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Meine SF-Story „Bleib bei mir“ komplett bei Spektrum der Wissenschaft online lesbar

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Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.

Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar. 

Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein. 

In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer  also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.

Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen. 

 

Meine SF-Story "Bleib bei mir" in der Zeitschrift "Spektrum der Wissenschaft" 4/2020

Alles begann auf einem Rudergerät im Fitnessstudio, als mir die Idee zu dieser SF-Story kam. Den Auslöser werde ich hier nicht nennen, weil das ein Hinweis gäbe, um was es in der Geschichte geht.

Fakt ist jedenfalls, dass ich den Sport unterbrach, um mich sofort an die Arbeit zu machen.

Das Resultat ist jetzt deutschlandweit im Zeitschriftenhandel zu haben – ich freue mich sehr, dass Bleib bei mir in der Ausgabe 04/2020 des Wissenschaftsmagazins Spektrum der Wissenschaft in der Rubrik »Futur III« erschienen ist.  Die Ausgabe ist auch dauerhaft als PDF-Download verfügbar.
Bleib bei mir ist damit die erste meiner Geschichten mit einem derart großen potenziellen Publikum.
Ich hoffe sehr, sie gefällt. Viel Spaß beim Lesen. 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 8: Jessica bei der Wahrsagerin komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 7 lesen

Die Rufe ihrer Mutter ignorierend, steuerte Jessica auf Tiratas Haus zu, das sich vom Dorf begrenzte. Dieser ruhige Stein inmitten von Bäumen und Büschen, um den nichts anderes brandete als ein zur Zeit stiller grüner Ozean aus wildem Gras, Feldblumen und -früchten, Koppeln und Weiden strahlte Erhabenheit aus. Die Bäume, die das Haus umgaben, erschienen wie Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, und die Zeit wollte um das Haus herum stillstehen; alles Menschenerdenkliche und auch das, was man nicht erdenken konnte oder wagte, schien hier möglich zu werden – und Jessica hatte Angst. Sie wollte endlich erfahren, ob sie von den Dingen wissen durfte oder nicht. Sie hatte keine Angst davor, von Tirata ausgelacht zu werden, denn schon allein der Gedanke, Tirata zu fragen, auf sie zuzugehen und freiwillig mit ihr Worte zu wechseln, würde sie im Dorf wie eine kleine Gottheit erscheinen lassen, denn sie hätte so viel mehr gewagt als alle Männer des Dorfes der letzten Generationen zusammengenommen – vielmehr hatte sie Angst vor dem, was geschehen würde, wenn Tirata sie ernst nähme.
Die Grasähren, die Jessica auf ihrem Weg zu Tiratas Haus passierte, standen still und aufrecht wie eine Ehrengarde. 
Entschlossen blickte sie zu den Bäumen hinauf, diese schmalen, mächtigen Bäume, gegen die sie wie aus dem Zwergenland zu kommen schien.
Schließlich stand sie vor der Tür und konnte sich rühmen, erneut Schritte unternommen zu haben, die niemand sonst freiwillig unternahm. 
Das Haus wollte nicht zu einem gefährlichen Insekt werden, dessen Beine man so lange nicht sah, bis man nah genug herangekommen war, als es aufsprang und angriff. Es war ein seltsames Haus, ja, aber kein gefährliches.
Jessica klopfte an.
Keine Reaktion.
Sie klopfte nochmals, diesmal so laut, dass Tirata es selbst dann hätte hören müssen, wenn sie geschlafen hätte.
Es vergingen Sekunden vollkommener Stille.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Jessica stand vor Tirata, vor der jeder im Dorfe zitterte und schlechte Träume bekam, wenn man den Namen abends im Dunkeln vorm Zubettgehen nur erwähnte. Sie stand nun vor Jessica und sah sie an mit grünen Augen, die längst nicht so alt erschienen wie alles andere an ihr, von Krähenfüßen umrahmt, die sich durch gebräunte Haut zogen. Tirata hatte die Haare gekämmt und trug ein Kleid aus feinem Stoff, wie ihn niemand im Dorf trug – traumhaft und mit vielen bequemen Falten. Tirata besaß eine große Nase und ein recht spitzes Kinn, aber sie war unweigerlich eine ganz normale Frau, wenn man gewillt war, sie richtig anzusehen.
»Kind, was tust du denn hier?«, fragte Tirata erstaunt.
»Ich wollte dich besuchen.«
Tirata sah sie aus großen verblüfften Augen an. »Du bist gekommen, um mich zu besuchen?«
»Ja, bin ich.«
»Wie kommst du dazu, Kind?«
»Ich habe gedacht, es wäre mal ganz lustig, zu dir zu kommen.«
»Lustig?!« Tiratas Stimme war noch immer erstaunt und hoch. »Lustig bei mir? Hier gibt es keine kleinen Kinder, mein Kind. Es wird hier für dich wohl langweiliger sein als für mich, fürchte ich.«
Jessica schluckte, denn sie ahnte, eine Chance zu vertun, wenn sie jetzt nicht entschlossen genug war, doch bekam sie es nicht einfach über die Lippen. «Ich dachte … ich meinte, dass es vielleicht … dass du …«, druckste sie.
»Du kannst im Dorf mit deinen Freundinnen sicherlich besser spielen als hier«, meinte Tirata freundlich.
»Ja, aber die wissen nichts von den ganzen Geheimnissen. Du aber. Ich will, dass du mir darüber erzählst.«
Für einige Zeit herrschte Schweigen. Dann: »Ich soll dir etwas über die Geheimnisse erzählen?«
Jessica nickte nur. 
»Du bist wissbegierig, kleines Mädchen?«
»So klein bin ich auch nicht mehr. Ich bin elf. Und ich habe keine Angst vor dir wie Pepe und alle anderen.«
Tirata grinste. »Ja, dein Pepe hatte ziemliche Angst vor mir, als hätte ich ihn hätte kochen wollen. Glaubst du, ich würde ihn kochen wollen?«
Jessica schüttelte den Kopf.
Tirata lächelte. »Bewundernswert. Jeder andere hätte das sofort geglaubt. Da bist du den anderen im Dorf um einiges voraus. Wie kommt das bloß?«
»Ich bin neugierig, das ist alles.«
Tirata sah in die Landschaft und schüttelte den Kopf. »Nicht zu glauben. Wirklich nicht zu glauben. Da kommt ein kleines Mädchen zu mir, um mich zu besuchen, damit ich ihr etwas von den Geheimnissen erzähle.« Sie sah Jessica an. »Es reicht dir wohl nicht, was ich denen im Dorf erzähle, wie?«
»Das sind die Geheimnisse, die du erzählst. Aber ich will mehr darüber wissen, damit sie eben keine Geheimnisse mehr für mich sind. Für dich sind sie ja auch keine mehr.«
»Das ist wohl wahr. Komm rein, wenn du dich traust.« Tirata öffnete die Tür weiter und lud Jessica ein, und diese trat ohne zu zögern in das Haus. Nach wie vor sah sie sich neugierig um und fragte sich, was sich wohl hinter dem wallenden Stoff verbarg, und warum Tirata eine größere Kochstelle als alle besaß.
»Das ist sehr mutig von dir, Jessica, hierher zu kommen. Hattest du denn gar keine Angst?«
»Nein, wovor auch?!«
»Vor meinem Wissen, vielleicht.«
»Deswegen bin ich doch hier. Wer fürchtet sich schon vor Wissen?«
Tirata sah sie geheimnisvoll an. »Weißt du, Kind«, begann sie, und ihr Gesicht wurde ein wenig wehleidig, »das Einzige, was die Leute an mir fürchten, ist mein Wissen. Das macht mich zur Dorfhexe. Nur, weil ich mehr weiß als sie.«
»Sind denn Hexen böse?«
»Wer sagt, dass ich wirklich eine bin? Und wenn ich eine wäre, warum sollte ich böse sein?«
»Weil du so weit weg wohnst. Weil du nie zu uns kommst. Weil du nicht so bist wie die anderen.«
»Man ließe mich auch nicht. Stell‘ dir vor, ich säße mich zu euch ans Abendfeuer. Ihr hättet doch alle Angst, den Mund aufzumachen, oder?«
Das leuchtete Jessica ein, während sie sich umsah. »Es ist hier nicht so heiß wie in unserem Haus.«
Tirata setzte sich. »Tja, Kind, im Dorf hieße es, da wären wieder Mächte am Werk, die niemand versteht. Dabei liegt es nur daran, dass mein Haus den ganzen Tag über im Schatten steht. Im Dorf wäre das wieder eine Geschichte über kühlende Bäume.«
»Gibt es denn kühlende Bäume?«
Tirata lachte und warf den Kopf ein wenig in den Nacken. Jessica hatte sie nie so freundlich und normal erlebt. »Nein«, antwortete ihr die Wahrsagerin, »nein, es gibt keine kühlenden Bäume.« Sie schwieg eine Weile, und Jessica endete mit der neugierigen Inspizierung des Hauses und sah sie an. Schließlich sagte Tirata weiter: »So wie es Vieles nicht gibt, von dem ihr meint, es würde existieren.«
Jessica verstand nicht, was ihr damit gesagt worden war und meinte: »Es gibt ja wirklich viel. Seht viel.«
»O ja, sehr viel. Und Vieles wisst ihr nicht. Ihr wisst weder, wer ihr seid, noch, woher ihr kommt. Und wohin ihr gehen werdet, wisst ihr auch nicht.«
»Doch, der Himmel hat geweint, und jetzt wollen alle in die Corrin-Höhle.«
Tirata sah erstaunt auf. »Sie wollen in die Corrin-Höhle?«
»Vielleicht. Sie trauen sich nicht, aber sie haben ein Zeichen bekommen. In Morkus‘ Buch war ein Bild von einem Mann, der aus einer Höhle kam, und er meinte, wir sollten in die Höhle gehen, um den Mann zu treffen. Und als sie sich nicht trauten, hat der Himmel geweint.«
»Ich habe ihn weinen sehen«, sagte Tirata nachdenklich. »Es werden andere Zeiten anbrechen, die jenseits dieses Lebens liegen. Zeiten, die alles so verändern werden, dass nichts mehr so sein wird wie sonst.«
»Woher weißt du das?«
»Kind, du bist klug, klüger als die anderen, aber du musst lernen, diesen Verstand richtig zu benutzen.«
»Darf ich mehr wissen als die anderen? Darf ich dich Dinge fragen, auf die du antwortest? Darf ich öfter kommen?«
»Es wird dir schwerfallen, mit dem umzugehen, was du erfahren wirst. Und es wird dir auch schwerfallen, damit umzugehen, wie dich dann die anderen behandeln werden. Und ich bin nicht einmal überzeugt, dass du alles begreifst, was du hier erfährst.«
»Aber wenn du es mir erklärst …«
»Es gibt aber so viel zu erklären.«
»Andere gehen auf die Felder, du nicht. Du hast Zeit, alles zu erklären.«
»Ach, woher willst du das wissen?«
Jessica sah zu Boden und ihre Chance vertan. »Ich habe es mir gedacht.«
»Das erste Prinzip ist: denke gemäßigt. Nur durch Erkenntnisse, die sich durch Zufall ergeben, kannst du auf die Bahnen gelenkt werden, die es überhaupt erst nützlich erscheinen lassen, zu denken. Dann kannst du diesen Zufällen auf den Grund zu gehen versuchen. Das hast du nicht getan. Dadurch hättest du dir aber den Stand der Erfahrung erarbeitet, die dich vorausschauend werden lässt. Du hast hingegen behauptet. Und durch Behauptungen denkt man nicht, man wird starrsinnig und ruht sich auf seinem angeblichen Recht aus. Und gerade Starrsinnigkeit ist das, was das Dorf seit jeher durchzieht wie eine Krankheit.«
Jessica sah in ihrem Geist alles zerfallen. Sie sagte nichts und blieb gedemütigt auf dem Stuhl sitzen. 
»Du bist gerade erst elf Jahre alt«, meinte Tirata leicht vorwurfsvoll. »Meinst du, fähig zu sein, als Hexe leben zu müssen? Von deinen Freunden Abschied nehmen zu müssen? Wenn niemand im Dorf mit Wissen umgehen kann, warum soll es dann ein elfjähriges Mädchen tun können?«
Jessica schwieg.
»Antworte schon! Ich kann deine Gedanken nicht lesen! Meinst du, du könntest das, was ich gerade sagte? Und wenn ja, was bewegt dich dazu, all dies in Kauf zu nehmen? Sag es mir!«
Plötzlich spürte Jessica eine Unterlegenheit, wie sie schmerzlicher nicht zu empfinden war. Sie musste nun doch Angst zu haben vor dem, was diese Frau repräsentierte, vor dem alle zitterten. Nun war Tirata böse. Böse und fordernd. Zwar zitterte Jessica nicht vor Angst, aber ihre Begeisterung war gewichen.
»Du wirst noch viel mehr Angst haben, wenn du mehr wissen willst. Die Menschen fürchten nämlich nichts mehr als das Wissen, weil es auch Erkenntnisse über sich selbst bringt, das sie zwingen könnte, alteingesessene Überzeugungen umzuwerfen, die ihnen lieb und zur Gewohnheit geworden sind. Neugier ist kein Beweis dafür, wirklich Wissen zu erlangen. Wissen bekommt man durch innere Überzeugung, mit diesem Wissen aus Interesse und Weitsicht wirklich Gutes und Neues tun zu können und zu wollen. Und nicht durch Neugier, die einen nötigt, alle anderen wegzuschieben, damit man etwas sieht. Wissen ist mehr als nur Lust auf Neues. Neugier ist mit einem einzigen Blick schon zu befriedigen, und oh, wie schön und wie herrlich das doch ist! Ohne diese Neugier kann man auch kein neues Wissen erlangen. Aber wo Neugier aufhört, fängt die innere Einstellung zum wirklichen Verstehenwollen und Anwendenwollen erst an, und erst das ist der Weg zu echtem Wissen. Wenn du etwas Neues siehst, und willst aufgrund dessen, wie du siehst, noch viel, viel mehr darüber erfahren, dann ist das Wissensdrang, doch Vorsicht – wenn du ein totes, zerfetztes Tier siehst und wissen willst, warum es zerfetzt ist, ist das noch reine Neugier, weil du nach dem Grund, aber nicht nach der Ursache suchst, warum das, was das Tier zerfetzt hat, es zerfetzt hast. Du würdest erst nur wissen wollen, was es ist und wie es aussieht; und das ist kein Wissensdrang. Und der Fehler ist, die zum Verstehen notwendige Neugier nicht zum Hinterfragen, nicht zum Wissenwollen und das Wissende Verwendenwollen auszubauen. Man bleibt auf der Stufe der Neugier stecken, und das ist ein Fehler, den die Menschen im Dorf begehen. Aber das verstehst du sicherlich nicht. Kannst du auch nicht, das kommt erst mit der Zeit.«
Jessica hatte zugehört, doch der Ton der Wahrsagerin war ausschlaggebend für sie gewesen – hart und herrisch, einer, der nicht mehr so wohlgesinnt geklungen hatte wie anfangs noch. Vielleicht also war das Wissen nicht für sie bestimmt, denn es schien laut Tirata, und das hatte sie zumindest noch verstanden, eine schwierige Sache zu sein. Es war weder einfach zu erlangen, noch war es einfach, damit zu leben, wie sie sagte. Nur warum war es so?
»Warum schweigst du, Kind?«, fragte Tirata. »Du brauchst dich nicht abgewiesen zu fühlen, Jessica. Aber ich muss dich warnen. Es ist viel Wissen, und der Weg ist hart.«
Vor Jessicas Augen erschien sie selbst, wie sie übermäßig große Eimer in einem Holzbalken über ihren Schultern trug, je ein Eimer auf jeder Seite. Und hinter ihr stand Tirata, die in die Eimer mehr und mehr Wasser goss, so dass Jessica einmal nach links kippte und dann nach rechts. Jessica spürte die Tonnenlasten, und Tirata ließ sie in ihrer Vorstellung damit so lange Strecken gehen, bis Jessica die Eimer fallenließ, so dass das Wasser in den Boden einzog und sie sich daneben setzte und ihr Gesicht weinend in den Händen vergrub.
»Du hast die harte Prüfung nicht bestanden, Kind«, sagte Tirata lachend und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Dorf und sagte abfällig zu ihr. »Geh zurück ins Dorf, wenn du nicht geächtet bist, und komme nie wieder hierher. Du bist nicht würdig.«
»Träumst du?« fragte die wirkliche Tirata.
Jessica schüttelte langsam und gekränkt den Kopf.
»Was tust du dann?«
»Ich überlege.«
»Was überlegst du?«
»Ob es richtig war, hierherzukommen.«
»O ja, das fragt man sich immer, ob es richtig war, wenn man als Prophet zum Berge kommt, nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Hör zu, Kind. Du bist ein kluges Mädchen. Komm morgen wieder, wenn du dann immer noch der Meinung bist, wissen zu wollen. Dann werde ich dich einweisen.«
Jessica nickte nur und stand auf, den Blick zu Boden gerichtet und verließ das Haus, um das die kühlenden Bäume standen und dem Wind als Stimmbänder dienten.

