die Freunde stellten sich ein, ich erlebte großartige Zeiten in Hamm, und nein, ich möchte es nicht missen. Tatsächlich habe ich dort Freunde gefunden, die es bis heute geblieben sind. Meine Geschichte ist auch so gut geworden, und auch wenn es Schwierigkeiten, Niederlagen oder Rückschläge gab, bin ich mit meiner Geschichte ganz zufrieden.

Aber über alternative Welt– und Lebensläufe nachzudenken, auch die eigenen, finde ich einfach interessant. Und warum sollte ich damit fertig sein? Wenn ich die damalige Geschichte schon nicht beginnen konnte, kann ich sie mir jetzt einfach ausmalen. Und dafür habe ich viele bunte Stifte.

Kalender und Zeitnöte

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Kalender zu führen ist ja so einfach. Immerhin hat jedes Smartphone die passende App gleich als Standard installiert. Dem heutigen Menschen ist offenbar in die technische DNS geprägt, als Basisdisziplin des Lebens alle Termine verfügbar und – wohl noch wichtiger – jederzeit eintragen und verschieben zu können.

Mir ist das zu beiläufig. Wie geschnappter Atem werden da Wochen zerhackt und Wochenenden verplant, einfach weil es so einfach eingetragen ist. Es ging nicht um Lust und Vergnügen an der Sache, sondern lediglich um den nächsten freien Termin; und mein Privatleben bestand fortan nicht mehr aus Verabredungen und Vorhaben, sondern nur noch aus Time Slots und Einträgen – und ich sah mich oft mit Dingen konfrontiert, die ich letztlich gar nicht wollte. Weil ich keine Zeit hatte, sie zu bedenken, bevor ich angesichts der Einfachheit des Eintragens meine Lebenszeit verschleuderte. 

Denn was in all den Kalenderapps immer fehlte, war das, was keine App mir geben kann: Die Zeit für mich – es sei denn, ich bin so wahnsinnig, und trage mir die entsprechend auch noch als Termin in einen freien Time Slot ein oder ergebe mich der Peinlichkeit, für die Beurteilung dessen, was wann gut für mich ist, eine App zu benötigen und damit wirklich jeden Rest der menschlichen Freiheit über mich selbst einem Progrämmchen anderer Leute anzuvertrauen.

Andere mögen sich die Frage nicht stellen, ob sie so leben wollen, und bitte sehr, dann eben nicht. Ich jedoch nehme mir diese Freiheit ganz ausdrücklich.

Und das hat Folgen.

Seit Langem schon weigere ich mich, Verabredungen als Termine in freie Time Slots einzutippen. Ich weigere mich, bei jeder Idee sofort das Gerät zu zücken und zu schauen, ob ich da Zeit habe. Stattdessen gewinne ich Zeit, sage nicht sofort zu sondern sage: „Ich muss nachschauen.“ 

Denn zu Hause liegt mein wirklicher Kalender, ein Buch mit Papierseiten, den ich mit Bleistift und Füller führe. 

Auf diese Weise nämlich gewinne ich notwendige Zeit, die ich brauche, um mir eine ganz besondere Frage zu stellen: „Will ich das überhaupt? Ist mir das in dieser Woche eigentlich recht?“ Der zeitliche Aufschub bewahrt mich vor der Leichtfertigkeit, die mich so häufig in Bedrängnis gebracht hat. Die Entschleunigung bringt mir Entscheidungsfreiheit zurück, die ich in der Hochgeschwindigkeit der technischen Machbarkeit und Allverfügbarkeit nicht wie gewünscht habe. Meine Verabredungen haben wieder mehr mit mir zu tun und meiner eigenen Geschwindigkeit. 

Hinzu kommt: Es ist eine Frage der Ästhetik. Auf einem Smartphone in was auch immer herumzutippen, hat nichts Ästhetisches. Im Gegenteil. Seit es die Geräte gibt, sehen wir alle aus wie Affen, die sich lausen. Statt von Haptik ist jetzt nur noch von Usability die Rede – dabei liegt zwischen Fühlbarkeit und Bedienbarkeit ein ganzes Universum. Auch dies ist etwas, das mir verloren ging, und das ich wiederfand. In der Hochgeschwindigkeit des Bedienens und Eben-schnell-mal-Machens fällt das nicht weiter auf und dürfte nicht vermisst werden.

Das ist legitim.

Ich jedoch mache es mir gerne und mit Freude in meinen Entscheidungen gemütlich. 

Vom verfluchten Sommer

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Nun, da endlich Sommer ist und mit Ende Mai tatsächlich noch zu früh, endet das Lamento, das seit April den Alltag prägte, dass nämlich immer noch kein Sommer sei. Die letzten Jahre brachten mit all der Hitze, Dürre, Sturm und Platzregen nur eine Apokalypse, nämlich dass die Welt stets untergeht, wenn gerade heute einmal kein Sommer ist. Das Hoffen, der Klimawandel könne bitte ausbleiben oder wenigstens kleiner ausfallen als befürchtet, hat angesichts des Hoffens aller auf noch mehr Hitze, möglichst schon von März, April an und bitte unterbrechungsfrei, keine Chance.

Da ist es nun Ende Mai und plötzlich 25 Grad warm, und alles jammert über all die vergangenen Tage, an denen es nicht auch schon so warm oder wärmer gewesen ist. Erstaunlich, das Ganze. Einhergehen wird der nun so plötzlich, heftig – und eigentlich immer noch zu früh – hereingebrochene Sommer statt dem Glück über seinen ersehnten Anfang mit zwei ganz anderes Dingen:  Dem Jammern darüber, dass es nicht 40 Grad ist, und dem Jammern bei jedem Tröpfchen, jedem Wölkchen, jedem Lüftchen, das ab abends bald die Hitze aus den Ecken wirbelt. Denn dann werden bei 25 Grad im Schatten fröstelnd Jacken angezogen, was soll denn das, wenn es abends irgendwann so kalt wird, und außerdem war heute auch mal kurz bewölkt, das ist doch kein Sommer sowas.