Ende des 8. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 9: Am Feuer

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 3: Bei Tirata komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 2 lesen

Jessica war gespannt auf das, was kommen sollte.
Nicht, dass es das große Ereignis war, das immer näher rückte. Das Feldfrucht-Fest war ein Fest zu Ehren dessen, das den Menschen des Dorfes die Dinge gab, die sie benötigten. Das waren Lebensmittel, Holz zum Bauen, Nutztiere, die Gunst des Wetters, auf dass die Früchte der Felder und Bäume und Sträucher gut und erntereich gediehen. Die Menschen hatten keine Vorstellung von dem, was Gott war oder sein sollte. Sie beteten die Natur an und ihre Dinge. Sie zu erfassen, überstieg die Denkweise der Menschen des Dorfes, wäre da nicht immer eine Frau gewesen, die von sich behauptete, Wahrsagerin zu sein, eine Weise, eine Allwissende fast, die die Sterne zu deuten verstand und die in der Lage war, längst Vergangenes und gerade Geschehenes zu einer Zukunftsdeutung zu verbinden. Somit besaß Tirata, die Wahrsagerin, einen hohen Stellenwert im Dorf.
Sie war weise und gefürchtet. Jeder achtete sie in einer Art und Weise, die vergötternder Furcht gleichkam. Man erzählte sich, dass Tirata einem anderen Geschlecht abstammte, das es im Dorf sonst nicht gab. Einmal im Leben einer Wahrsagerin wurde ein junger Mann aus dem Dorf ausgewählt, um mit ihr ein Kind zu zeugen, und, so wundersam es auch erschien, es waren immer Töchter. Kam es zu einer Totgeburt, wurde ein neuer Mann auserkoren, bis eine Tochter das Licht der Welt erblickte. Aus diesen Mädchen erwuchs stets eine neue Wahrsagerin, die die Anlagen von etwas Nichtirdischem innehatte, Markenzeichen sowohl innerer, als auch äußerer Art, die sie von dem normal Menschlichen abhob. 
Sie als Zukunftsdeuterin und Wunderheilerin, die das ganze Dorf beeinflusste und auf gewisse Weise leitete, nicht darin, sondern weitab davon einsam wohnte, hatte jedem Ereignis wie Geburt, Tod, Heirat oder großen Festen mit ein paar Worten das entsprechende Quantum Heiligkeit zu verleihen. Wenn sie sprach, schwiegen gar die Vögel, und was sie sprach, ließ keinen Zweifel offen: Sie wusste als Einzige über das Rätselhafte, das in allem steckte, Bescheid.
So sollte sie auch nun ein paar Worte sprechen, um das Feldfrucht-Fest zu segnen und seine Bestimmung deutlich zu machen. Zu diesem Zweck war es diesmal Lorn, Tirata im Namen des Dorfs zu bitten, das Dorf zu besuchen. Jessica hatte mitgehen wollen, obgleich sie sich vor Tirata fürchtete. Es war der merkwürdige Zug des Menschen, an dem Schrecklichen das Schöne zu finden.
Jessica sah Tirata nicht oft. Bei jedem Fest tauchte sie auf und hielt sich vielleicht eine Stunde bei der Dorfbevölkerung auf, bevor sie sich entschuldigte. Einmal hatte Jessica einer Geburt beiwohnen dürfen, bei der sie auch Tirata gesehen hatte. Und bei einer Beerdigung hatte sie sie einmal gesehen – und öfter hatte sie sie niemals zu Gesicht bekommen.
All die anderen Gesichter des Dorfes sah man jeden Tag gleich mehrere Male, und wenn nicht, dann war das am Rande des Merkwürdigen.
Tirata hingegen war eine Sensation. Manchmal sah man sie aus der Ferne, wenn die in Richtung Corrin-Höhle ging, um dort für einige Stunden zu verschwinden. Niemand sonst traute sich in die Corrin-Höhle, und nach dem, was Tirata erzählte, würde dies niemand außer ihr tun. »Die Geister der Vergangenheit sprechen in dieser Höhle«, meinte sie einmal. 
Niemand stellte das in Frage, und niemand dachte daran, das nachzuprüfen. Wer es wagte, wurde verrückt, oder kehrte niemals wieder – von solchen Fällen berichtete man.
Tiratas Haus lag etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes inmitten einer weiten Weide, und es wurde von den Wellen des grünen Ozeans umspült. Im Sommer flog die Gischt der Samen an die Wände, und einige Bäume um das Haus ließen den Wind zu einer hörbaren Stimme werden.
Es war still und heiß, als Lorn mit Jessica in Richtung Tiratas Haus ging. Sie hatte ihre kleine Hand in die große, schweißnasse Hand ihres Vaters geschoben, die sie festhielt. Der Wind rauschte durch das hohe, dichte, saftige Gras, und der Himmel war azurblau, von tiefster Schönheit, und einige Vögel jagten über ihn hinweg. Zu ihrer Linken türmte sich das Gebirge auf, mit dem tiefen Schlund der bösen Corrin-Höhle irgendwo im Gestein. Niemand sagte ein Wort. Sie hörten ihre raschelnden Schritte, sie hörten die Vögel, ansonsten hörten sie nichts. Sie sahen sich nicht zum Dorf um, wo es geschäftig zuging, und wo jeder, mit Ausnahme von Alba, der Frau vom Schmied, die über eine böse Magenverstimmung klagte, auf den Beinen war. Sie hatten alles hinter sich gelassen und schauten nur nach vorn auf das Haus von Tirata, dieser Hütte umgeben von Bäumen und Grün, dessen Dachholz allmählich brüchig wurde, und durch das es durchregnen musste. 
Wer einmal in das Haus kam, war bald ebenso eine Sensation wie alles, was auch nur weit entfernt mit dieser Frau zu tun hatte. Lorn hatte diesmal die Ehre bekommen, wobei Ehre nur dazu missbraucht wurde, den Menschen des Dorfs nur einmal im Leben diese Aufgabe aufzubürden.
»Hast du eigentlich Angst, Pepe?«, fragte Jessica leise in den Wind hinein.
»Nicht doch«, antwortete Lorn viel zu leise. Denn ja, er hatte Angst. Er wusste, dass Tirata nichts Böses tat, dass sie nicht einmal böse war, doch die Ehrfurcht ließ ihn fürchten. Er presste Jessicas kleine Hand.
»Aua, du tust mir weh«, meinte Jessica und versuchte, die Hand ihm zu entreißen.
»Oh, entschuldige, Kleines«, meinte er verstört und ließ sie los, um sich daraufhin seine Hände zu reiben, mit denen er eben noch in Litern von Blut des Schlachtviehs gesuhlt hatte, die Eingeweide und Organe herausgenommen und den Tieren zum Fraß vorgeworfen hatte.
»Ich glaube, Tirata tut nichts Böses, Pepe. Sie ist unheimlich, aber richtige Angst habe ich auf einmal gar nicht mehr vor ihr. Sie ist sicher nur alt und lieb.«
»Sie ist alt, aber lieb ist sie nicht. Nein, sie ist nicht böse, und sie tut auch niemandem etwas, aber sie ist nicht lieb, ganz sicher nicht. Sie kann viel Böses tun.«
»Kann sie die Leute verwandeln?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie die Menschen verschwinden lassen?«
»Ja, das kann sie.«
»Kann sie den Menschen Angst in die Träume bringen?«
Lorn schüttelte es. »Ja, das kann sie.«
Das Haus war näher gekommen, und sie erreichten die Skelettfinger der Bäume, die es umrandeten. Jessica sah zu ihnen auf und ließ den Blick auf den Raben in den Wipfeln haften.
»Was sind das für Bäume, Pepe?«
»Ich weiß es nicht, Jessica. Sie stehen jedenfalls nur hier.«
»Du hast Angst, das merke ich. Du hast Angst. Warum hast du Angst, Pepe?«
»Weil man vor Tirata immer Angst hat. Und weil sie merkt, wenn du keine vor ihr hast und sie dann böse wird.«
»Will sie denn, dass man sie fürchtet?«
»Jeder fürchtet sie.«
»Ist das ein Grund, Pepe?«, wollte sie wissen und sah zu ihm auf, blieb stehen und wartete, bis auch er ein paar Schritte später stehengeblieben war und sich nach ihr umsah. Der Wind rauschte um sie beide. »Wenn alle Angst vor ihr haben, muss das einen Grund haben. Sie kann Böses tun.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie ist mächtig und geht in die Corrin-Höhle. Sie ist mit den Geistern dort in Verbindung.«
»Na und? Und was ist, wenn die Geister gar nicht böse sind?«
»Sie sagte es uns aber, Jessica, und willst du sagen, dass sie gelogen hat?«
»Nein. Dann wird es wohl so sein.« Sie schritt zu ihrem Vater und ergriff seine Hand. Seltsamerweise hatte sie nun wirklich keine Angst mehr vor der Frau. Vielmehr war sie neugierig, sie zu sehen, sie zu begrüßen und sie allerlei Dinge zu fragen, auf die sie sich Antworten erhoffte. Und dann war sie wenigstens ein bisschen so mächtig wie Tirata.
Ehrfurcht hatte sie. Bewunderung, auch – aber Furcht? Nein. Warum auch? Die Frau hatte ihr nie etwas getan, und sie konnte sich auch nicht an irgendeine der vielen Geschichten erinnern, die man sich am Lagerfeuer erzählte, in denen auch nur einmal andeutungsweise eine böse Tat oder Absicht vorgekommen wäre.
Das Haus, in dem die Wahrsagerin wohnte, war älter als alle, die Jessica aus dem Dorf kannte, und der Wind flüsterte unverständliche Geschichten durch die Ritzen des Hauses und durch die Wipfel der Bäume. Lorns Knie waren weich, er zitterte am ganzen Körper, und trotz der Wärme war ihm kalt. Wann hatte er Tirata jemals so aus der Nähe gesehen? Er konnte sich an ein Mal erinnern, aber das war Jahre her und er wäre auch beinahe gestorben vor Angst. Diese erhabene Gestalt der Frau, die schon damals alt war und nun noch viel älter, und die nie sterben zu wollen schien, ihre langen, grauen Haare, ihre schnarrende Stimme, ihre Vorhersagen, die sie getroffen hatte und die eingetreten waren. Und nun sollte er sich ansprechen. An ihre Tür des Hauses klopfen, das er immer gemieden hatte. Er hatte es immer nur aus der Entfernung gesehen, von sich zu Hause, von den Feldern. Immer hatte es einsam und still dagelegen wie ein Felsbrocken im Gras, manchmal hatte er Tirata gesehen, wenn sie nach draußen kam und in ihrem Garten Gemüse und Kräuter holte, wie sie Wasser schöpfte oder wie sie gar ihre Tiere schlachtete. Das tat sonst keine Frau.
Sein Herz raste, als er vor der Tür Halt machte. Er sah an sich herab, begutachtete seine Kleidung, denn er wollte nicht ungepflegt erscheinen, kurzum, er wollte ihrer würdig erscheinen. Mit einem Anflug von zusammengefasstem Mut räusperte er sich und klopfte gegen die Tür. Was wollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Sollte er wieder gehen, schnell und heimlich, sich durchs kniehohe Gras ungesehen davonschleichen und im Dorf sagen, er hätte es sich nicht getraut? 
Welch Blamage!
Da öffnete sich die Tür.
Lorn stand da und das Herz wollte ihm stehenbleiben, ein Schlag von unerträglicher Hitze überwallte ihn. 
Da stand er Tirata gegenüber, und er hatte einen grässlich trockenen Mund.
Wie sie dastand und ihn ansah mit ihren dunklen, geheimnisvollen Augen. Sie trug bunte Schnüre in ihrem langen Haar, das grau war wie altes Holz, und ihre Falten schlugen Täler in die fremde Landschaft ihres Gesichts.
Es hatte ihm die Sprache verschlagen, und der Wind wehte um sie herum, Luft aus dem Innern dieses merkwürdigen, gemiedenen Hauses stieg ihm in die Nase. Sie roch süßlich und ließ ihn schwindelig werden.
Tirata blickte ernst wie immer; man sah sie nie lachen. Sie blickte ihn an und schien darauf zu warten, dass er etwas sagte, und da er es nicht tat, blickte sie nach unten und erblickte dieses reizende Mädchen, das da neben Lorn stand und zu ihr aufblickte mit großen Augen und keiner Spur von Angst darin.
»Oh, kleine Dame, bist du nicht die kleine Jessica?«, fragte die Wahrsagerin mit tiefer, brüchiger Stimme, die schon oft am abendlichen Feuer beschwörend in die Runde getragen worden war.
Für Jessica eröffnete sich etwas Neues, und sie war in der Lage, wenngleich auch leise, zu antworten: »Ja, das bin ich.«
»Jessica«, wiederholte Tirata geheimnisvoll und wiegte den Namen in ihrem Mund, aus dem so manch Rätselhaftes kam. »Jessica. Jessica. Ein schöner Name, dieser Name.« Sie zeigte beiläufig mit der linken Hand auf Lorn, ohne ihn anzusehen. »Hat er ihn dir gegeben?«
Jessica nickte nur. 
»Wie kam es? Kann er schreiben, dass er ihn aufgeschrieben hat, oder kann er tatsächlich sprechen und tut das nur nicht mit jedem?«
»Er hat Angst vor dir«, erklärte Jessica freimütig und spürte, wie Lorns Hand sich strafend fest um die ihre drückte.
Da sah Tirata an und durchbohrte ihn förmlich mit einem stechenden Blick. »Dann bist du Lorn, richtig?«
Ein heißer Schauer überlief ihn, und mit weit aufgerissenen Augen nickte er nur verängstigt die Andeutung eines Nickens.
»Soso. Du hast eine kluge Tochter. Bewundernswert. Soll ich sie fragen, weswegen du angeklopft hast?«
Tausend Möglichkeiten rasten durch Lorns Kopf, wie er es anfangen konnte, Tirata zum Fest einzuladen, doch ihm fiel keine ein. Keine der tausend Möglichkeiten war einer Meinung nach die richtige.
»Kommt erst einmal herein, es ist ziemlich windig heute.«
Sie schritt zur Seite und bedeutete so, dass die beiden hereinkommen sollten.
Jessicas erster Impuls war, einen Schritt nach vorn zu machen, doch plötzlich wurde sie der Tatsache gewahr, dass Lorn noch ihre Hand hielt und noch keinen Zentimeter von der Türschwelle gewichen war.
Für ihn war dies eine zweite Corrin-Höhle, in der es umging, in der Dämonen lebten, in der  böse Dinge geschahen, die seinen Horizont überstiegen. Er sah nur die Einrichtungsgegenstände und erschauerte. Sie hatte eine viel größere Feuerstelle als alle anderen im Dorf, an den wenigen Fenstern hingen Stoffe, die das Sonnenlicht milderten und den ganzen Innenraum in ein schummriges, fremdes Licht tauchten; ein Feuer brannte in der Ecke links voraus von ihm, und das Knistern war so gespenstisch, dass es kein normales Holz sein konnte, das da brannte. Es roch nach Feuer und nach etwas Süßlichem, das er nicht deuten konnte. Er sah kein Bett, wohl aber wallenden Stoff, der von der Decke herabhing und etwas verbarg. Auf einem Holztisch lagen bunte Steine, ein kleines Säckchen lag daneben. In Tassen war Wachs, und er sah einige Bücher, von denen er nur wusste, dass in ihnen Geheimnisse standen.
Dies war kein normales Haus, dies war somit kein Heim einer normalen Frau. Nicht, dass sie eine Hexe war. Aber sie war schrecklich. Sie sah schrecklich aus, sie hatte eine schreckliche Stimme, sie hatte Schreckliches in ihrem Haus, und selbst das war schrecklich, weil es bald zusammenfiel.
»Komm, Lorn, tritt ein. Ich werde dir die Zukunft sagen.«
Lorn konnte nicht, und jede Faser in ihm wehrte sich dagegen. Jessica stand nach wie vor da und zog ihn ein wenig mit ihrer spärlichen kindlichen Kraft.
Tirata sah ihn böse an. »Willst du deiner Tochter meine Gunst verwehren, Lorn?«
Das genügte. Ihre Gunst nicht innezuhaben hieß, von bösen Träumen geplagt zu werden. Das sollte nun auf seine kleine Tochter zukommen, einzig und allein durch seine anscheinend nicht überwindbare Feigheit? Langsam tat er einen Schritt und noch einen in die zweite Corrin-Höhle, obgleich alles in ihm dagegen revoltierte.
Tirata schloss hinter ihm die Tür und ging um sie herum. »Hast du Durst, Jessica? Ich habe etwas ganz Besonderes für dich. Nur ich weiß, wie man es zubereitet, wie ich so vieles als Einzige weiß in diesem Dorf.«
Jessica nickte stumm und sah sich um. Wie hübsch es hier war. Die bunten Steine waren lustig, der Stoff, der überall hing, war in einer Weise romantisch, dass sie auf die Bezeichnung romantisch nie gekommen wäre; es gefiel ihr einfach. Das brennende Holz roch eigenartig, aber es roch gut und erfüllte das Haus. Sie schritt im Raum herum und sah die vielen Töpfe, Pfannen, Löffel und Stäbe, die in der Küche hingen. Niemand sonst hatte so viel Töpfe und Pfannen und Löffel und Stäbe.
Die alte Frau betrachtete sie und bemerkte ihr Interesse daran. »Habt ihr Zuhause nicht so viele Dinge zu Kochen?«
»Nein. Was machst du nur damit?«
»Viele Dinge. Viele Rezepte, die nur ich weiß. Sie stehen in den Büchern da.«
»Du weißt, was darin steht?«
»Natürlich weiß ich das. Meine Mutter hat es mir schon vor langer Zeit beigebracht, und meine Großmutter hat es meiner Mutter beigebracht. Meine Urgroßmutter meiner Großmutter, und so weiter.«
»Und sind das merkwürdige Sachen, die du kochst?«
»Merkwürdig nur, weil niemand sonst sie kennt. Und nur ich esse sie, mein Kind.«
Lorn stützte sich an einem Stuhl ab und nahm seinen ganzen Mut zusammen, er räusperte sich und formte einen Satz, als Tirata ihn ansah. »Oh, Lorn, möchtest du mir etwas sagen? Ich nehme es an, denn du bist bestimmt nicht gekommen, um mir nur guten Tag zu sagen, da du ja nicht einmal das getan hast.«
Das Blut raste durch Lorns Adern, und er spürte, wie er puterrot wurde. »Ich … bin gekommen, um …ähem …«, und er räusperte sich wieder unbeholfen.
Tirata stand mit Jessica in einigen Metern Entfernung und sah ihn geduldig an. »Weswegen bist du gekommen, Lorn?«
»Heute ist der Tag des … Festes, und ich bin gekommen, um dich zu bitten, dass du ein paar Worte sprichst.«
»Was soll ich denn sagen, Lorn?«
»Das … musst du wissen, Wahrsagerin. Heute ist das Feldfrucht-Fest.«
»Ich weiß, ich weiß, Lorn. Ich danke dir für die Einladung, und selbstverständlich werde ich kommen. Setz dich. Möchtest auch du etwas von meinem Getränk, das niemand außer mir kennt? Deine Tochter ist angetan davon. Setz dich endlich hin. Auf den Stuhl da.«
Lorn setzte sich und war wie vor den Kopf geschlagen. Eigentlich hatte er nun gehen wollen, schnell, schnell zurück ins Dorf und vielleicht noch ein, zwei Schweine schlachten. Holz hacken. Mähen. Vielleicht den Frauen und Kindern beim Beerenpflücken helfen. Ganz gleich, nur raus hier aus diesem schrecklichen Haus.
»Du scheinst über deine Ehre, mich diesmal einladen zu dürfen, nicht besonders glücklich zu sein, Lorn.«
Er sagte nichts und sah betreten zu Boden.
»Er hat einfach nur schreckliche Angst«, platzte Jessica heraus. »Ganz schreckliche Angst.«
»Die Angst vor Wissen und Macht ist immer ratsam, Kind.«
Lorn wurde plötzlich schlecht und er sah seine Befürchtungen bestätigt.
»Bist du denn wirklich so mächtig?«
»Jessica«, tönte es kleinlaut vom anderen Ende des Raumes, wo Lorn saß und sich schlecht fühlte. »Wie kannst du es wagen, so eine Frage zu stellen? Natürlich ist sie das. Tirata, verzeih, aber ich habe ihr das nicht …«
»Ist gut, Lorn, ist schon gut. Ich werde dich nicht strafen. Du bist ein guter Mann, und ich habe keinen Grund, dir etwas tun zu wollen. Habe du nur weiter Angst vor mir, Angst ist immer gesünder als Vertrauen. Ein Hase traut auch keinem Wolf über den Weg. Also bleib du ruhig der Hase und sieh mich weiter als Wolf, wenn du willst. Deine Tochter fragt ganz Natürliches. Nur fragt mich das sonst niemand.« Sie sah zu Jessica herunter und hielt ihr Kinn mit kalten, dürren Fingern. »Jessica«, begann sie leise und fuhr ebenso fort, »es gibt viele Geheimnisse um uns. Der Wind spricht. Die Corrin-Höhle ist seltsam, und Geister gibt es überall. Das Mächtige ist um uns, Kind. Wir sind ihm unterlegen. Ich gehöre einem Geschlecht an, das die Aufgabe hat, zumindest ein wenig mehr darüber zu erfahren. Ein wenig mehr zu wissen als die anderen. Weil ich auch mehr wage. Ich gehe in die Corrin-Höhle, ich höre den seltsamen Stimmen zu, die überall wispern. Und ich glaube, etwas ist in mir, das mir die Gabe gibt, mehr zu verstehen als ihr. Und so bin ich für euch da, um euch zu helfen.«
»Auch, uns zu strafen?«
Tirata sah auf und ging zu einem Tisch, auf dem ein Krug stand. »Hier, Kind, trink das. Es wird dir guttun. Du auch, Lorn?«
Lorn schüttelte den Kopf.
Tirata goss etwas in einen Becher und reichte ihn Jessica. »Trink, Kind, es ist eine Spezialität, kein geheimnisvolles Gift, keine mystische Essenz. Deiner Tochter werden schon keine neuen Köpfe wachsen.«
Lorn fand das gar nicht komisch und fragte recht brüsk: »Können wir dann gehen, wenn meine Tochter getrunken hat?« 
Tirata sah ihn lächelnd an. »Aber natürlich, Lorn, natürlich.«