Nun also ist er da, der Sommer, begleitet von Weh und Ach, um dann im Herbst und Winter wieder zuverlässig betrauert zu werden, weil man von dem Sommer ja gar nichts Schönes hatte, und natürlich nicht genug.

Das war es also mit den Sommern, die man erwartet und ersehnt, genießt und sich an ihnen erfreut. Immerhin warten nun alle auf ihn, um wenigstens seine langen Tage dazu zu nutzen, sich zu beklagen und zu bemitleiden.

Ich vermisse diese Sommer.

Die Wut – Wenn sie zuschlägt, wann sie trifft

Heute sprechen wir häufig über DIE Wut. Als sei sie neu für uns und als hätte sie nur ein Gesicht. Wir sehen wütende Menschen im Fernsehen, die auf Demonstrationen aberwitzigesten Paroloen schreien. Wir sehen in den Nachrichten brennende Autos rund um die Welt, wenn es – auch in Europa – zu Entladungen von Wut kommt. Die mediale Aufbereitung beugt unsere Empfindung hin zu der zweifelhaften Erkenntnis, dass es solch eine Wut zuvor nicht gab, und dass „normale“ Menschen zu solch einer Wut doch eigentlich nicht fähig sein könnten.

Der Blick auf die Geschichte klärt natürlich schnell über den Irrtum auf. Wut gab es immer und ist etwas Universelles. 

Und wir sehen sie manchmal auch im Alltag. Wenn ganz plötzlich „die Wut“ in unser Leben kommt.

Meine eindrücklichste Erfahrung mit „der Wut“ hatte ich vor nunmehr über 20 Jahren ausgerechnet in einem Buchladen. Ich arbeitete dort während meines Studiums als Aushilfe an einer der Buchkassen, und mitten oder trotz des Vorweihnachtsgedränges war es zivilisiert. Mobiles Internet und Smartphones waren noch Science Fiction, und so standen die Menschen in Massen einfach in der Schlange und taten nichts anderes außer mehr oder weniger geduldig zu warten. 

Dass es dabei auch Ungeduldige oder Gereizte gab: Geschenkt.

Der Mann, der wütend werden sollte, war allein, und er mag Ende 30, Anfang 40 gewesen sein. Er trug eine Brille, ich kann mich an sein Gesicht zumindest noch einigermaßen erinnern – ein wenig wie Steve Jobs. Gepflegt, recht dünn, schmales Gesicht. Irgendwann stand dieser Mann vor mir, ich nahm die Bücher an, ein Kollege kassierte, zwei weitere packten sie für Weihnachten ein. Akkord.

Ich grüßte ihn wie ich jeden Kunden grüßte, dem ich die Bücher abnahm, gab Nummern Bon Bücher an den Kassierer weiter, wenn die Titel nicht scanbar waren. 

„Haben Sie ein Lineal?“, fragte der Mann mich da. 

Da mich viele Kundinnen und Kunden danach fragten, ob ihre Bücher denn in normale Umschläge zum Verschicken passen würden, glaubte ich auch bei diesem Kunden, was er wollte. 

Es war ein Fehler.

Ich antwortete ihm, dass die Bücher auf jeden Fall in einen B4-Umschlag passen würden, die seien um Einiges größer als A4-Umschläge, die gebe es auch wattiert, damit beim Versand nichts passiert.

Was dann geschah, weiß ich noch immer.

Der Mann schrie. Er schrie so laut er konnte. Und es war unglaublich laut. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich groß zu rühren, brüllte er ohrenbetäubend „ICH WILL EIN LINEAL! ICH HABE NACH EINEM LINEAL GEFRAGT! ICH WILL EIN LINEAL!“

Ich weiß nicht, ob die Leute um uns herum zusammenzuckten, denn es war mir derart peinlich, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Noch nie hatte mich ein Mensch derart laut angeschrien. Übrigens bis heute nicht. 

Nach einigen Schrecksekunden – in denen er übrigens unentwegt weiter schrie, dass er ein Lineal haben wolle – sah ich, wie geschockt meine Kollegen waren. Sie hatten aufgehört zu arbeiten, überhaupt starrte die gesamte überfüllte Etage sprachlos auf den Mann und mich.

Es sind diese Momente, die man selbst gern damit beschreibt, dass die Welt stillstand, und das ist natürlich Blödsinn, aber es zeigt, wie extrem so eine Störung des Alltäglichen ist.

Da steht ein Mann vor einer Kasse in einem Buchladen und schreit sich die Seele aus dem Leib, ein Lineal zu wollen.

Da er nicht aufhörte zu brüllen, suchte ich hektisch und vergeblich nach einem Lineal, stammelte ständig etwas wie „Ich schaue nach“ oder dergleichen, nur um dann, fast wie von den Schallwellen seines Geschreis angetrieben, die Treppe hinauf ins nächste Geschoss zu rennen, um dort atemlos nach einem Lineal zu fragen. Ich hörte ihn noch auf der Treppe und in der oberen Etage schreien, über das Vorweihnachtsgetöse eines großen, mehrstöckigen Buchladens hinweg.

Ich erhielt ein Lineal, rannte nach unten – nur um zu erfahren, dass der Mann schließlich einfach seiner Bücher bezahlt und mitgenommen habe. Einfach so, als wäre nichts gewesen.

Es gab noch Kundinnen und Kunden, die mir versicherten, es habe nicht an mir angelegen, und die mir zu verstehen gaben, wie geschockt sie selbst von diesem Wutausbruch waren.

Beruhigen konnte ich mich den ganzen Abend dennoch nicht. Was hatte den Mann dazu gebracht, so unmenschlich zu schreien? „Meine blöde Frage“, die mir manch einer vielleicht nun unterstellen möchte? Auf die er auch einfach mit einem „Darum geht es nicht“ oder „Ich will es einfach nur wissen“, hätte antworten können. Klar, er hätte vielleicht wissen wollen, ob die Bücher in sein Regal passen – wobei er sie erstens dennoch gekauft hätte und nachweisbar gekauft hat.

Das war „die Wut“, von der man so redet, als sei sie ein Tier oder ein Monstrum. Sie wird ein „Das da“, auf das man zeigen kann, das man benennen kann, ohne es zu verstehen. 