„Der Wind von Irgendwo“ geht weiter mit Kapitel 4: Maraim und die Frösche am Sonntag, 10. April 2021

 

Veröffentlichungen

SF-Anthologie Singularitätsebenen: 2021 Collection of Science Fiction Stories mit der SF-Story Attacke von Oliver Koch

Attacke – SF-Story in der Science-Fiction-Anthologie „Singularitätsebenen – 2021 Collection of Science Fiction Stories“
Hrsg. Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Erscheinungsjahr 2021
eBook
Mit Erzählungen von:
Axel Kruse, Ellen Norten, Frank Lauenroth, Amandara M. Schulzke, Roland RosenbauerRi John Weaver, Kornelia Schmid, Tamara Snow, Andrea Bannert, Nob Shepherd, Lara Möller, Olaf Lahayne, Nele Sickel, Galax Giordano, Stefan Junghanns, Oliver Miller, Christian Künne, Thomas Laddach, Anja N. Schatz, Tobias Lagemann, Paul Hanneder, Stephan Becher, Schlomo Gross, Peter Kietz, Nele Sickel, Andreas Koch, Stefan Lochner, Tessa Maelle

SF-Anthologie "2101 - Was aus uns wurde" Oliver Koch www.oliverkoch.net

Jäger und Beute – SF-Novelle – auch komplett lesbar in der Amazon-Vorschau des Buches
FriedensangebotSF-Story
Der Gärtner von Eden – SF-Story
In der Science-Fiction-Anthologie „2101 – Was aus uns wurde“ 
Hrsg. Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Erscheinungsjahr 2020
eBook
Mit Erzählungen von
 Norbert Fiks (Autor), Frank Lauenroth (Autor), Achim Stößer (Autor), Oliver Koch (Autor), Galax Acheronian (Autor), Olaf Lahayne (Autor), Axel Kruse (Autor), Andrea Bannert (Autor), Stefan Junghanns (Autor) 

NeulandSF-Story

In »c’t Magazin für Computertechnik« Ausgabe 11/2020

Heise Medien GmbH & Co. KG

Bleib bei mir SF-Story

In »Spektrum der Wissenschaft« Ausgabe 04/2020

Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Wenn Sarah in den Keller gingSF-Story auf TOR online von Fischer TOR in der Kategorie Fiction in kompletter, leicht gekürzter Version der Original-Story aus der Science-Fiction-Anthologie Krieg der Mondvölker: 2019 Collection of Science Fiction Stories & Novellas. Hrsg. Peggy Weber-Gehrke
Online seit 10.01.2020.

Wenn Sarah in den Keller ging – SF-Story in der Science-Fiction-Anthologie Krieg der Mondvölker: 2019 Collection of Science Fiction Stories & Novellas.
Hrsg. Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Erscheinungsjahr 2019
640 Seiten / eBook

4 Erzählungen und 7 Novellen, 12 Autoren. 100% Erstveröffentlichungen, geschrieben 2019. Nach Flucht von Zumura folgt nun der zweite Jahreshöhepunkt für Science Fiction-Anthologien. Traditionell liegt hier der Schwerpunkt auf längeren Texten. Die Themen unserer AutorInnen decken eine Menge der Genres innerhalb der SF ab. 

Mit Erzählungen und Novellen von:
Axel Kruse, Jo Beer, Achim Stößer, Oliver Koch, Dimitros Kasprzyk, Frank G. Gerigk, Rico Gehrke, Adriana & Amanda Wipperling, Peter Kietz, Stephan Becher, Fabian Tomaschek

Drohne Drei SF-Story
in der Science-Fiction-Anthologie Flucht von Zumura
Hrsg. Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Erscheinungsjahr 2019
629 Seiten

23 Stories, 19 Autoren. Die SF-Stories des Jahres 2018 kompakt. 100% Erstveröffentlichungen.

Mit Storys von:
Arne Rosenow, Fabian Tomaschek, Gabi Blauert, Stephan Becher, Dorothe Zürcher, Jaana R., Christoph Steven, Elisabeth Marienhagen, Amanda Wipperling, Rico Gehrke, Jacqueline Montemurri, Axel Kruse, Oliver Koch, Galax Acheronian, Achim Stößer, Frank Lauenroth

Seine große Liebe – SF-Story
in der in der Science-Fiction-Anthologie Wasserstoffbrennen
Hrsg. Jürgen Eglseer
Amrûn Verlag
Erscheinungsjahr 2018
128 Seiten

Mit Erzählungen von:
Uwe Post / Oliver Koch / Matthias FalkeStefanie Bender / Jacqueline MontemurriNadine Boos / Tobias Bachmann / Klaus N. FrickAchim Mehnert

ISBN-10: 3958690734
ISBN-13: 978-3958690738

Ans Tageslicht – SF-Story

in der Science-Fiction-Anthologie Meuterei auf Titan: 2016 Collection of Science Fiction Stories
Hrsg.: Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Erscheinungsjahr 2017
547 Seiten

Mit Stories von:
Frank LauenrothJacqueline Montemurri, – Sven Svenson – Matthias Falke – Galax Acheronian – Oliver Koch – Norbert FiksGerd FreyLara MöllerOlaf KemmlerRegine Bott – Olaf Lahayne – Dieter BohnB.C. Bolt – Janos Teleki – Tobias Reckermann – Irene Maschke – Christian Künne – Adriana & Amanda Wipperling  – Peggy Weber-Gehrke – Rico Gehrke

Fehler im System – SF-Story

in der Sience-Fiction-Anthologie Im Licht von Orion: 2015 Collection of Science Fiction Stories
Hrsg.: Peggy Weber-Gehrke
Verlag für Moderne Phantastik Gehrke
Erscheinungsjahr 2016
418 Seiten

Mit Stories von:
Sven Svenson – Gerd Frey –  Peggy Weber-Gehrke – F. Anderson –  Jacqueline Montemurri – Rico Gehrke – Matthias FalkeCliff AllisterRegine BottGalax Acheronian – Oliver Koch – B.C. Bolt – Michael StappertAdriana Wipperling  – Frank LauenrothLara Möller – Michael Thiele – Christopher Dröge

Über meinen Abschied von Twitter oder X

Twitter und ich: Das war anfangs eine erfolgreiche Liebesgeschichte. Als es damals losging herrschte Aufbruchsstimmung. Man wollte Neues entdecken, Menschen kennenlernen, neue Möglichkeiten erkunden. Twitter war zum Start ein toller Ort. Mir brachte er viele Follower und ich glaubte eine Zeitlang, dass es meine Berufung werden könnte, das zu werden, was man heute Influencer nennt.

Das ist lange her. Inzwischen heißt Twitter X und hat einen Besitzer, den man nicht hassen sollte, weil Hass dumpf ist, und man sollte sich selbst sagen, dass man sich für Hass zu schade sei. Aber man kann ihn verachten.

Ein schrecklicher digitaler Ort war Twitter allerdings schon vor ihm. Nur: Er ist schrecklicher geworden. Und auch wenn ich schon seit Jahren meinen Bezug zu dem, was aus Twitter wurde, verloren hatte, hielt ich es lange Zeit für richtig, nicht klein beizugeben.

Ich verglich Twitter mit einem realen Ort in einer Stadt, der nach und nach weiter zur Müllhalde wurde. Lange Zeit meinte ich, es sei besser, dem Ort nicht ganz den Rücken zu kehren, denn wenn man Orte den falschen Menschen überlässt, verliert man diese Orte auf ewig.

Gegangen bin ich letztlich dennoch. Damit habe ich gegen meinen Ansatz verstoßen, Orte nicht freiwillig zu räumen, aber ich musste erkennen, dass es längst zu spät war. Noch immer tummeln sich dort gute Menschen, halten dagegen, zeigen Präsenz, bemühen sich. Letztlich aber diente mir das selbst auch als Ausrede, nicht klein beigeben zu müssen. Mein Beharren war bequemer als der entscheidende Schritt fort von dort.

Nun, da ich keinen Account mehr auf X, wie Twitter nun heißt, besitze, fühle ich mich tatsächlich besser und befreit. Ich ließ mich immer wieder dazu verleiten, dem Hass und Stumpfsinn zu folgen, der dort normaler Alltag geworden ist – und es regte mich auf, diesen Hass und Stumpfsinn zu sehen.

Womit ich wieder beim Hass bin, und warum ich der Ansicht bin, man solle sich für Hass zu schade sein: Hass ist keine Auszeichnung. Hass ist dumm, weil er allen die ominöse Erlaubnis gibt, die guten Sitten fahren zu lassen, die fadenscheinige Ausrede, warum man nun ein anderer Mensch wird, der alles Gute, alles Vernünftige fahren lässt, in der Annahme, Hass sei das einzige Mittel.

Denn ich bleibe dabei: Nein, das ist er nicht. Hass ist nicht die Lösung, Hass ist nie die Lösung. Hass ist das Ende der Zivilisiertheit, und je mehr wir uns selbst an Hass gewöhnen, umso mehr Zivilisiertheit geben wir von uns selbst ab. Wir verlieren sie nicht, sondern geben sie bereitwillig selbst ab, und als Mensch sollten wir uns sagen: Nein, ich lasse mich nicht dazu verleiten, nein, ich behalte meinen Charakter, bleibe zivilisiert.

Twitter aka X ist für mich nun also Geschichte, und siehe da: Abgesehen davon, dass ich mit meinen Posts dort ohnehin nichts und niemand mehr erreichte, weil meine Karawane längst weitergezogen war und ich wie in eine leere Halle hineinrief, findet in meinem Leben weniger Hass statt.
Der Ort in der Stadt, den ich mir stets vorgestellt habe, ist eine Müllhalde geworden, die krank macht. Und trotz all jener, die dort noch immer ernsthaft und vernünftig publizieren, ist dieser Ort genau der heruntergekommene, kaputte Ort, den man in Städten meidet, weil man weiß, dass man dort nichts Gutes mehr findet.

Twitter aka X ist für mich Geschichte und verachte den Eigentümer, verachte die dumpfen, lärmenden Pausenhofschläger, die dieses einstmals so schöne und blühende Stadtviertel für ihre Prügeleien, Streitereien und Auseinandersetzungen nutzen und damit zerstört haben.

Ich habe lange gehadert, und so stolz ich immer darauf war, mich nicht vertreiben lassen zu wollen, bin ich heilfroh darüber, es hinter mir gelassen zu haben.

Warum ich Twitter doch nicht verlasse

//

Fast hätte Twitter mich in die Flucht geschlagen. Wieder einmal. Wieder einmal nur fast.
Dabei habe ich kürzlich gepostet: Ich gebe meinen Twitter-Account auf. Ich sei dafür bei Mastodon.
Nach der Ankündigung fühlte ich mich befreit. Twitter ist Last und Problem. Das war schon vor dem Irrsinn von Elon Musk so. Es gibt für mich viele Gründe, Twitter entnervt zu verlassen.

Zu extrem, zu viel und keine Lust und Zeit

Zu viele extreme Menschen sind dort. Zu viel Agitation, Wut und Empörung gegen alles und jeden.
Zu viel Unsinn. Zu viel Überflüssiges. Twitter hat mich seit 2009 gelehrt, Ironie kaum noch zu ertragen, weil es dort für meinen Geschmack Überhand nimmt.

Aber ja: Mir fehlen auch Zeit und Lust. Das für mich Interessante von dem für mich Uninteressanten zu trennen, finde ich auf Dauer anstrengend. Ich möchte nicht ständig präsent sein oder anderen bei ihrem Präsentsein verfolgen.

Ich poste kaum noch Privates, weil ich Privates inzwischen entweder lieber für mich behalte oder auf anderen Kanälen anders mitteile.

Eine Entfremdung

Wir haben uns entfremdet, Twitter und ich. So war es mir genug – wieder einmal. Und wieder einmal kommen mir Zweifel, je näher der Tag rückt.

Warum? Die Motive ändern sich. Zuletzt fühlte ich mich endgültig davon abgestoßen, dass Elon Musk die Reichweite zahlender Kunden gegenüber nichtzahlenden erhöht – und dabei vor allem Rechte bevorzugt hat. Es war das Tröpfchen, das mein Fass zum Überlaufen brachte. Nicht in Wut oder Verzweiflung. Sondern aus Resignation und Protest. Ich wollte in diesem Umfeld nicht mehr sein.

Da bleiben aus Protest

Warum werde ich nun doch nicht gehen? Aus Protest. Nicht, weil ich glaube, ich hätte wundervolle Inhalte. Sondern weil ich mir sonst selbst sagen müsste, vor Rechten, Wahnsinnigen und Pöblern, aber auch den ganzen Dauerempörten aus allen Ecken zu kuschen. Ihnen einfach ihre Spielwiese zu überlassen, wollen sie doch nur. Endlich wären sie unter sich.

Solche Milieus freut es, wenn sie denken, gesiegt zu haben. Sie beglückwünschen und bestärken sich. Dieses Feld haben sie eingenommen, okay, welches reißen wir uns als nächstes unter den Nagel? Die anderen gehen ja einfach. Damit lässt man Brunnenvergifter weiter Brunnen vergiften.

Ich bin daher zum Schluss gekommen: Ich denke nicht daran, das Feld zu räumen. Zumal es eine Menge anderer Menschen gibt, denen ich folge und sie mir, die wie ich darüber klagen können, dass immer mehr Leute aufgeben. Denen ich gerne folge, deren Inhalte mich interessieren. Denn es gab und gibt dort Tolles!

Aufgeben ist keine Option

Aufgeben? Nein, ich denke nicht daran. Ich ziehe lieber meine Ankündigung zurück als mich vertreiben zu lassen. Mehr noch: Ich habe mir nun sogar vorgenommen, Twitter stärker zu nutzen. Meine Themen dort zu erweitern. Schon aus reinem Trotz. Aber auch, um die vergifteten Brunnen mit anderen Inhalten zu verdünnen, die nichts mit dem ganzen Unfug zu tun haben, vor dem ich fast geflohen wäre
Ich werde auch Mastodon entsprechend bespielen. Und man findet mich weiterhin bei Twitter.

Auf geht’s!

Warum ich viele Texte mit der Hand schreibe

Was aussieht wie Abfall, waren einmal Originale meiner Texte. Viele meiner Texte schreibe ich zunächst per Hand mit Füller oder Bleistift auf Papier. Erst anschließend tippe ich sie ab. Dabei übernehme ich sie meist ohne Änderungen. Das Schreiben mit der Hand ist für mich etwas Besonderes. Es ist ein langsameres Schreiben. Tempo und Verwertbarkeit spielen dabei keine Rolle. Dafür konzentriere ich mich auf die Schrift selbst. Jahrzehntelang habe ich sie immer weiter verlernt,  bis mir der Verlust aufgefallen war, den es bedeutete.  Eine eigene Handschrift nicht mehr lesen zu können, kam mir seltsam vor, schließlich kam sie doch von mir. Ich hatte das Gefühl, dass da eine Verbindung unterbrochen war.

Seit Jahren schreibe ich wieder viel mit der Hand. Einerseits ist sie lesbar geworden, andererseits sogar richtig gut – wenn ich mich besonders anstrenge.

Das ist ein nennenswerter Fortschritt, den ich nie erlangt hätte, wenn ich wie all die Jahre zuvor ausschließlich auf der Tastatur geschrieben hätte.

Schrift im Allgemeinen und Handschrift im Besonderen ist vor allem eine Kulturtechnik – in einer Welt voller Technik ist die Gewichtung auf Kultur allein schon ein Wert an sich, den ich pflegen möchte.

Aber das Schreiben per Hand hat für mich noch eine andere Dimension, die sich im geschriebenen Text selbst zeigt:

Ich schreibe anders. Beim Tippen bin ich automatisch schneller mit Gedanken; und bereits schon im nächsten, während ich den vorherigen noch tippe. 

Wenn ich mit einem Stift in der Hand über einem Blatt Papier am Schreibtisch sitze, arbeite ich insgesamt langsamer. Das ist eine gute Eigenschaft, wie ich finde. Ich gehe so weit zu sagen, dass sich meine Texte unterscheiden, wenn ich sie per Hand und auf der Tastatur geschrieben habe. 

Das Handschreiben ist ein ganz besonderer Fokus. Es gibt besondere Themen, die ich in einer besonderen Stimmung nur mit der Hand schreiben möchte. Es fühlt sich anders an, es ist anders, es kommt manchmal etwas anderes dabei heraus. Das ist gut so.

Dass ich die handgeschriebenen Originale nicht aufbewahre, tut der Sache keinen Abbruch.

Die Verbindung vom Schreiben und dem Geschriebenen bleibt erhalten. Und darauf kommt es an.

Dieses Buch ist eine Aufgabe für mich

/

Dieses Buch habe ich mir nicht ausgesucht. Es wurde mir zum Begräbnis meines Vaters geschenkt. Anfangs wusste ich nicht, was ich damit tun sollte. Ein Buch des Friedhofs? Ich hielt das für seltsam, ohne mir richtig klar zu sein, warum eigentlich. Nun ist es also schon ein halbes Jahr da und wartet darauf, einen Sinn zu bekommen.
Nun habe ich ihn gefunden.

Der Tod meines Vaters hat viel in mir ausgelöst – vor allem, weil ich an seinem Bett saß, während er starb. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sterben sah. Auch das hatte ich nicht gewollt, doch schließlich ist geschehen.
War es schlimm?
Tatsächlich nicht – genau das macht es so denkwürdig.

Seitdem habe ich so Einiges über den Tod im Allgemeinen und sein Sterben im Besonderen geschrieben. Einiges davon wurden Gedichte, Haiku sowie Haiku-artige Texte, die sich nicht an das Silbenschema 5-7-5 halten.

Während ich sie über die letzten Monate schrieb, ist mir dieses Buch gar nicht eingefallen, das bei mir lag und dessen Nutzen mir nicht klar war.
Wegwerfen habe ich nicht übers Herz gebracht – es hat eine Aufgabe, einen Sinn. Ein Buch über den Tod achtlos zu entsorgen, kam und kommt mir nicht richtig vor.

Dann wurde mir klar: Dieses Buch hat nur dann eine Aufgabe, wenn es zum Träger dieser Texte wird.
Also werde ich mich hinsetzen und sie handschriftlich übertragen – nicht alle auf einmal, sondern langsam eines nach dem anderen. Die Langsamkeit hat ihren Sinn in der Aufmerksamkeit, die ich dem Schreiben schenken möchte. Ich möchte nämlich so schön wie möglich schreiben.
Dafür muss ich noch ein wenig üben, denn klar ist: Was einmal darin geschrieben steht, bleibt darin. Jeder Fehler, Patzer und Aussetzer wird Teil dieses Buchs bleiben.

Ich möchte mir also alle Mühe geben.

Wissen aneignen, Neues lernen: So mache ich es

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Nein: Es gibt nie genug Wissen, das man sich aneignen kann. Die Welt ist dermaßen vielschichtig, dass sich ständige Aneignung von Wissen immer lohnt – auch und ganz besonders auch bei Themen, die nicht immer deckungsgleich zu eigenen Hobbies und Interessen sind. Den Schritt zur Seite, der Blick nach oben oder unten vervollständigt vielmehr das Verständnis von Welt und Umwelt.

Wie eignet man sich neues Wissen an? Das hat viel mit eigener Präferenz zu tun, aber auch damit, was man am besten verarbeiten kann.

Ich gebe zu: Bei mir sind und bleiben es Bücher und Zeitschriften. Nicht, weil ich so groß geworden bin (was ich bin), und auch nicht aus Liebe zu Gedrucktem (die ich habe). Sondern weil ich damit nachweislich am besten umgehen kann. Beim Lesen bin ich auf besondere Weise aufmerksam und lernfähig.

Das wird auf Dauer teuer, denn die meisten Titel kaufe ich mir selbst. Je nach Buch bevorzuge ich sogar die gedruckten Ausgaben, um mir mit Stift und Handschrift eigene Notizen zu machen. Das geht in eBooks natürlich auch. Aber für mich schrecklich unpraktisch. Doch es ist, wie es ist.
Ich bin ein Bücherfresser, und derzeit ganz besonders. Fast kann man sagen, ich atme sie ein – fast alles Sachbücher übrigens. Romane haben da zunächst Sendepause, und es wird noch eine Weile so bleiben.
Es gibt es so viel zu wissen, und ich WILL es wissen! Am Wochenende las ich ein Buch, in den Tagen davor ein anderes, nun steht das nächste auf der Agenda. Gekauft habe ich mir allein in zwei Wochen fünf Bücher – als eBook.
Man könnte sagen, ich habe ja ordentlich zu tun. Das stimmt. Und ja: Das ist gut so.

„Der Hund“ – mysteriöse Erzählung

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Müde hebt der Hund den Kopf, sonst wäre er ihm nie aufgefallen. Er wäre einfach auf die Straße gegangen, deren eigentümlicher Geruch ihn gefangen nahm wie die fremden Laute dieser fremden Stadt. Nicht nur die Stadt ist ihm fremd, auch das Land, die Sprache, all das, was man Kultur nennt. Da ist diese Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, hinter jeder Straßenecke Neues zu entdecken, und der Furcht, vor dem Neuen zu erschrecken. Er fürchtet, hier viel Abstoßendes zu finden und sofort sagt er sich, so nicht denken zu dürfen. Es ist eines gebildeten Westlers nicht würdig, auf diese Gegend herabzublicken, wie auch auf all die anderen Gegenden der Erde, die sich ähnlich zeigen wie dieser lärmende, von ungewohnten Gerüchen getragene Fleck. Nichts, was er an Sprache hört, ist ihm vertraut. Dabei klingt sie harmonisch, doch kann er wissen, ob jemand über Eheprobleme redet oder über den Sex von gestern oder über die Freude auf das Kino heute Abend?

All dies rumort und wimmelt schon länger, als er selbst auf der Erde ist, und es wird, so ist zu vermuten, noch so weitergehen, wenn er nicht mehr leben wird.

Er weiß genau, was er in Restaurants bestellen möchte, um das Besondere dieses Weltteils kennenzulernen und weiß auch, auf was er lieber verzichten möchte.