Dabei gibt es „die Wut“ so gar nicht – was immer in dem Mann vorgegangen sein mag, es waren seine Schaltungen, die ihn dazu bewogen haben, lauter zu brüllen als ein Kasernenkommandant.

Und was war los, als mir vor wenigen Wochen aus heiterem Himmel ein Mann schreiend hinterher trat, weil ich mir dem Fahrrad den Zebrastreifen kreuzte, den er soeben auf der anderen Straßenseite betreten hatte? Der mir meinen Fahrradkorb vom Gepäckträger trat, dass er meterweit durch die Gegend flog? Der mich „blödes Arschloch“ anbrüllte und der mir, wie mir ein Fußgänger erzählte, der alles mitbekam, extra einige Meter hinterhergelaufen war, um mich zu erwischen? „Blöde Sau!“, wurde ich angeschrien – weshalb? Ich hatte den Mann weder behindert noch bin ich ihm zu nahe gekommen? „Du mit deinem scheiß Fahrrad!“

Aha.

Ich ließ den Mann einfach ziehen, der nach seinem kurzen Ausbruch auf offener Straße wieder still wurde und wütend weiterging, als habe es die Episode nicht gegeben.

Das Erstaunliche an „der Wut“ ist, dass man sich, sobald sie einem unvermittelt entgegenschlägt, selbst die Frage stellt, was man diesen Menschen angetan haben mochte. Was man falsch gemacht hat. Wie man die Leute und ihre Wut provoziert hat. Und damit den Kern des Ganzen verfehlt, denn „die Wut“ braucht kein bestimmtes Gegenüber, das etwas triggert. Sie ist da und sucht ein Ventil. In besonderen Fällen wird sie übergriffig und nimmt sich einfach, was sie braucht.

Und das kann überall geschehen, in der beiläufigsten, friedlichsten Szene, im schönsten Moment im besten Lokal oder in einem unvermittelten Moment auf offener Straße. 

„Die Wut“ ist kein neues Phänomen, und selbst die Extreme der letzten Zeit hat es schon immer gegeben – neu sind die Kanäle, in denen sich derlei Taten rasend schnell verbreiten. Da tut sich eine Bühne für jene auf, die ihre Wut als öffentliche Heldentat ausleben wollen. Die nach Wegen suchen, aus ihrer Schwäche das Kapital des Beifalls und der Zustimmung zu schlagen. „Die Wut“ wird zu einer Ware, die für Öffentlichkeit und Selbstvergewisserung angeboten wird, und die sich Bahn bricht.

Was würde passieren, wenn der Mann aus dem Buchladen heute vor einer Kasse so außer Kontrolle geriete? Alle wären erschreckt, man würde sich angesichts der Lautstärke ducken, man käme sich automatisch ausgeliefert und schwach vor, obwohl man mit den anderen bei Weitem in der Überzahl ist.

Das ist das Fatale an „der Wut“. Sie macht sich ihre Plötzlichkeit ebenso zunutze wie die Überrumpelung der Massen, die sie auslöst. Das macht sie stark, obwohl sie es im Grunde gar nicht ist. Sie blüht auf dem Boden des Schrecks und der Sorge um den eigenen Ruf und die eigene Unversehrtheit. „Die Wut“ ist stark, weil man sie lässt. 

Die Wütenden selbst sind meistens schwach, sobald „die Wut“ sie verlässt. Ohne sie sind sie nicht wütend und damit nur irgendwelche Leute. Das macht sie verführerisch. 

Die Wut ist Gewalt. Es gibt sie zwar in Abstufungen, aber sie ist immer Gewalt. Sie zerstört das übliche Gefüge an geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, bricht mit allen Konventionen, überschreitet Grenzen – sie ist ein Gewaltakt und ist deshalb so mächtig. Sie wirkt wie Gewalt, ängstigt wie Gewalt, ist gnadenlos wie Gewalt. Es spielt keine Rolle, ob die Wut körperlich wird, denn in ihrem Wesen ist sie Gewalt. Und sie ist in vielen von uns, vielleicht sogar in den meisten von uns. Zahlreiche Einflüsse lassen sie ausbrechen wie ein wildes Tier: Überforderung, fehlende Anerkennung, soziale Ängste – es gibt vieles, das ihren Käfig öffnet.

Heute wäre die Szene Anlass für zahlreiche Handy-Videos – derlei Wut ist nun mediale Sensation. Es wäre schade für die Filmenden, wenn derlei Ausbrüche ein schnelles Ende nähmen. Zum Eingreifen hätten somit weitaus weniger Anwesende als früher ihre Hände frei.

Das ist gefährlich.

Daten-Hoheit

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Es ist ein besonderes Gefühl, sich einmal mit seinen diversen digitalen Accounts zu befassen und sich zu fragen: Welche Daten von mir und über mich liegen wo und wozu eigentlich herum? Da kommt es zu interessanten Überlegungen:

Wir kämen nie auf die Idee, in jedem stationären Ladengeschäft schon beim Betreten oder bei der Mitnahme eines Flyers eine Visitenkarte abzugeben, auf der zudem Zahlungsarten und Zutrittsdaten stehen, geschweige denn kommen wir auf die Idee, diese bereitwillig auch in der Innenstadt zu verteilen. Wir sagen niemandem, in welchem Laden ich schon vorher war und in welche ich gleich noch gehen will. Wir legen weder Ausdrucke von persönlichen Fotos auf Bartresen oder an Supermarktkassen, spielen keinem Berater in einem Bekleidungsgeschäft unser neuestes Urlaubsvideo vor und zeigen auch keinem Fremden, was auf der Party am Wochenende nach der dritten Runde alles so gelaufen ist. Und wer unsere Familie und Freunde sind, wissen die netten Leute in der Bäckerei auch nicht.

Geht ja niemanden etwas an.

Erst recht fiele uns nicht ein, all dies anzugeben, nur um dafür Werbung von unseren Favoriten in den Postkasten zu bekommen und es als Service anzusehen, dass wir dadurch wenigstens keine ungewollte Werbung mehr erhalten.

Da ist es doch verwunderlich, wie liederlich wir hinsichtlich unserer Daten-Hoheit sind, wenn es um digitale Dienste und Anbieter geht – offenbar ist es für uns leichter, Misstrauen gegenüber realen Personen zu empfinden, die uns mit ihren echten Augen ansehen und deren Reaktionen wir sofort sehen können; wie es auch leichter ist, einem realen Menschen gegenüber Scham zu empfinden angesichts der Dinge, die wir preisgeben. Die Menschen, die all das nichts angeht, sehen wir im Digitalen nicht, und die Unsichtbarkeit und Automatisierung vieler Prozesse machen es uns leicht zu glauben, niemandes Interesse zu erregen.

Die Sache ist nur: Darum geht es ja gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass ich die Hoheit über meine Daten und Dateien abgebe. Solange ich sie für mich aufbewahre, kann ich ermessen, was mit ihnen geschieht. Verteile ich sie jedoch auf anderen Diensten, gebe ich die Verantwortung über sie ab und verliere meine Hoheit über sie. Mir kommt es so vor, als sind wir uns dessen entweder gar nicht bewusst, weil wir aus Bequemlichkeit vertrauensselig sind, oder wir geben die Hoheit absichtlich ab, um damit die Sorge für ihren Verbleib auf andere abzuwälzen, die ich im Falle einer Panne verantwortlich machen kann – aus meiner Sicht erst recht ein Bequemlichkeitsargument. 

„Meins“ im Sinne von „gehören“ verwässert sich immer mehr zu „immer verfügbar“. Das ist jedoch ein Unterschied, der uns gar nicht mehr auffällt, weil hier der Nutzen an sich mit Eigentum gleichgesetzt wird – die eigentlichen Güter, um die es hier geht wie Daten, Dateien, Inhalte, erkennen wir gar nicht mehr als Eigentum, sondern nur noch die Bequemlichkeit, sie allseits nutzen zu können.

Das wäre in etwa so, als stellten wir unsere Besitztümer öffentlich in Schränke und Regale, damit wir bequem etwas herausholen können, ohne extra nach Hause zu fahren.

Das Problem ist meiner Ansicht nach, dass wir von Eigentum nur noch dann sprechen, wenn wir die Dinge konkret sehen und anfassen können. 

Mir ist das unheimlich. Dabei geht es mir überhaupt nicht um Missbrauch, Hacks, Spionage – sondern einfach nur darum, dass ich über Daten und Dateien von mir die Hoheit abgegeben habe: Fotos bei Flickr: Wozu? Es spielt keine Rolle, ob es dafür ohnehin „bessere Dienste“ gibt. Der springende Punkt ist, dass ich nicht mehr das alleinige Zugriffsrecht mehr habe. Wir sagen gern „Daten-Sicherung“ dazu. Wenn mal zu Hause etwas schief geht, sind sie einfach noch woanders, praktisch! Warum sollte ich meine Videos nicht bei YouTube bunkern, damit ich sie noch habe, wenn die Festplatte abraucht?

Das leugne ich nicht.

Nur: So viele abrauchende Festplatten kann die Welt gar nicht hervorbringen, wie wir uns einreden, das sei unser Grund. 

Ebenso Logindaten für welche Dienste auch immer: Natürlich kann man gewitzt genug sein und  fiktive Daten angeben – allerdings funktioniert das gerade dann nicht, wenn es um wirklich sensible Daten geht, wie z.B. Bankdaten, Adressen für Bestellungen und so weiter. 

Wir haben uns einfach angewöhnt, unseren Besitz gegen Verfügbarkeit einzutauschen. Der Preis dafür ist Vertrauen in Anbieter, Dienste und Services, die wir nur deshalb so nennen, damit wir uns einreden können, sie seien für uns da und sie stünden in unserer Pflicht. Wir reden uns ein, ihre Produkte zu nutzen, um die Tatsache ignorieren zu können, dass wir mit unseren Daten Produkte für sie sind. 

Wir wissen all das, und wir kommen trotzdem nicht auf die Idee, etwas dagegen zu unternehmen. Wir lassen uns von einfachen Logins verführen und wundern uns, dass dabei unsere Privatsphäre verletzt wird wie im Fall Facebook und Google Analytica. Wundern wir uns wirklich? Oder haben wir uns eher die ganze Zeit wider besseres Wissen einfach darauf verlassen, dass schon alles gut gehen wird, weil es so schön einfach für uns ist?

Wir argumentieren gern mit dem Begriff der Freiheit, unserer Freiheit – und meinen damit nichts weiter, als uneingeschränkt immer und überall auf alles Zugriff zu haben; die technische Verfügbarkeit ist Grund und Ursache, ist alles und alleinig das Erstrebenswerte, weil es technisch machbar ist. Es ist eine schöne, verführerische Illusion von Freiheit, die mit der Unfreiheit einhergeht, nicht mehr Herr über unsere Daten und Dateien zu sein.

Das kann man achselzuckend hinnehmen oder sich einschränken, denn auch das gehört zur individuellen Freiheit dazu: Sich zu entscheiden, manche Dinge einfach nicht mehr einfach deshalb zu tun, weil sie technisch möglich sind, sondern es zu unterlassen, um damit wieder unabhängiger zu werden und nicht dem Gefühl zu erliegen, mich ausgeliefert zu haben. Es ist eine Art von Datenhygiene, die ich in letzter Zeit sehr gerne betrieben habe. Zahlreiche Accounts habe ich stillgelegt, zahlreiche Dienste nutze ich nicht mehr. Es fühlt sich an, als habe ich die Liebsten nach Hause geholt. Und habe endlich wieder mehr Hoheit über meine Daten.

Mrs Dalloway

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Eine schöne Vorstellung: Mrs. Dalloway aus Virginia Woolfs gleichnamigem Roman kauft an einem Sommersamstag des Jahres 1925 ihre Blumen selbst. Es ist die Geschichte eines Weges durch London, friedvoll. Was wir als Leser nebenbei erfahren, ist ein Schlaglicht auf einen typischen Samstagmorgen in London der höheren Gesellschaft dieser Zeit.