Wohin er seine Augen richten soll, erschließt sich ihm nicht, da ihm jedes Staubkorn fremd ist, wäre da nicht eben dieser Hund gewesen, der den Kopf hob. So beiläufig die Bewegung ist und so viele Köpfe ausgemergelter Straßenhunde sich hier auch in die Höhe recken mögen, so bedeutsam ist diese Bewegung für ihn. Es ist, als hebe das Monster von Loch Ness eines Morgens im Frühling, an dem der Tau noch an den kühlen Gräsern zittert, mit einem Mal den Kopf aus dem Wasser, einfach, um sich umzusehen und ihn die Frage stellen zu lassen: „Warum ich? Warum passiert es ausgerechnet mir, dass es sich zeigt und das Geheimnis seiner Existenz lüftet?“

So blickt er also hinüber zu dem Hund, der dort im Staub der Straße liegt und nichts weiter tut, als seinen Kopf gehoben zu haben und ihn anzublicken. Anders als die anderen Tiere hechelt er nicht, liegt einfach in der Sonne, als sei die Hitze und das Brennen nichts, was ihn belasten könnte. Auch aus der Entfernung von gut zwanzig Metern ist ersichtlich, dass der Hund nur Augen für ihn hat. Unter normalen Umständen hätte er den Glauben gehabt, der Hund habe zufällig seinen Kopf erhoben und ihn sind Auge gefasst. Oder dass der Hund lediglich in seine Richtung blickte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen – doch er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Hund, der keine Anstalten macht, sich aus dem Staub der Straße zu erheben, ihn, genau ihn und nur ihn anblickt, und dass er wegen ihm und nur wegen ihm den Kopf gehoben hat, als habe er gespürt, dass er auf die Straße tritt und es nun an der Zeit sei, Kontakt aufzunehmen.

Der Hund interessiert ihn. Kurz bleibt er stehen, um den Verkehr an sich vorbeiziehen zu lassen, lautes Geknatter eines Motorrades, so fremd und hell und laut und dröhnend, wie sie nur in Ländern wie diesen zu klingen scheinen, als seien sie hier aus anderen Dingen gemacht oder führen mit anderen Mitteln. Er hält sich das linke Ohr zu und merkt, wie er unter dem Lärm sein Gesicht verzieht, ohne den Hund auch nur für einen Moment aus dem Blick zu nehmen.

Der Hund ist der hässlichste Hund, den er jemals gesehen hat. Doch gleichzeitig ist da etwas anderes. Die Unterernährung, die die Körper aller Hunde hier ins Erschreckende auszehrt, verleiht dem Hund dort drüben Anmut, Würde, Ebenmaß. Das Fell, so schmutzig und verschlissen wie ein alter Sattel nach einem Reiterleben voller entbehrungsreicher Schlachten, wirkt wie angepasst an die dünnen Knochen der beiden Beine, die der Hund nach vorne streckt, in Majestät der Sphinx überlegen. Was einst Farbe war, ist nun ein Hort von Schmutz und Narben, die der Hund in stoischem Stolz wie Abzeichen trägt. 

Er springt erschrocken einen Schritt zurück, als ein Fahrrad an ihm so nah vorbeischießt, dass er den Fahrtwind spürt und riecht, begleitet vom Fluchen des Fahrers, der sich nicht umdreht. So ist er froh, als er den Blick des Hundes wiederfindet, der seine Ohren nach vorn stellt wie eine Krone. Dann steht er vor ihm. Kaum, dass er zum Tier herunterblickt, geht er in die Knie. Der Blick von oben scheint ihm nicht adäquat, und so folgt der Blick des Hundes seinen Augen hinab, ohne dass der Schwanz sich regt.

Von Nahem sind die Augen ganz besonders. Ich habe auf dich gewartet, scheinen sie zu sagen, getragen von dem Wissen, dass es eines Tages so hat kommen müssen. Geduld liegt in ihnen wie in der ungefragten Frage, die sie stellen. Fast hört er eine Stimme in sich, so geschlechtslos wie deutlich, die dem Tier erwidert: Ich weiß.

Er hat nie einen Hund besessen und weiß nichts von der Ebene, die sich entfaltet zwischen Tier und Mensch, doch nun ist es ihm, als habe er diese Ebene nie verlassen und beuge sich zu einem alten Vertrauten nieder, der auf ihn gewartet hat.

Er kennt den Namen des Hundes nicht, doch das spielt keine Rolle. Der Blick in die Augen des Tiers genügt, die von außen betrachtet nichts anderes sind als die Augen eines beliebigen Hundes, dunkelbraun, fast schwarz, in ihren Spiegelungen kann er sich selbst erkennen, doch da ist mehr, und sie beide wissen es.

„Kommst du mit?“, fragt er den Hund, und der erhebt sich augenblicklich. War es der Tonfall, den der Hund verstanden hat, denn wer sollte hier seine Sprache sprechen, zudem zu einem Hund, den hier die meisten Köter nennen, weil er in ihren Augen nichts anderes tut als Essen zu stehlen, zu betteln und zu belästigen?

So steht er auf und macht sich auf den Weg mit dem Gefährten, der nicht von seiner rechten Seite weicht. Die Straßen werden schmal und eng, sobald man einmal von der Hauptstraße abbiegt, Häuser schmiegen und ducken sich, Eingänge gähnen wie müde Mythengestalten, schnell wird das Gewirr zur Stille, dass er nun hören kann, wie die Pfoten des Hundes neben ihm auf den Steinen tappen. Eigentlich hat er dem Tier etwas zu essen kaufen wollen, in einem der zahlreichen Geschäfte, die sich bunte Höhlen durch die Mauern geschlagen haben. Früchte überall, in allen Farben, es ist so überraschend, was es hier alles gibt, wo er zu Beginn seiner Reise noch darüber staunte, dass es hier so viel Gewohntes nicht zu kaufen gibt, als habe man davon noch nie gehört, was bei ihm Zuhause heimisch, üblich, nötig ist. Ein Land des Mangels, so dachte er noch, als er das Hotel verließ, wie hat es ihn nur in diesen Teil der Welt verschlagen können, doch entrollt sich immer mehr eine Welt der Überflusses und des Reichtums. Die Gerüche werden stärker, je weiter er scheinbar der Nase nach schlendert, spaziert, flaniert. Er ist nicht mehr der Businessmann, der morgen im Auftrag seiner Firma Termine in einem dieser Glashochhäuser mit ihren klimatisierten Räumen wahrnehmen muss und sich darüber ärgern wird, dass es darin zu kalt ist. Es ist immer so. Draußen will die Sonne die Welt verbrühen, seit Jahrtausenden leben diese Menschen hier schon mit dieser Hitze und all der Sonne, die unweit von Flüssen und Seen die Böden verdorrt, doch kaum haben Menschen anderer Breiten Klimaanlagen erfunden, kühlen sie ihre Räume herunter, als gälte es, Pinguine zu züchten.

Hier lebst du also, sagt er ohne Stimme dem Tier neben sich, und wie zur Antwort blickt es auf und blinzelt.

Als es still wird, bleibt er stehen. Kurz keimt Angst auf, denn wo ist er bloß und warum ist er überhaupt hierher gekommen? An diesem Ort befindet sich nichts außer ein paar lang verlassener Häuser. Ein schmaler Gang führt in eine enge Schlucht, in die, da ist er sicher, noch nie das Licht des Tages fiel. Der Boden ist seit jeher festgestampfte Erde. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als habe sich eine Kuppel über sie gestülpt.

Hund und Mensch blicken sich an. Für den Hund ist es normal, hier zu sein. Nichts an seinem Auftreten zeugt von Wachsamkeit. Wo nur ist die ganze Stadt geblieben? Er schaut auf seine Schuhe herab, Lederschuhe, nicht gemacht für diese Gegend. Sie sind so staubig, dass er ihre Farbe nicht mehr erkennt. Staub besetzt seine Anzughose, die jede Eleganz verloren hat. „Sieh dir das an“, sagt er dem Tier, und es schaut ihn an, als wäre nichts dabei. 

Er fragt sich, wann zuletzt ein Mensch hier vorbeikam, denn auf dem Boden finden sich weder Spuren von Reifen noch von Sohlen. 

Der Hund legt sich nieder, erneut erscheint er wie eine Sphinx, den Blick in aller Ruhe auf die schmale Gasse vor ihnen gerichtet.

Er folgt dem Blick des Hundes und weiß: Keinen Fuß wird er in diese Gasse setzen. Vorstellungen beginnen zu gären, keine davon ist gut. „Ganz sicher nicht“, lässt er den Hund wissen. Es ist nicht gut, weiterzugehen, wenn sich der Weg vor einem so verengt. Außerdem macht es ihm Angst, wie dunkel dieser schnurgerade Gang ist, der irgendwo in Dunkelheit mündet.

Der Hund macht keine Anstalten, aufzustehen, und so setzt er sich im Schneidersitz zu dem Tier auf den Boden. In den Augen des Hundes funkelt Weisheit, die so alt ist wie die Menschen selbst. Das kann natürlich nicht sein, es ist ein Tier, sagt er sich. Doch er merkt, dass es die Wahrheit ist. Es ist kein Zufall, dass er den Hund traf – oder der Hund ihn, wer kann das sagen, und spielt das eine Rolle? Ab und zu huscht ein Lid über die Hundeaugen. Es ist das erste Mal, dass er das Gefühl hat, vollständig erkannt zu werden, jenseits aller Worte. Die Vertrautheit ist so absolut wie unhinterfragt. Er sitzt da im Wissen mit dem Tier im Staub, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Es ist anders als bei all den Menschen, denen er sich im Leben anvertraut hat oder sie sich ihm. Es ist kein Wollen, kein Treiben in diesem Blick. Stattdessen ruht da eine Harmonie im Blick, die nichts ausspricht und alles sagt. 

Er streckt die Hand nach dem Tier aus und berührt seinen Kopf. Das staubige Fell ist weicher als gedacht, und der Hund sieht ihn an, lässt es ohne Scheu geschehen.

Schließlich legt er seine Hand an die Wange des Tiers, das daraufhin die Augen schließt und den Kopf in die geöffnete Hand schmiegt, als habe es darauf gewartet. Tief holt er Luft und stößt sie langsam wieder aus. „Ach Hund“, sagt er gerührt, mehr von dem, was in ihm aufkommt als von dem, was gerade geschieht. „Warum kenne ich dich?“, flüstert er. „Kenne ich dich?“

Nichts daran erscheint ihm seltsam, und er nimmt es hin, dass bislang ungenutzte Seile etwas aus der Tiefe seiner Seele heben, das er selbst nie erlebt hat und doch weiß, dass es zu ihm gehört.

Er fragt sich nicht, wie kann das sein? Im Geschehen selbst weiß er, dass es so ist.

Wir kannten uns einmal sehr gut, denkt er. Und umfasst den Kopf des Hundes zärtlich mit beiden Händen.

Und dann sitzt er im Taxi. Ein frischer Anzug, saubere Schuhe, seine Tasche mit den Unterlagen neben sich, die der Klimaanlage besser trotzt als er.

Er sieht den Fahrer im Profil, sieht die Stadt an sich vorüberziehen, blickt auf seine Uhr. In einer Stunde ist sein Geschäftstermin. Durch das Treiben draußen auf den Straßen suchen Streuner etwas zu Essen, werden verjagt. Sie leben ein Leben auf der Flucht vor Schlägen und Tritten und kämpfen täglich gegen Hunger. Finden sie etwas zu fressen, verschlingen sie es, beißen sich um kleine Brocken. Und erst jetzt beginnt er, über gestern nachzudenken. 

Das Tier ist aufgestanden und ist wieder zurückgetrottet, ohne sich umzublicken, als wisse es, dass er ihm folgen wird. Es schien, als wollte ihn der Hund wieder zur Straße lotsen, auf der sie sich begegnet waren, und als die Autos und Räder zu hören und zu sehen waren, blieb der Hund stehen, blickte sich einmal kurz um, dann nahm er seinen Weg nach rechts in einen schmalen Gang und war verschwunden.

„Warte“, hat er dem Hund noch hinterhergerufen und nahm laufend einige Meter, um ihn noch einmal zu sehen – doch der Gang, in den das Tier verschwunden war, war nur ein Spalt in der Mauer, zu eng, um hindurchzupassen. Er sah nur Licht von der anderen Seite, unbestimmt und ohne Konturen. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Straße zu treten und in sein Hotel zu gehen. 

Als der Taxifahrer etwas ausruft, blickt er gedankenverloren hoch und muss sich ordnen. Er bittet um einen Moment, in dem er die Gedanken beiseite schieben und sich auf seinen Termin konzentrieren kann. Die Uhr tickt, und so greift er schließlich seine Tasche, zahlt und tritt in die Hitze hinaus. 

Das Intermezzo war vorbei, und er konnte nicht mehr sicher sein, es überhaupt erlebt zu haben. Doch die Augen dieses Hundes: Er könnte schwören, er habe sie erkannt und sie ihn, als ginge es um ein Wiedersehen oder etwas anderes, wer weiß das schon? Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Er konzentriert sich auf seine Aufgabe. Für alles andere hat er noch ein ganzes Leben Zeit. 

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 14: Der Mut der Verzweiflung komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 13 lesen

Der nasse Boden unter ihren Füßen gab schmatzende Geräusche von sich, als Jessica neben Tirata Richtung Berge ging. »Wo gehen wir denn hin?«, hatte Jessica wissen wollen, als Tirata ihr morgens eröffnet hatte, dass sie heute etwas Außergewöhnliches sehen sollte. »Was du sehen wirst wird dich klarer sehen lassen«, hatte Tirata gemeint. »Und es ist ein Geheimnis. Du wirst es sehen.«
»Wo ist denn dieses Geheimnis?«, hatte Jessica gefragt.
»Es ist ein weiter Gang, ein Gang in die Vergangenheit.«
»In die Vergangenheit? Wo liegt die?«
Tirata hatte sie lange und seltsam angesehen. »Weit fort von uns. Hinter den Bergen, da, wo wir nicht mehr hinsehen.«
»Gehen wir in die Corrin-Höhle?« Jessica wurde bei dieser Frage ganz heiß, obgleich sie ihre  Neugier, gegen die Tirata so Vieles hatte, versuchte zu verbergen. Aber das hätte sie nicht tun müssen, denn Tirata schien selbst aufgeregt. »Darüber hinaus. Weiter noch. Wir werden den ganzen Tag gehen.«
Daraufhin hatten sie sich etwas zu essen bereitet, das Tirata in einen Beutel verstaute, den sie schulterte. »Komm, Kind. Du wirst in ein paar Stunden deinen Augen nicht mehr trauen.«
So also gingen sie zu den Bergen, zu denen auch die Männer des Dorfs aufbrechen würden. Es war noch so früh am Morgen, dass noch niemand außer Tirata und Jessica zum Aufbrechen bereit war. Das Dorf war erstarrt vor Angst und Wut und Willensstärke. Sie wollten alle endlich ihrer Angst ins Auge blicken und sie vernichten, wenn sie konnten. Bald würden auch sie losziehen.
»Der Wind vor Irgendwo reißt euch mit«, hatte Tirata gestern am Feuer zu den Menschen noch gesagt, als sie, gelähmt vor Schock, in ihrem Rund gesessen hatten, die Gesichter orangefarben und flackernd. »Der Wind ist der Lauf der Dinge auf der Welt. Wenn er kommt, verändert er die Dinge. Er erneuert, er reinigt.«
»Aber«, war es leise aus dem Rund gekommen, aus einem Mund, der in dem dazugehörigen orangefarbenen Gesicht wie die Corrin-Höhle wirkte, »wohin wird er uns treiben?«
»In eine neue Richtung.«
»Und wird sie gut sein?«
»Das kommt darauf an, wie ihr eure Situation meistert.«
Tirata hatte lange mit im Rund gesessen und Worte zu Tsams Tod gesprochen. Mark hatte in Gedanken versunken dagesessen und sich vorgestellt, auf diese Levitation in der Corrin-Höhle zu treffen und sie zu töten. Ja, man würde am nächsten Morgen aufbrechen und dem Unbekannten in die Augen blicken, was oder wer immer es sei.
»Dieser Ort ist kein guter Ort mehr«, hatte Morkus gesagt, und jeder im Dorf hatte schweigend genickt. Das Feuer hatte geknackt und Funken in den Himmel geschossen, denen die nachsahen und sich wünschten, sie zu sein.
»Wir müssen fort von diesem Ort.« Jeder hatte genickt. Dieser Ort war ihnen nicht mehr wohlgesonnen. »Wenn es etwas Böses gibt, dann ist es hier. Wir versuchen es zu töten und gehen dann fort von hier.«
Alle nickten einhellig, stumm und so langsam, als wären ihre Köpfe riesige Steine, die auf einer Klippe stehen und, vom Wind in Schwingung versetzt, einen Berg hinunterzurollen drohten.
Tirata hatte Triumph verspürt und sich in ihr Haus zurückgezogen.
Nun schritt sie neben Jessica, die es kaum erwarten konnte, das Unbekannte, das Andere zu sehen, das ihren Horizont erweitern sollte. Sie konnte es kaum erwarten, in die Vergangenheit zu gehen.
Der Morgen war wundervoll. Der Himmel wurde immer strahlender, und es würde ein heißer Tag werden. Dieser Sonnenaufgang hatte etwas ganz Besonderes. Jessica hatte die Welt noch nie so früh in diesem Licht gesehen. Ein Sonnenaufgang wie dieser war ein Ereignis, das sie noch nie bemerkt hatte. In diesem Licht nun schien ihr die Welt wie ungeboren. 
Etwas regte sich in ihr, das sie zum Nachdenken brachte: so lange sie zurückdenken konnte, war es immer so gewesen, dass morgens der Tag und abends die Nacht kam. Dunkelheit folgte Helligkeit, Helligkeit folgte Dunkelheit. Kälte folgte Hitze, Hitze folgte Kälte, Trockenheit folgte Nässe und Nässe folgte Trockenheit – ein einziger riesiger ewiger Zyklus. Was kam, das kam, und was ging, das ging, ganz so, als sei alles diesen Dingen selbst überlassen, und als sei der Mensch dem unterworfen, was ihn umgab. 
Nun jedoch kam Jessica der Einfall, dass all diese Annahmen falsch sein konnten. Wenn das ging, was ging, weil etwas anderes kam, dann musste dies aufgrund der Regelmäßigkeit, mit der dies geschah, einen Grund haben. Und so fragte sie Tirata danach, während sie weitergingen, immer weiter auf die Berge zu, immer weiter in Richtung dessen, woher alles gekommen war, wo alles begonnen hatte.
Als Lorn in Marks Zimmer trat, war dieser schon wach. Mit offenen Augen starrte er an die im frühen Tageslicht noch düstere Decke über ihm, die ihm den Blick auf die Sterne verwehrte. Die ganze Nacht über hatte er seine Gedanken kreisen lassen, und er hatte sich in die  Corrin-Höhle geträumt. Wenn man von der Corrin-Höhle träumte, dann waren dies schreckliche Alpträume. Dann erwachte man schweißgebadet aus dem Schlaf, weil man gefangen gewesen war in einer sinistren Grotte mit fürchterlichen Kreaturen jenseits aller Begriffe. Man wurde von ihnen zerhackt, gefoltert auf eine Weise, die sich der Phantasie entzog. Man wurde von ihnen nicht einfach gefressen, wie dies Tiere mit anderen Tieren taten, sondern man wurde ausgesogen, entleert, einer Sache beraubt, die den Menschen des Dorfs sehr wichtig war; gleichwohl sie sie nicht in Worte fassen konnten.
Ausgesogen …
… auf dass man zurückblieb wie eine alte, abgestreifte Haut einer gewachsenen Schlange.
Aber in dieser Nacht hatte Mark sich im Traum in der von allen in allen Zeiten so gefürchteten Corrin-Höhle befunden und war mit Entschlossenheit, mit Stolz und mit Rache hineingegangen, um Rechenschaft von denen zu verlangen, die Tsam auf dem Gewissen hatten. Um Rechenschaft dafür zu verlangen, warum man wollte, dass die Menschen das Dorf verließen.
Wem oder was sie gegenübertreten sollten, wusste er nicht, denn er hatte in seinem Traum mit offenen Augen nichts sehen können. Aber er hatte keine Todesangst gehabt, die ihn davon abgehalten hatte, in die Höhle zu steigen. 
Lorns Stimme kam gedämpft leise  zu ihm herüber, als hätte Mark die Worte mehr gedacht als gehört: »Mark, wach auf. Wir brechen gleich auf.« Er klang wie das Rauschen des Windes um Tiratas Haus, nicht so entschlossen wie von einem Mann, der sich voller Überzeugung aufmacht. »Hast du deine Sachen auf den Wagen geladen?«
»Ja«, erwiderte Mark mit auf die Decke gerichtetem Blick, und im diffusen Licht des jungen Morgens sah Lorn Marks Augen von Tränen aufblitzen. »Unser Leben ist zu kurz, viel zu kurz. Und wie haben es es in gewisser Hinsicht vergeudet.« 
Mark war der selben Meinung. Er wusste, dass dies die letzte Nacht in diesem Haus gewesen war. Wenn sie aus der Höhle zurückkehren sollten, dann wurden sie von den Zurückgebliebenen des Dorfes erwartet, auf dass sie sich aufmachen konnten, um dem Dorf mit allen Tieren und Geräten den Rücken zu kehren.
Mark hatte sich noch nie so leer und ausgesogen gefühlt. Sein Freund war tot, das Dorf  wurde verlassen. Und gleichzeitig machten sie sich auf, dem Unbekannten zu begegnen. Wenn sie dem Großen Schrecklichen persönlich begegnen sollten, so waren die bereit, ihm gegenüberzutreten. Mark fragte mit einer Stimme sanft wie rauschender Wind: »Tun wir es nur deshalb, weil wir hier nichts mehr haben?«
Wäre es heller gewesen und hätte Mark von seinem Vater mehr gesehen als nur einen dunklen Schatten in der Türöffnung, hätte er ihn nicken sehen können. »Es ist alles so endgültig. Wir neigen uns jetzt vor dem Wind von Irgendwo. In gewisser Weise sind wir tot. Wir haben unseren Frieden verloren, unser Dorf, und du deine Schwester und deinen Freund. Ich habe eine Tochter verloren. Der Wind von Irgendwo hat uns, jedem von uns, ein Loch in unser Leben geblasen. Und nun müssen wir versuchen, dorthin zu gehen, wo der Wind von Irgendwo das, was er uns aus dem Leben geblasen hat, fallengelassen hat.«
»Auf der Suche nach einem neuen Frieden?«
»Und auf der Suche nach einem neuen Leben.«
Viele Fragen stellten sich Jessica, und das Merkwürdigste an allem war, warum niemand schon vorher diese Fragen gestellt hatte. War sie denn neben Tirata die erste im Dorf, der diese Fragen kamen? Aber sie erinnerte sich an die Worte Tiratas, als sie ihr erklärt hatte, dass dies nicht so sein konnte. Jeder Mensch im Dorf hatte sich hin und wieder eine oder mehrere dieser Fragen gestellt, aber woher sollte man die Antwort nehmen? »Alles, was man nicht wusste, schrieb man mir zu, dass ich es wusste«, hatte Tirata ihr zur Antwort gegeben, als es dunkel geworden war und Jessica gebannt den Worten gelauscht hatte. »Und alles, was ich wusste und die anderen nicht, war für sie wie etwas Verbotenes. Man sagte einfach, dass es mit der Corrin-Höhle zu tun hätte und meinte, nur ich könnte darüber Bescheid wissen, weil die Geister in der Höhle nur mir all die Geheimnisse gesagt hätten.«
Jessica hatte nicht verstanden und gefragt: »Sind denn all diese Sachen und Fragen verboten? Sind denn Geister in der Corrin-Höhle? Und sprechen sie zu dir?«
»Diese Geheimnisse sind so selbstverständlich wie das Fragen nach dem Wohlbefinden. Nein, diese Fragen sind weder verboten noch sind die Geheimnisse.«
»Aber warum wird dann gesagt, dass sie es wären? Und warum sagst du es immer?«
»Ich sage es nicht. Ich habe es nie gesagt. Aber wie kann ich erklären, was die Menschen nicht begreifen können?«»Warum können sie nicht begreifen?«
»Weil sie den Mut und das Wissen vergessen haben, um begreifen zu können. Weil sie alles verdrängt haben.«
»Was haben sie verdrängt?«
»Du wirst es sehen.«
Auf dem Weg zu dem, was sie sehen sollte, waren sie nun.
Sie gingen schweigend nebeneinander her, von der weiten Landschaft umgeben, durch die der Wind strich. Jessica war ganz versunken in Fragen über Fragen. Tirata hatte so viel getan, was sie nicht hatte deuten können. Tirata hatte über so viele Dinge gesprochen, die Jessica nicht verstanden hatte. Wie oft hatte Tirata schon von den »anderen« gesprochen, von den »Augen«. Wie oft schon hatte Tirata Jessica das Fürchten gelehrt auf eine Weise, die keine echte Panik hatte gedeihen lassen, sondern Zweifel an den Dingen, von denen man der Überzeugung war, sie tun zu müssen?
So konnte Jessica ein gewisses Entsetzen nicht verleugnen, als Tirata sich eines nachts aufgemacht hatte, um einige Tiere auf den Weiden zu töten. Sie hatte Jessica davon berichtet und war gegangen, als sie schlief. Es war eine Sünde, ein Verbrechen an dem Dorf und an dem gesamten Leben, Tiere mutwillig zu töten, ohne sie zu essen oder ihre Felle benutzen zu müssen. Jessica hatte den Sinn nicht verstanden, den Tirata hinter der aus ihrer Sicht bösen Absicht gesehen hatte. Jessica hatte es nicht verstehen können, als Tirata gesagt hatte, es ginge darum, die allseits bestehende Angst im Dorf dahingehend zu schüren, dass Hass entstand, der der Neugierde diente. Jessica hatte es nicht verstanden, dass diese Tat dazu beitragen sollte, dass die Menschen gezwungen werden sollten, dem Unheimlichen in der Corrin-Höhle in die Augen blicken zu wollen. »Es wird mir keine Freude machen, die Tiere zu töten. Aber die Angst wird sie plagen, und sie werden sie überwinden wollen.« Hier hatten Jessica erstmals Zweifel geplagt, ob es richtig war, sich auf Tirata einzulassen. Wenn Tirata auch einen Sinn verfolgen mochte, so konnte Jessica ihn nicht verstehen »Du wirst es eines Tages begreifen«; hatte Tirata ihr gesagt. »Keine Sorge, du wirst es verstehen. Was ich nun tun muss, ist wichtig. Der Zeitpunkt ist gekommen.« 
Das überzeugte Jessica zunächst. Doch als dann die Tiere tatsächlich am nächsten Morgen abgeschlachtet auf den Weiden gelegen hatten, hatte Tirata draußen gesessen und in den Wind hineingesagt: »Der Wind von Irgendwo ist da. Und er reißt sie mit. Niemand kann ihn jetzt noch aufhalten.« Und Jessica hatte sich gefürchtet. 
Im Dorf war es still, denn sie standen schweigend vor ihren Häusern, die sie nun für immer verlassen würden, und warteten auf den Aufbruch. 
Die Schatten warfen sich wie Sklaven zu Boden und verrenkten sich bis zur Unkenntlichkeit, alle Wagen und Fuhrwerke standen mit allen Habseligkeiten bepackt in einer langen Reihe. Kisten und Stoffrollen lagen darauf, mit Seilen und Tierdärmen zusammengehalten. In den Häusern gab es nichts mehr, was sie hier noch hielt, kein Ding, kein Traum, keine Vorstellung. Tirata hatte ihnen geraten, sich dem Wind von Irgendwo zu beugen, und genau das würden sie nun tun. Diese Endgültigkeit ängstigte nicht wenige – nicht jeder wollte in den Horizont blicken oder sich vorstellen, dass dort hinten etwas Neues auf sie warten mochte. Dass sie gehen würden, weit über die Grenze ihrer Felder und den alles umschließenden Wiesen und Weiden hinaus. 
Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatten, was kommen würde, so konnte es nicht mehr schlimmer kommen als das, was sie im Dorf erwarten würde, wenn sie blieben. Immerhin blieb ihnen nun die Hoffnung, dass Maraim oder das, was statt seiner bösartig darauf wartete, zuzuschlagen, besiegt werden könnte.
Es waren zwölf Männer, die zuvor in die Corrin-Höhle ziehen wollten, um sich dem Schrecken zu stellen. Sollten sie sterben, dann war dies der Preis, den zu zahlen sie bereit waren. Kämen sie nicht zurück, so würde man ohne sie weiter ziehen, hoffend, dass das Böse ihnen nicht folgen würde.
Diesen zwölf waren jetzt schon ewiges Andenken sicher – immerhin. Niemand würde ihre Namen vergessen und das, was sie zu tun bereit gewesen waren. Unter ihnen war auch Mark, in dessen Gesicht sich Entschlossenheit und Leere spiegelte. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, mitzugehen und notfalls sein Leben zu lassen. Er wollte allem ins Gesicht sehen, was immer sich ihm auch in den Weg stellen wollte, und niemand hasste das Dorf und die Weiden und die Bäume und die Berge so sehr wie er. Er wäre auch allein aufgebrochen, um alles hinter sich zu lassen. So war der Einzige gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Seitdem sahen ihn alle mit anderen Augen an. Sie näherten sich ihm anders, die Kinder blickten schweigend zu ihm auf, und als Morkus ihm entgegenkam, wollte der seine Hand auf Marks Schulter legen, doch hielt er inne und zog seine Hand wieder zurück. 
Sein Vater Lorn wollte nicht, dass er ging, hatte schließlich sich selbst angeboten, mitzugehen, doch Marks Entschluss stand fest. »Lass mich. Du kannst mitgehen, aber du kannst mich nicht abhalten.«
»Ich kann doch deine Mutter nicht allein lassen. Sie hat doch sonst niemanden mehr.«
»Dann bleib bei ihr.«
»Und wenn du nicht zurückkehrst?«
»Dann geht ohne mich.«
»Wie sollen wir dich einfach zurücklassen?«
»Und wie soll ich einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen? Ich muss und ich werde gehen, Pepe.«
Stumm hatten sie sich angeblickt, und selbst seine Mutter konnte nicht mehr tun als sagen: »Du musst zurückkommen. Und dann mit uns weiter ziehen. Töte, was du töten musst oder bring mit, was du mitbringen musst. Aber komm zu uns zurück. Sonst haben wir beide Kinder verloren.«
Mark erwiderte nicht mehr als ein stummes Nicken.
Die zwölf sammelten sich wie auf einen unsichtbaren Wink hin und bildeten eine Traube entschlossener Männer, von denen einzig Mark keine Furcht verspürte. Er hatte eine Mistgabel und eine starke Holzlatte bei sich, an seinem Gürtel hingen zwei Messer, und über seine linke Schulter trug er einen Beutel mit faustgroßen Steinen, den er schwingen konnte, wenn es nötig war. 
Die zwölf sahen sich an, nickten einander zu. Die Zeit war nun gekommen, aufzubrechen, und so zogen die zwölf los und ließen die anderen hinter sich, die ihnen schweigend hinterher blickten und nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen würden.
Marks Augen fielen sofort auf die Corrin-Höhle dort hinten, diesem Loch in den Bergen. Er musste sich nicht vornehmen, sich nicht zu seinen Eltern umzublicken – er hatte nur noch Augen für die Höhle. Maraim spukte vor seinem inneren Auge, alle möglichen Geister ohne besondere Form spukten da, er stellte sich Maraims Stimme ebenso vor wie Tiratas Lachen und ein Brüllen, das wer bislang noch nicht gehört hatte. Ihm war all dies egal, ihm war das Dorf egal. Er hatte seine Waffen und seinen Mut und seine Wut. Mehr wollte er nicht und mehr gab es für ihn nicht mehr.
Nicht lange, und er führte die zwölf an, wurde immer schneller, dass die anderen kaum Möglichkeit hatten, mit ihm Schritt zu halten. Schon keuchten die ersten und murrten die anderen, die Waffen seien zu schwer für die Geschwindigkeit, und dass sie es nicht durchhalten würden bis zur Höhle. Als jemand seinen Namen aussprach, hörte er es nicht. Als jemand seinen Namen rief, um ihn zum Innehalten zu bewegen, hörte er es nicht. Als jemand zu laufen begann, um zu ihm aufzuschließen und ihm atemlos sagte »Mark! Mach langsam, wir kommen nicht alle hinterher, so wie du gehst«, reagierte er nicht. Auch die Hand, die ihm auf die Schulter gelegt wurde, schüttelte er sie einfach ab, ohne seinen Blick zu wenden oder etwas zu erwidern. 