Ein wenig kann es neidisch machen. Mrs. Dalloway geht einfach, kein Vergleich zu unseren heutigen Rasen, das häufig die Samstage so vieler Menschen bestimmt.

Eine Routine ist ein Halt im Treiben, eine Zäsur im Fremdbestimmten, die unser eigene Wille setzt. Zu Fuß losmarschieren, um Blumen zu kaufen: Das klingt nach wunderbaren Frieden, nach Schönheit und Ästhetik, nach Leben in vollen Zügen.

Überhaupt Blumen: Es sind ja nicht die wichtigen Besorgungen, die sich eher durch Freudloses Gemacht-werden-Müssen auszeichnen, sondern bewusste ohne Not, aus einer Laune und einem Hang zur Schönheit heraus. Beiwerke eines Lebens, das durch sie nicht bloß erledigt, sondern reicher wird.

Wie wäre es also mit solch einer Routine, die auf den ersten Blick nichts Wichtiges bedeutet, wohl aber das Leben erst zu dem lebenswerten Zustand macht, der genossen werden kann?
Eine Routine, so anders als das Abhaken auf einer Liste?

Der Zufall will es, dass es nicht weit von mir einen kleinen Blumenladen gibt, im besten Sinne. Nicht einer dieser Pflanzenschleudern, die massenweise Konfektionsware in Supermärkten verramscht, sondern einer jener schützenswerten Orte, in den es um Blumen geht und Blüten, deren Duft aus ihnen kommt statt von Chemikalien.
Statt eines Verkäufers steht dort eine Blumenhändlerin, abermals etwas Schützenswertes, an dem der Zahn der Zeit nagt wie an diesen Berufen und damit an den Zuständen, die sie entfachen.

Als Routine erst etabliert, erwartete mich künftig regelmäßig und gar notwendigerweise ein samstäglicher Abstecher in eine kleine, wundersame Welt, in der Funktion und Funktionieren Sendepause haben und die von jenen auch nie erklärt werden können.

Mrs. Dalloway mochte in ihrem Blumenkauf an einen Samstag ins London des Jahres 1925 keine Routine gemacht haben, aber das Inspirierende dieser Szene tauge als Inspiration und Vorschlag für das eigene Leben allemal.
Womit sogar ein Teil über Literatur gesagt wäre. Die Dinge legt, die lohnend sind, beachtet zu Werden.

Kürzlich verlor ich einen Eindruck

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Kürzlich verlor ich einen Eindruck. Ein Bild. Etwas, das festzuhalten gut gewesen wäre. Doch es ist verloren.

Etwas aber blieb: Ein Text, der sich aufdrängte, der entstand und der nun steht. Das ist schon was.

Das Bild, der Eindruck, das, was ich verlor, mag nun verewigt sein, in Text geronnen. Doch ist all das nur angereichert, nicht die Quelle, nicht der Grund. So ist der Ursprung fort, vergangen. Schade – es wäre leicht gewesen, festzuhalten, was ich sah: Ein Spinnennetz, gehalten von zwei Zweigen. Ein ganzer Kosmos, dachte ich. Begrenzt, doch unendlich für Bewohner, die es nicht besser wissen. Ein All und Alles, das nur als solches spürt, der all den Wald darum nicht kennt – sind das nicht wir im Universum? Was kennen wir schon, was wissen wir nur über den Zustand von alldem, das sonst noch existiert? Eigentlich sind wir Idioten.

Wir wissen nichts, wir kennen nichts. Wir glauben bloß. Und danken höchstens, dass unser Wissen uns etwas lehrt.

Ein Foto hätte es geben. Quelle und Geschöpf beisammen. Doch das Spinnennetz fand ich nicht wieder.

Wir

Im Gewebe von Raum und Zeit
hat alles seinen Platz

Das Universum zeigt nur
was als Ausschnitt taugt

So hängen wir zwischen den Zweigen
die uns halten an dem Ort, der uns bestimmt ist

In einem Wald, den wir nicht kennen und nicht sehen
während wir zu ahnen glauben

die Zweige bald erspähn zu können
Um uns lebt und fliegt und brummt es

Und wenn die Zeit zu gehn anbricht
fallen wir herab wie Spinnennetze

Wenn der Herbst gekommen ist

Die Lüge aller Sorrys

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Das tut mir aber leid/Wir entschuldigen uns/Kommt nicht wieder vor – Was aussieht wie ein sich verbreitender Hang zur Höflichkeit und Demut ist vielmehr Indikator für die Unsitte, sich zunächst zu viel erlaubt zu haben. Die Entschuldigung für Vergehen ist dabei kein Zeichen von Demut, sondern eine Reaktion auf den öffentlichen Druck, den man sich durch diese Geste offensiv zu nehmen versucht. Ein Ziehen aus einer Affäre, bei der man erwischt worden ist.
Das entwertet den wahren Wert einer Entschuldigung und damit eine sittliche Veranlagung, die selbstverständlich sein sollte. Auf den Stand eines bloßen Tricks degradiert, vergeht niciht nur das Tugendhafte in dem Akt der Entschuldigung, sondern auch das in dem sittlichen Verhalten, sich gar nicht erst entschuldigen zu müssen.
Das Fehlen von Scham und Unrechtsbewusstsein ist überall zu verorten und wird gerade öffentlich zur Normalität: In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Wer immer im Fernsehen rumpöbelt, entzieht sich schon dadurch meist der Verpflichtung zur Reue, weil zahlreiche Gleichgesinnte gern mit Begriffen wie „Spaßbremsen“ am Werk sind. Reue und Benehmen als Indikator von Langeweile.

Verantwortliche von Krisen machen weiter, als wäre nichts gewesen und suchen sich entweder neue, ähnlich gelagerte Wirkungsfelder, oder können einfach ihren Job fortführen.
Politiker lassen sich zunächst bitten und schließlich in die Ecke drängen, bevor sie Anstand walten lassen – nachdem sie durch ihr reuwürdiges Verhalten bereits allen Anstand haben vermissen lassen.
Unternehmen geben zu, Daten nicht zu löschen oder ungefragt zu sammeln und zu verwerten – kommt es heraus, entschuldigen sie sich und geloben Besserung.

Entschuldigungen also als Beweis von Sitte und Anstand?

Eher eine Notlösung inzwischen, die marktschreierisch dazu dienen soll, durch sie öffentlich Werbung für sich zu machen.

Ein Armutszeugnis dem, der so handelt.
Eine Blamage für den, der ihnen glaubt.
Eine Warnung an alle.

Dieser Text erschien bereits in meinem Blog www.gedankenzirkus.de im Jahr 2012.

Über Langeweile

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Wo sie herrscht, duldet sie keine anderen Götter neben sich. Die Langweile ist ein gefräßiges Monster. Und sie hat einen schlechten Ruf. Dabei trägt sie ihn oft zu Unrecht. Langweile, das ist die Abwesenheit von allem: Aktivität, Vorankommen, Fortschritt. Da mäandert auch nichts. Ihr zu entkommen, ist ein Lebensprinzip geworden, ein Lustprinzip mehr oder weniger. Langeweile zu haben ist so verpönt, weil sie uns in einer ständig aktiven Gesellschaft Nichtstun und Stillstand verordnet. Weil während ihres Regiments nichts stattfindet, fühlt man sich ihr schnell ausgeliefert. Zeit wird verschwendet – übrigens sehen das auch die Faulen so. Denn auch wenn sie so faul sind, dass sie überhaupt nichts tun wollen, so empfinden auch sie Lust dabei, ihre Zeit faul zu genießen.
Langeweile regiert diesen Genuss.
Smartphones sind die ultimativen Langeweile-Verhinderer.
Soll das gut sein?

Immerhin ist Langweile auch so etwas wie ein verordneter Sekundenschlaf. Oder ein Nickerchen. In dieser Inaktivität betritt man immerhin einen Raum, in dem man sich einfach treiben lasen kann, nichts tun muss, nichts leisten muss. Auch wenn das zunächst als Horror empfunden werden kann, sind es gerade diese Pausen, die uns dazu bringen, gedanklich auch mal Luft zu holen. Wenn der Geist atmen will, dann braucht er Schlaf, Entspannung oder Langweile. Denn Aktivität oder einfache Zerstreuung bringen uns im Grunde auch nicht weiter.

Langweile, das ist dieser Zustand, den wir fürchten, weil wir über uns selbst sagen, nichts mit uns anfangen zu können. Ein Vakuum ist das, in das wir stürzen, und wir haben keine Möglichkeit, das Vakuum zu verlassen. Es ist an uns, zu warten, bis der Zustand von allein oder von außen vorübergeht – ein Gefühl des Ausgeliefertseins, in dem wir nicht Herr über uns selbst sind.
In Zeiten allgegenwärtiger Kontrolle über unsere Welt und Umwelt und der Vermessung unserer Aktivitäten ist nichts schlimmer, als warten zu müssen, bis etwas einfach vorübergeht. Eine Zumutung ist das, und wenn wir ehrlich sind, auch ein wenig wie eine Frechheit, die das Leben sich mit uns erlaubt, uns einfach zum Nichtstun zu verdammen.

Was jedoch ist gegen Langweile einzuwenden? Als naturgegebenes Regulativ unserer Sinne und Gedanken, die sich setzen, legen, neu sortieren können?
Zugegeben, als Dauerzustand ist sie grässlich, zumal sie dann in der Tat zu einem Kerker wird, in den man uns gesperrt hat.

Der Trick mag einfach sein, der Langweile anders zu begegnen: Sie als Chance zu sehen, als Geschenk. Als Auszeit, die uns hilft, die Dinge und uns selbst einfach sein zu lassen, wie sie sind.
Ich jedenfalls mag sie durchaus inzwischen von Zeit zu Zeit.

Gleich nebenan wartet die bessere Welt

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Gleich nebenan ist sie: Die bessere Welt.
In der Milch und Honig fließen, in der alles besser ist, in der das glückliche Leben auf uns wartet – Physiker halten Paralleldimensionen für möglich, auch wenn hier der wissenschaftliche Beweis fehlt. Wenn er denn je kommt. Oder sich das Ganze nur als Hirngespinst herausstellt.
Paralleldimensionen, unendliche von ihnen heißt: Unsere Realität immer leicht abgewandelt. Man könnte hineintreten und auswählen, welche einem lieber ist. Eine Realität, in der es 9/11 nicht gab und damit den darauf eingeschlagenen Lauf der Weltgeschichte nicht. Eine Realität, in der wir einen beruflichen Weg nicht verlassen, sondern weiterverfolgt haben. Eine Realität, in der ein Mensch, den wir liebten, noch lebt. Eine, in der wir den Lottogewinn von etlichen Millionen doch abgestaubt haben. Eine, in der wir Mut hatten, Dinge zu tun und Schritte zu gehen, die wir in unserer Welt zu feige sind, anzugehen.
Das klingt zunächst verlockend.
Wenn da die Gier nicht wäre.

Denn glauben wir allen Ernstes, wir werden in der Parallelwelt glücklicher? Sicher, die Euphorie nach dem erfolgten Übertritt wäre immens! Geschafft, erreicht, gesiegt! Doch da sind ja die vielen kleinen Nadelstiche, die diese Realitäten für uns nach wie vor bereithalten. Schließlich wäre nicht automatisch alles korrigiert, was uns stören könnte. Und so begänne die Mäkelei dennoch, wenn nicht gar das pure Unglück. Plötzlich oder im Lauf der Zeit stellen wir fest, dass das Bett, in das wir gestiegen sind, voller Flöhe ist oder der Wunschpartner schnarcht, furzt, uns betrügt, ein Tyrann wird oder Invalide, der Job, wegen dem wir den Übertritt getan haben, endet durch eine Firmenpleite oder wir werden ausgeraubt oder das Haus brennt nieder und dann stehen wir da und rufen den Bauchladen herbei, der uns bitte die möglichen Alternativwelten reichen möge, auf dass wir erneut auswählen könnten.
Sorry, die Realität war nix, ein Fehler, kann ich die umtauschen? Habe ich nicht ein Recht auf Umtausch? Und überhaupt, was ist mit Kulanz? Das ist doch kein Service!