Derweil stieg die Sonne immer höher, und langsam wurde das Dorf hinter ihm kleiner. Die anderen elf kamen überein, dass es keinen Sinn machte, ihn aufzuhalten oder ihn zu einer langsameren Gangart zu bewegen. Stattdessen griffen sie ihre Sensen, Mistgabeln und sonstige Waffen fester und bemühten sich, nicht allzu weit zurückzufallen und das Tempo zu halten. Sie lamentierten leise untereinander, dass sie zu erschöpft sein würden, wenn sie endlich zur Höhle kamen, machten sich Mut, indem sie meinten, je früher sie dem Unbekannten ins Gesicht blickten, umso besser wäre es, flüsterten, dass sie doch lieber umkehren würden und schwiegen schließlich, während der Wind um sie herum in Wellen durch die Wiesen und Weiden blies.
Bald schon hatten sie den Punkt erreicht, den noch niemand von ihnen erreicht hatte. Die Welt sah fremd aus von hier. Sie warfen verstohlene Blicke über ihre Schultern und erschraken, als sie sahen, wie weit sie sich inzwischen vom Dorf entfernt hatten. Irgendwo hinten beugten sich die Bäume um Tiratas Haus, eine Ewigkeit entfernt, der Frauenbaum zeigte als Finger zum blauen Himmel. Ferne Punkte wuchsen zu wilden Hecken und Gruppen von Büschen. Sie entdeckten einen kleinen Tümpel, von Schilf umrahmt, unentdeckt bis zu diesem Moment, und sie staunten und fürchteten sich, während die aufsteigende Hitze des Tages ihnen den Schweiß auf die Stirnen und in die Kleidung trieb.
Sie durchquerten eine Senke, die sie noch nie gesehen hatten, sie gingen an einer Furche entlang, in die sich niedriges Gebüsch duckte. Irgendwo auf ihrem Weg lagen große Steine beisammen. Sie tranken beim Gehen aus ihren Schläuchen.
Mark schritt ihnen voran, ohne die Hitze zu spüren, ohne Durst zu bekommen, ohne den Dingen, an denen sie vorbei kamen, Bedeutung beizumessen. Weit hinter ihnen, im inzwischen klein gewordenen Dorf, standen sie, bereit, sofort loszuziehen und schwiegen und schauten ihnen noch immer hinterher.
Mark sah sich zu ihnen nicht ein einziges Mal um.

Der Tag reifte heran. Die Farben der Dinge wurden voller, die Linien klarer.
Jessica war neugierig auf das, was sie sehen sollte und befürchtete insgeheim, dass es nicht so aufregend ausfallen könnte wie sie es erwartete, obgleich sie nicht im Geringsten wusste, was sie erwartete. Sie wusste lediglich, dass Tirata ihr etwas anderes zeigen wollte die Corrin-Höhle, zu der die zwölf unterwegs waren.
»Was darin ist, ist nur für die anderen von Belang«, hatte Tirata gemeint, und Jessica hatte gebeten, dennoch hineingehen zu können, und Tirata hatte daraufhin verständnisvoll genickt und gesagt: »Du würdest enttäuscht sein.« Was Jessica nicht hatte begreifen können. Warum, war es für die anderen so wichtig, wenn sie davon enttäuscht sein sollte, und auch Tirata es offenkundig für unwichtig hielt? Warum sollte das, was darin lag, das Leben der anderen verändern, nicht aber das ihre? 
Ihr kam der Verdacht, dass Tirata ihr möglicherweise etwas vorenthalten wollte. Oder war etwa das, was Jessica sehen sollte, nicht für die anderen bestimmt? »Der Wind von Irgendwo wird sie in die andere Richtung treiben, fort von den Bergen«, hatte Tirata gemeint, was immer das zu bedeuten hatte.
Während sie gingen, stellte Jessica fest, dass der Wind durch die Büsche und Bäume strich und Geschichten erzählte, die sie nicht verstand. Hier waren sie mittlerweile so weit vom Dorf entfernt, wie sich sonst niemand vorher in Richtung Berge gewagt hatte, mit Ausnahme Tiratas. 
Hier sprach der Wind eine andere Sprache, hier wollte es Jessica scheinen, als wüchse hier etwas anderes als in der unmittelbaren Nähe den Dorfs. Sie gingen die Berge hinauf, und anfänglich machte es keine Schwierigkeiten, die Steigung zu überwinden, aber je weiter sie gingen, um so steiler wurde es an einigen Stellen. Jessica keuchte und unterdrückte sich jegliches Jammern, auch wenn ihre Beine manchmal nicht mehr wollten. Sie wollte Tirata um keinen Preis verärgern, dafür war ihr das, was sich anbahnte, viel zu wichtig. 
Und je länger sie sich in der Ferne aufhielt, ja sogar immer weiter in dieser fortbewegte, erschienen ihr die Ferne und Fremde immer weniger fremd. Aber dass hier ein Land war, das hinter den Barrieren für derer im Dorf lag, das wusste sie; und das machte alles so spannend für sie.
Irgendwo links von ihnen lag die Corrin-Höhle, und jedes Mal, wenn Jessica in die Richtung spähte und versuchte, zu erraten, wo genau sie lag, klopfte ihr Herz stärker. 
Sie war sehr dankbar, wenn der Weg abflachte und normales Gehen möglich war. Sie gingen an Baumreihen entlang, die sie nur aus weiter Ferne gesehen hatte, an Wiesen vorbei, auf denen sich die Insekten wie überall tummelten; und der Wind wehte ihr Summen zu ihr, wie auch das Rascheln von Laub und Geäst.
Plötzlich hielt Tirata unter einer Baumgruppe an. Jessica kannte solche Bäume, sie wuchsen auch unweit vom Dorf.
»Es ist nicht mehr so weit«, meinte Tirata, als sie sich ins Gras setzte. »Aber machen wir eine kleine Pause, du musst ziemlich erschöpft sein.«
Jessica nickte dankbar und setzte sich ebenfalls, breitete ihre Beine aus und sah in den blauen Himmel. Sie sah Vögel daran vorbeiziehen, und sie blickte ihnen nach – wohin mochten sie fliegen? Was sollten sie sehen, wenn sie weiter dorthin flogen, wo noch kein Mensch gewesen war? Die Vögel überlegten sich nicht, warum sie so weit fort flogen, sie flogen einfach weit, weit über die Grenzen hinaus, die sich den Menschen stellten. Die Vögel konnten ihren Blick über die Berge hinaus richten, so als wäre das, was sich auch dahinter immer verbergen mochte, ihnen vertraut. Sie konnten auch über die Wälder blicken, den Fluß entlang, und nichts hielt sie auf, sie ließen sich vom Wind einfach treiben oder stemmten sich ihm spielend entgegen.
»Warum ist noch nie jemand so weit gegangen wie die Vögel fliegen?«, fragte Jessica schließlich. »Hat es uns jemand verboten?« Dabei sah sie weiter in den Himmel.
»Nein, verboten hat es ihnen niemand«, hörte sie Tirata links neben sich sagen. »Aber sie gingen trotzdem nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Warum tun es die Vögel und nicht wir?«
»Weil die Menschen keine Vögel sind.«
»Das weiß ich. Aber warum tun sie das, was wir nicht tun? Ist es für uns gefährlich? Werden wir gefressen? Und wenn, warum dann nicht die Vögel?«
»Das einzige, das uns fressen kann, sind wir selbst. Wir gingen nicht, weil wir uns selbst fraßen. Die Vögel fliegen, weil sie es tun müssen. Weil sie nicht überlegen. Wir aber zweifeln, fürchten und zögern, und daher gingen wir nicht.«
»Was haben wir uns denn gedacht, dass wir nicht gingen?«
»Dass alles um uns gefährlich ist.«
»Ist es das denn?«
Tirata holte Luft. »Es kommt darauf an, wie du Gefährlichkeit siehst. Es gibt verschiedene Arten von Gefährlichkeiten. Wenn ein Tier aus Instinkt heraus nicht auf einen Baum klettert, dann unterlässt es das deswegen, weil es weiß, dass es hinunterfallen und sterben kann. Sein Leben ist gefährdet, also ist der Baum für das Tier in dieser Beziehung eine Gefahr für sein Leben. Wenn wir uns nicht trauen, irgendwo hinzugehen und etwas zu ergründen, dann deshalb, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie Tiere auch. Sie lernen, etwas nicht noch einmal zu versuchen, wenn es schlecht oder gefährlich für sie ist. Auch die Menschen lernen, dass wir Dinge tun sollten und andere nicht. Aber vieles von dem, was wir nicht mehr tun, gefährdet aber längst nicht unser Leben.  Wir lassen es aus Bequemlichkeit, aus Furcht vor Schmerz oder Anstrengung. Wir lassen es, obwohl unser Leben nicht gefährdet ist. Die einzige Gefährdung liegt in einem Schaden, den wir nicht erleiden wollen.«
»Was hat das alles mit uns zu tun?«
»Wenn wir da bleiben, wo wir wohnen und uns nicht wagen, uns davon zu entfernen, muss etwas geschehen sein, das uns davon abhält, es zu tun, nicht wahr?«
Jessica versuchte zu folgen, überlegte eine Weile und nickte schließlich.
Tirata fuhr fort: »Das, was uns davon abhält, fortzugehen, kommt von mir und meinen Vorgängerinnen.«
Jessica sah überrascht auf. »Was habt ihr damit zu tun?«
Tirata seufzte. »Die Menschen haben Angst vor der Erkenntnis. Und manchmal ist es besser, sie in dieser Angst zu belassen und dafür auch etwas zu … – lügen. Dann nämlich, wenn man weiß, dass sich die Leute so an ihre Angst gewöhnt haben, dass sie mit der Wahrheit nicht umgehen können. Für die Wahrheit muss erst die Zeit reif sein.«
Wind strich über sie rauschend hinweg. »Und jetzt ist sie endlich gekommen. Jetzt hat alles Lügen endlich ein Ende.«

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 10: Beginn einer Odyssee komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 9 lesen