Gleich nebenan ist sie: Die bessere Welt.
Denken wir.
Und ja, der Gedanke an die zumindest hypothetisch möglichen Parallelwelten, -dimensionen oder -realitäten (welcher Begriff zu einem besser passt, möge jeder selbst entscheiden), ist verlockend. Ein Lügner, wer ein Inbetrachtziehen nicht wenigstens einmal in Betracht zieht.
Nur um dann herauszufinden:
Gleich nebenan, da ist sie: Eine Welt wie jede andere. Und irgendwie auch wie unsere jetzige. Andere Dinge sind anders, besser möglicherweise auch, nur der Rest der ist ja auch noch da. Wir werden schon Wege finden, unzufrieden zu sein.
Irgendwas ist schließlich immer.

Blind – oder: Mit anderen Augen als den Augen sehen

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Ich hatte einen Traum. Er war nicht schön. Ich verlor darin das Augenlicht, ich sah mich selbst mit geschlossenen Augen, dabei sind blinde Augen geöffnet. Ich sah nichts, orientierte mich nicht. Meine Hände waren nach vorn ausgestreckt. Wie ein Zombie tastete ich mich vor, langsam, unsicher, allem beraubt. Es war so grässlich, als sei mein Leben mit dem Ende des Augenlichts zu Ende. Oder, wieder bildhaft, als erlösche mein Leben mit dem Erlöschen des Augenlichts.
Wie ist das ohne Augenlicht? Die Welt, sie ist noch da, in all ihren Formen und Farben, aber sie verbirgt sich hinter Blindheit. Und man selbst? Alles vorbei? Ich schreckte auf. Panisch atmete ich in die Nacht hinein, in die Dunkelheit und war froh, mein Augenlicht zu haben. Es dauerte, bis ich mich wieder fing. Ich schaltete das Licht ein, blickte mich um – und war mir meiner gewiss. Als sei ich es nicht, sobald ich nichts mehr sehen könnte.
Bücher lesen? Vorbei. Filme sehen? Vorbei. Schreiben? Erledigt. Blind zu sein: Das ist ein Abschneiden von Orientierung. Dabei ist das gar nicht wahr. Wer nie sah, wird womöglich nichts vermissen.
Doch wie ist es, etwas zu verlieren? Das Augenlicht – ein schönes Wort, so wahr vor allem: Es wirft Licht in die Augen, es bringt Licht der Erkenntnis, Kenntnis der Orte, der Umgebung, der Menschen.

Aber ja, das Licht lügt ja auch. Wir sehen nichts in Infrarot, dabei ist es um uns herum. Was Insekten sehen, ist nicht weniger wahrhaftig und Teil der Welt als das, was wir mit unseren Augen sehen. Wer richtig sieht und wer nichts von beiden, ist nicht ermittelbar. Beide sehen die Welt, wie sie ist, wenn auch nur einen Ausschnitt. Was also ohne Augenlicht und ohne der Illusion der alleinigen Erkenntnis und Kenntnis? Verzweifelt wär ich. Stolperfallen, auch wenn Serien und Filme von blinden Superhelden sagen, dass man Augenlicht nicht braucht.

Blind. Als ich sehend in der Nacht um mich blickte, blieb mir fast das Herz stehen vor Schreck. Ich will nicht blind sein. Ich kann mir nicht vorstellen, mich umzugewöhnen. Der Verlust wäre so stark, dass ich ihm hinterher weinen, ja schreien würde. Seht, was ich verloren habe! Würde ich mich daran gewöhnen? Wie könnte und würde ich schreiben? Wäre es so schnell und einfach wie jetzt?
Eines wäre es jedenfalls nicht mehr: So beiläufig wie jetzt. So zwischendurch. Es wäre ein Akt der Erkenntnis, der Kenntnis, durch die größere Mühe hellsichtiger in Form und Art und Inhalt. 
So sähe ich die Welt. In gewisser Hinsicht auch wieder besser als zuvor.
Blind sein heißt also alles und nichts.

Wer bin ich?

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In Not und höchstem Übel kommt die Frage plötzlich: Wer bin ich? Was bin ich? Wenn die Frage kommt, weiß ich, dass ich vom Weg abgekommen bin. Dann wacht man auf und fragt sich, wie es nur geschehen konnte, dieses Abkommen vom Weg.
Als sei erst das Abkommen und Verlieren der Akt der Erkenntnis seiner selbst und seiner Wünsche. Und man fragt sich, ob man in letzter Zeit außer Besinnung und Kontrolle war und dann, wie und warum das hat geschehen können.
Immerhin: Kommt die Frage nach dem, wer und was man sei, ist damit ein Aufwachen verbunden, ein Erkennen eines Fehlers. 
Zugegeben, das macht keinen Spaß. Plötzlich im Morast zu stehen und in schmatzendem Schlamm nach Hilfe zu rufen, die ohnehin nicht kommt. Die Anstrengung, wieder zurück zum Weg zu kommen, ist eigene Aufgabe.
Es klingt schlecht, und in gewisser Hinsicht ist es das auch, aber hey, sehen wir es so: Solange die Frage und mit ihr das Erwachen kommt, erscheint der Weg auch wieder.
Heutzutage würde man das vielleicht lebenslanges Lernen nennen. Und dazu Kanäle basteln oder sie verfolgen, in denen es Tipps und Tools hagelt, damit umzugehen. Orientierungspunkte, Eckpfeiler, Meilensteine – Milestones nennt man das heute. Listen, die man macht und abarbeitet, weil das Entlanghangeln an Geländern welcher Art auch immer vor Sturz und Absturz bewahrt und beim Weg zurück zum Weg unterstützt.
Es ist gut, diese Stützen zu haben.
Doch letztlich ist es die Frage „Wer bin ich?“, die uns umtreibt und beschäftigt und damit letztlich alles bei uns selbst ablädt. Wo sonst sollte es auch hingehören, die Auseinandersetzung mit sich selbst, ohne auf Fremdbestimmung hereinzufallen?
Wer bin ich: Das bringt Ideen und Vorstellungen in den Geist zurück. Wer dabei stehen bleibt, träumt. Wer nun aber handelt, kommt weiter. Handeln kann übrigens auch aktives Unterlassen oder Loslassen heißen – soweit zu dem, was Tat und Aktion bedeuten. 
Wer bin ich: Das beantworte ich am besten selbst. Und gehe von hier aus auch weiter. Aus eigener Kraft. Und in gewisser Weise auch allein. Somit ist der Weg zurück zum Weg der Weg zu einem selbst, zu diesem untrennbaren Kern. Und hier lauern Überraschungen. Kompromisse und Flausen, die man sich als alleingültige Wahrheit und Möglichkeit des eigenen Lebens antrainiert hat, nur um dann festzustellen, dass man geirrt hart.
Aber so ist das mit Kompromissen, die man immer machen muss und machen sollte. Alles andere wäre rücksichtslos, und von den Ichlingen, die alles für sich verlangen und nichts erkennen wollen außer ihrer eigenen Großartigkeit, von diesen Typen haben wir genug.
Gehört eben auch etwas Charakter und Kenntnis dazu, zu unterscheiden zwischen Charakter und Einbildung.
Das öffnet den Kompromissen ihr Schlachtfeld. Sie treiben in Abhängigkeit, Illusion, in Routinen und Abläufe, heutzutage gern als „Workflow“ geschönt, einer dieser englischen Begriffe, die deshalb so glatt durchgehen, weil sie keinen Trigger im Kopf setzen, weil sie nichts auslösen.
Die neoliberale Welt braucht diese englischen Begriffe. Worte ohne Klang, ohne Bedeutung und ohne Wert – sind sie in der Welt, kann man sie füllen und damit kontrollieren. Damit macht man uns zu Zombies. Wie praktisch, weil wir es nicht merken. Immerhin ist dies der Lauf der Welt und der Dinge, oder?
Aber dann stehen wir irgendwann plötzlich doch da und fragen uns auf einmal: Wer bin ich? Und können, obwohl es so negativ klingt, doch froh darüber sein. Dass wir es gemerkt haben. Und aufgewacht sind.
Fragen wir uns also ruhig: Wer bin ich?

Fugen oder: 30 Jahre meines Lebens

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Viel steckt in diesen Fugen. 30 Jahre meines Lebens haben sie gesehen, und man sieht es ihnen an. In ihnen steckte viel, über sie ging ich längst, als ich noch jugendlich war und voller Ideen und Träume. Außer den Fugen ist nichts davon geblieben. Wir sind gemeinsam alt geworden. Wer hätte das gedacht, als ich sie zum ersten Mal sah.

Hineingelugt hab ich in das Badezimmer ohne Licht, noch unbezogen von uns, von mir und unseren Leben. Da war es neu, unbenutzt, und ich war ihm herzlich egal wie es mir. Ich wusste nur: Ich wollte hier nicht hin. Nicht in dieses Haus, nicht in diese Stadt. Ich ließ mein Leben hinter mir, weil ich es musste.
Da waren die Fliesen und die Fugen noch neu.

Heute blicke ich sie an, mehr noch als die Fliesen, weil sie Sollbruchstellen sind und Verbindungen, und weil sie die Patina des Alters annehmen und der Jahre, die über uns hinweg gegangen sind inzwischen.

Ich habe mit all dem hier nichts mehr zu tun, und obwohl ich an mich an vieles erinnere, an das Gefühl damals, an das ein Damals, das Leben, die Träume, die Illusionen, die Freunde und der Hund, die allesamt darüber geschritten sind, sind sie hier vollends fortgewischt. Keine Hautschuppe von mir findet sich mehr hier, ich habe mich zu sehr gehäutet in der Zwischenzeit, bin ein anderer geworden.

Dieses Bad jedoch ist immer noch gleich. Die gleichen Fliesen, der gleiche Farbton. Früher war das zeitgemäß, heute wirkt es alt. Und die Fugen: Schmutzig wirkend, ohne schmutzig zu sein, streben sie einklemmt zwischen Fliesen den Wänden und Begrenzungen entgegen, seit 30 Jahren schon. So banal und doch auch nicht.

Ich schaue sie an, sie sind mein Leben irgendwie, oder zeigen sie wenigstens die Zeit, die hier vegangen ist. 30 Jahre. Alt werden will ich nicht, und nein, alt werden, das werde ich auch nicht, nicht alt in dem Sinne, in dem ich aufwuchs damals, alt zu sein.

Alt und Alter hat eine andere Bedeutung bekommen. Es hat einen Klang, den nur die Alten sprechen können. Alter spielt keine Rolle mehr, nicht so wie damals. Vor 30 Jahren, als ich die Fugen, damals unberührt, das erste Mal berührte, hatte ich vom Alter keine Vorstellung. Auch nicht von einem neuen Jahrtausend, das lag 15 Jahre noch entfernt, das Doppelte meines damaligen Lebens. Jahrtausendwende? Lag weit entfernt. Mein späteres Leben? Undenkbar. Mein damaliges als jetziges damals war genug.

Ich sehe nun auf diese Fugen und frage mich, was die Fugen meines Lebens sind, ob sie Brüche bekamen, ihre Farbe verändert haben, sich abgenutzt haben in letzter Zeit. So beharrlich, wie sie hier im Bad liegen zwischen den ewigen Fliesen, sind die Dinge meines Lebens nicht. Hier gab es immer wieder Renovierung, Ausbau, Umbau, mehr als nur ein Anstrich.

So ist dies hier ein Relikt, dieses Bad mit diesen Fliesen, ebenso wie diese Fugen. Meine sind Dehnfugen, zwischendurch erneuert und ausgewechselt, weil sich alles so geändert hat. Ich schaue es mir an und denke mir gut so. Dass es so war, wie es war. Und dass es nun vorbei ist und ist, wie es nun ist.