Wind strich über die Landschaft und brachte ersehnte Abkühlung. Er strich über die Landschaft wie schon seit Jahrtausenden zuvor, als die Berge noch schroffer gewesen waren. Der Wind formte die Landschaft, und er war wie ein schwer arbeitender Mann, der die Berge zu Hügeln abtrug, der Sand mit sich trug und so manche Skulptur schuf. Der Wind strich und strich und machte aus der Landschaft in Jahren, die kein Mensch zu überblicken vermochte, eine neue, eine sanftere; Höhlen und Gänge wurden gefräst, Steine geschliffen und ausgehöhlt, und in einer enormen Zeitspanne dann gingen die Steine in Wind über. Nichts trotzte ihm, nichts konnte sich ihm entziehen, wenn er, die Welt verändernd, über sie hinwegstrich und schliff und feilte, als wäre er mit der Welt nicht zufrieden. Der Wind war ein Künstler, der Jahrmilliarden lang schuf und schliff, und der, niemals mit dem zufrieden, was er schuf, stets damit beschäftigt war, seine Schöpfung perfekter werden zu lassen. So wie er schroffe Bergspitzen abtrug, so erschuf er auch so manche spitze Felsenkante, die dünner und dünner wurde und immer mehr anmutete wie eine schäumende Welle in brandender See.
Der Wind sollte erst dann zufrieden sein, wenn das Ende aller Tage gekommen war und nichts mehr da sein sollte, das es zu schleifen galt – wenn die Skulptur im Feuer der Zerstörung und Neuschöpfung geschmolzen und als Festes verlorengegangen war; erst dann sollte es keinen Wind mehr geben, der über die Lande strich und schuf und schliff und feilte und höhlte. Mit dem Vergehen der Skulptur verging auch der Künstler und würde dennoch nie versiegen, wenn ein anderer Teil von ihm ferne und unbekannte Skulpturen schliff über Milliarden von Jahren. Der Wind war unermüdlich und unsterblich, er, der Künstler von Skulpturen, deren Gesicht sich stets veränderte mit Epochen und Neuerungen. 
Auch nun kam er wohlig und unbekannt über die Welt und blähte das schlaff gewordene Segel des Schiffes des Lebens, mit dem sie auf eine Sandbank gelaufen waren.
Grüne Wellen brandeten um das Schiff und drückten es unermüdlich in eine bestimmte Richtung, und die Fische des Ozeans sprangen und hüpften aus der grünen und blütenbunten Gischt heraus, und etwas kam in Bewegung.
Mark stand mit Tsam nackten Fußes im Wasser des Bachs nahe dem Dorf und ließ seine Blicke über eine Landschaft wandern, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten erkannte, die er erst nun mit all ihren Einzelheiten aufzusaugen begann und war verblüfft über die vielen Kleinigkeiten, die ihm nun auffielen.
Plötzlich war er in der Lage, eine Distanz zwischen dem Dorf und dem Frauenbaum zu sehen –  etwa so groß wie zweimal das Dorf hintereinander. 
Die Bergkette lag, sah man vom Dorf zu Tiratas Haus, zur Linken des Dorfes, und sie war noch sehr viel weiter entfernt; vielleicht zehnmal das Dorf hintereinander und dann noch drei Male zehnmal das Dorf. Die Bäume, die die Berge bewuchsen, bildeten einen Wald entlang der Berge, die immer wieder von einigen Strecken von fünfmal das Dorf unterbrochen wurde, und bewachsen mit Wildwuchs aus Wiese, Blumen und Büschen.
Die Felder und Koppeln reichten nur zweimal das Dorf weit zur Bergkette hin, dafür aber sehr viel weiter in alle anderen Richtungen. Der Bach, in dem sie standen, war nur einmal das Dorf vom Dorf entfernt, ebenso wie Tiratas Haus – und so stellte Mark fest, dass Tirata gar nicht so weit vom Dorf entfernt lebte, wie er immer angenommen hatte, wenn er darüber nachdachte, dass die Bergkette mit dem schrecklichen Schlund der Corrin-Höhle so viel weiter entfernt war.
Und diese Höhle: sie lag so weit oben wie drei Male zehnmal die Höhe der Bäume um Tiratas Haus.
Hinter diesem schwang sich Landschaft mit Waldstücken und Koppeln, sie sich dazwischen schmiegten, und wilde Wiesen. Es gab überall zahlreiche Baumgruppen, Büsche, Sträucher und Wiesen, die sich ohne jegliche Ordnung ideal ergänzten.
Hinter dem Dorf, also in entgegengesetzter Richtung, sah er einen großen, dichten Wald in einer Entfernung von etwa zehnmal das Dorf. Es war der große Wald, in den niemand einen Fuß hineinsetzte, weil dort Dinge und Wesen lauerten, denen niemand gewachsen war.
»Tsam«, sagte Mark plötzlich und ließ seine Gedanken fliegen, »diese Wiesen sind so groß, größer als die Felder, ist dir das schon mal aufgefallen?«
Tsam schüttelte den Kopf. Er interessierte sich auch nicht dafür, wenngleich er seinen Blick über die Landschaft gleiten ließ. Für ihn sah die Welt so aus wie immer. Alles um ihn war nichts anderes als das, was das Dorf umgab, ohne es näher bestimmen zu können.
Mark tat einen Schritt im Wasser und sagte kein Wort. Und wie sie so gingen, huschten neue Gedanken durch Marks Kopf, und sie kreisten um so Vieles. Die Böen trugen das Gezwitscher der Vögel zu ihnen herüber, wie auch das Rausches des Windes in den Bäumen und Büschen. Das Wasser plätscherte, und es war so erfrischend kühl, dass Mark meinte, selten etwas derart Angenehmes erlebt zu haben. Die Hitze der letzten Tage war furchtbar gewesen. Sie gingen mit nackten Füßen über Steine und Sand unterhalb des Wassers, und sie entfernten sich mit der Strömung vom Dorf.
Mark dachte an Sarah und den weinenden Himmel. Er hatte mit Tsam darüber gesprochen, der gemeint hatte, dass der Himmel kaum darüber geweint hätte, da »der Himmel bestimmt Besseres zu tun hat, als nur darüber zu heulen, was du machst«, und es war Mark einleuchtend vorgekommen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass gleichzeitig im Dorf etwas geschehen war, dass dem Himmel mehr Grund zum Weinen gegeben hätte, und Schuld und Unbehagen waren von ihm abgefallen. Zudem hatte Tsam ihm auch gesagt, dass es »nicht falsch war, was du getan hast. Was sollte daran falsch gewesen sein? Dann müsste der Himmel dauernd weinen, wenn es einer tut.«
Und Mark fühlte sich nicht mehr bedrückt, im Gegenteil, er fühlte sich bestätigt. Zugleich hatte er aber auch entdeckt, dass er Tsam nun nicht mehr so blind vertraute wie früher und Sarah öfter vor Augen hatte als andere. Künftig sollte es Dinge geben, die nur Mark wissen sollte, da er fand, dass Tsam fortan nicht in alles eingeweiht werden musste.
Tsam spürte dies wohl, nahm es aber nicht übel, zumal es ihm in ähnlicher Weise mit dem Mädchen Alka erging.
Der Bach schlängelte sich weiter, in unbekannte Fernen, und sie waren schweigend dabei, ihnen entgegenzugehen. Fliegen und Bienen umsurrten sie, und hin und wieder scheuchten sie sie mit einer lapidaren Handbewegung fort.
»Was ist eigentlich mit deiner Schwester?«, brach Tsam das Schweigen, blickte aber auf das in der Sonne glitzernde Wasser des sanft fließenden Baches.
Mark zuckte mit den Achseln. »Sie spricht mit Tirata wie mit Ihresgleichen. Wir haben wohl eine spätere Wahrsagerin im Haus.« Ihm schauderte bei dem Gedanken, wenngleich er einräumen musste, dadurch dem Geheimnisvollen einen Schritt näherzukommen. Jessica war so jung und kindisch im Gegensatz zu ihm, und wie sehr hatte er sich immer darauf berufen können, sie mit Blicken, Worten und Gesten jederzeit zur Räson bringen zu können. Nun war es seine jüngere Schwester, die schon von allem mehr wusste als alle anderen im Dorf zusammen. Er kam sich wie ein Tölpel vor, der sich Zeit seines Lebens nicht der Tatsache bewusst gewesen war, überhaupt gelebt zu haben. Er verglich sich mit einem Träumer, der alle Zeit im Dämmerschlaf gelegen hatte, der nach Trunkenheit die Menschen überfiel. Er hatte die Konturen der Dinge nicht gesehen, er hatte die Dinge selbst nicht erkannt, und erst nun öffnete sich langsam das Auge des Wachen in ihm, das begann, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. So sah er den Bach vor sich, wie er sich durch das Land schlängelte, immer weiter dorthin, wo er niemals gewesen war, wo er vermutete, dass der Bach in ein finsteres Loch stürzte und tobte, wo alle Zeit endeten und alle Gedanken und alles Leben nichtig werden würde.
»Was wohl aus Maraim geworden ist«, fragte Mark in geistesabwesendem Ton in den Wind. »Vielleicht findet man ihn in der Corrin- Höhle.«
Tsam schluckte schwer. »Man wird ihn nie finden.«
»Glaubst du, dass er tot ist?«
»Ich weiß es nicht.« Eiskalte Wellen jagten ihm über den Rücken und Angst erfasste ihn. »Bewahre mich das Leben davor, dass man ihn findet, wie er tot daliegt.« Er stellte sich furchtbare Bilder vor, wie Maraims fetter Leib im Gras lag, umwölkt von Fliegen mit grünen Körpern und von Ameisen, die ihn langsam abtrugen. Er sah Maraim mit offenen und erstarrten Augen daliegen. Der Mund war offen wie die Corrin-Höhle, und Insekten fraßen seine Därme. Er sah Maraims Kleider im Wind flattern, er sah Verwestes, er sah an dem Kopf blanken Schädelknochen, auf dem grüne Fliegen saßen, und Tsam begann zu weinen. Angst übermannte ihn, Schuld lastete auf ihm, Ekel spülte in ihm hoch und so stand er da im Wasser des Baches und weinte plötzlich. Der Wind wirbelte seine Haare durcheinander, das Wasser umspülte seine Füße und Unterschenkel. Tsam sah in die Ferne, in die der Bach floss, und am Ende aller Wege sah er Maraims halbverweste Leiche, wie sie auf ihn wartete, um ihm mit knochiger Hand die Därme zu zerfetzen, während Tsam vor Schmerz und Panik schrie und schrie.
Sein Weinen war leise und Mark wurde bei dem Anblick schwer ums Herz. Aus Schmerz hatte er Tsam schon oft weinen sehen, wenn er sich an Dornen die Haut aufgerissen hatte oder auf einen Stein oder von einem Baum gefallen war. Aber wann hatte er ihn so weinen sehen wie nun? Mark wusste es nicht, und so stand er gelähmt da und sah Tsam an, seinen Freund, mit dem er die Kindheit verbracht hatte und das Erwachsenwerden erleben würde, bis der Tod kommen würde – und er sah ihn weinen, und Mark wusste nicht, was zu tun war. War bis vor ein paar Tagen eine Umarmung noch etwas Selbstverständliches gewesen oder etwas, das ihnen Spaß gemacht hatte, so wagte es Mark nun nicht mehr, Tsam nahezukommen, ihn zu berühren oder tröstend zu umarmen.
Der Wind umspielte sie beide und zog an ihren Haaren, und Mark stand mit trockener Kehle in zwei Metern Entfernung von seinem Freund, den er wie einen Freund liebte, den zu berühren es sich aber nicht mehr schickte.
Mark hob einmal kurz die Arme, gewillt, näher zu treten, doch er blieb stehen und schaffte es nach langer Zeit, ein kaum vernehmbares »Komm schon« hervorzupressen, das der Wind hätte sagen können, so leise und tonlos, war es. Doch Tsam hörte es nicht, und war sich im Klaren darüber ob er sich Mark um den Hals werfen sollte, oder ob es besser war, fortzurennen, da er sich schämte.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Mark leise. »Ich war es, der den Vorschlag gemacht hat. Hasse mich dafür und sieh mich nie wieder an, aber fühl dich nicht schuldig.« Ein Kloß wuchs  in seiner Kehle. »Es tut mir leid, was ich getan habe«, gab er leise zu. »Ich hatte doch nicht wissen können, dass …«
Tsam wollte Worte sagen, für die er weder Kraft noch Luft besaß. Denn obwohl es Marks Idee gewesen war, hätte er nicht mitmachen müssen, er hätte allen den Streich ausreden können. So drehte er sich um und lief davon. Er schämte sich seiner Schwäche, vor Mark die Fassung verloren und geweint zu haben. Der Wind kam näher und näher, und er trieb alles davon wie Blätter eines Baumes im Herbst. Tsam drehte sich nicht zu Mark um, der noch immer im Wasser stand und ihm schweren Herzens nachsah und nun selbst Tränen vergoss. Und irgendwann einmal sollte oder konnte der Tag kommen, an dem Gewalt alles zerstörte –  und wurden mit der Zeit wieder zu dem, was sie waren und standen zu ihren Gefühlen.
Als Mark Tsam fortlaufen sah, stürzte für ihn der Himmel ein, denn es war ihm nicht möglich, ihm zu folgen.
Und während Tsam ins Irgendwo lief, um dort von der Weite und Stille beschützt zu weinen, ging Mark in die andere Richtung des Irgendwo, das unendlich und überall um das Dorf war. Er ging den Bach weiter, darauf wartend, den großen Schlund zu sehen, in den der Bach stürzte und wo alle Zeit, alles Leben und alle Gedanken endeten.

Tiratas Haus war und blieb mysteriös. Abgeschirmt von der Sonne stand es nahe an den Bäumen, die nur Unverständliches von sich gaben, das nur von dem, der sie verstand, gehört wurde.
Jessica war abermals bei Tirata und sah sich die vielen Dinge an, die Tirata darin aufbewahrte. 
»Je mehr du weißt, umso mehr tritt das Augenmerk für das wirklich Wesentliche in den Vordergrund. Wissen tötet Neugierde und weckt Interesse.«
Jessica wusste, was bevorstand. Sie wusste, dass man morgen aufbrechen wollte, um das Irgendwo zu ergründen. 
Tirata war hinter einem Regal verschwunden, in dem sich viele Bücher stapelten. Obgleich Jessica wie jeder andere im Dorf wusste, was Bücher waren, so war niemand außer der Wahrsagerin befähigt, zu lesen und somit zu ergründen, was sich Geheimnisvolles zwischen den Einbänden verbarg. Tirata holte nun eines dieser Bücher hervor, und Jessica sah darauf, als die Frau damit auf sie zukam. Das Buch war so groß, dass es Jessica von den Fingerspitzen bis zur Armbeuge gereicht hätte. Da das Sonnenlicht keinen direkten Weg ins Haus hatte, war es zwielichtig im Raum, als Tirata sich zu ihr setzte und das Buch vor sich auf den Tisch legte. »Früher einmal gehörten Bücher zum normalen Leben«, begann Tirata, »und jeder konnte sie lesen. Nun, und das tat man auch.«
Jessica sah auf das Buch, das ihr nichts bot. »Und was stand darin?«
»Das kam auf das Buch an. Tatsachen, Ratgeber, aber auch Geschichten, und die haarsträubendsten dazu. Früher einmal zog man Wissen und Freude aus den Büchern.«
»Und warum jetzt nicht mehr?«
Tirata sah Jessica an und sagte lange Zeit nichts. »Nun, die Zeit können wir nicht aufhalten. Wenn es Zeit wird zu schlafen, gehen wir schlafen. Ist es Zeit, die Felder zu bestellen, bestellen wie die Felder. Und ist es Zeit zu sterben, dann sterben wir. Die Zeit bestimmt unser Leben, und wir, die wir nicht Herrscher der Zeit sind, sind ihre Sklaven. Wir fügen uns. Es muss so kommen, und es kam so. Die Zeit hat es bestimmt.«
Jessica verstand nicht viel von dem, was Tirata ihr sagte. »Aber warum sagen wir nicht einfach, dass wir uns nicht von der Zeit bestimmen lassen wollen?«
Über das faltige Gesicht Tirata huschte der Anflug eines Lächelns. »Wenn ich der Zeit sagen könnte, dass sie stillstehen solle, würde ich nicht älter. Und ohne Älterwerden kein Sterben – und das widerspricht der Natur. Alles vergeht einmal. Irgendwann werden Bäume schwach und morsch. Irgendwann begräbt ein Erdrutsch eine Wiese. Irgendwann versiegt ein Fluss. Und das ginge nicht ohne die Zeit. Was, wenn wir nicht stürben? Dann wären wir lebendig auf alle Zeit, und wir könnten denen, die nach uns kommen, sagen, was zu tun wäre und was sie lieber lassen sollten.«
»Das wäre doch gut, oder?«
»Der Mensch ist nicht zum Perfektsein geboren. Erst das, was nach ihm kommt, wird es sein.«
»Und was wird das sein?«
»Unsere Nachkommen in weiter, weiter Zukunft. Aber dann sind sie keine Menschen mehr – dann sind sie Götter.«
Wieder verstand Jessica nicht viel, doch sie vermied es, nachzufragen. Sie wollte ein kluges Kind sein, das mehr und mehr erfuhr, solange es nur so tat, das zu verstehen, was man ihm sagte.
Tirata wusste, wovon sie sprach. »Wenn morgen ein paar Männer aufbrechen, dann wird dies ein Schritt dahin sein. Aber was suchen sie, was meinst du?!«
Jessica überlegte. »Sie gehen in den Wald.«
»Und was sollten sie dort finden?«
»Böse Geister?«
»Vielleicht. Was noch?«
»Böse Schatten?«
»Möglich. Was noch?«
»Wölfe?«
Tirata winkte ab. »Was, wenn sie nichts anderes finden würden als einen Wald, der so aussieht wie ein Gruppe von Bäumen, wie sie überall stehen und wachsen, und zwischen denen Gras auf dem Boden wächst oder Pilze, oder zwischen denen einfach nur Laub liegt? Was, wenn in diesen Bäumen nichts anderes haust als die Vögel, die wir alle schon kennen?«
Jessica schürzte die Lippen. Für sie sah der Wald anders aus, und es überstieg ihre Vorstellungskraft, glauben zu können, dass nichts Böses darin war. Schließlich hatte es immer so geheißen, dass dort Böses hauste. 
»Was ist Wahrheit, Jessica? Das, was alle erzählen, oder das, was wirklich wahr ist?«
Jessica sah Tirata an und verstand die Frage nicht.
»Stell dir vor«, fuhr Tirata fort, »jemand sagt, dein Pepe wäre kein Mann, sondern eine Amsel.«
Jessica kicherte und fand die Vorstellung daran lustig. »Ich aus einem Ei, und Mama als Glucke darauf …«
»Bleib ernst, Jessica«, ermahnte Tirata, und Jessica fuhr zusammen. Tirata sagte weiter: »Jemand sagt, dein Pepe Lorn wäre eine Amsel. Was würdest du ihm darauf sagen?«
»Dass mein Pepe mein Pepe ist. Und keine Amsel.«
»Warum kann er keine Amsel sein?«
»Weil ich weiß, dass er keine ist.«
»Nein, nicht nur das, Jessica. Weil du ein Mensch bist, und dein Vater auch. Und eine Amsel ist kein Mensch, sondern ein Vogel, eine Amsel. Also hat der, der das gesagt hat, doch gelogen, oder?«
Jessica nickte.
»Siehst du. Wenn jemand sagt, du seist Mark, dann sagst du doch, dass du Jessica bist. Weil du ein Mädchen bist und Mark ein Junge, kannst du nicht Mark sein. Auch der, der sagt, dass du Mark bist, hat gelogen – oder er weiß es einfach nicht anders. Verstehst du den Unterschied zwischen der Wahrheit und dem, was man sagen kann?«
Jessica verstand und nickte. 
»Verstehst du jetzt auch, warum der Wald nicht böse sein muss, nur weil alle sagen, er wäre es?«
Wieder nickte Jessica.
Tirata klatschte befriedigt in die Hände. »Sehr gut. Jetzt nehme ich dich mit auf die Odyssee.« »Was ist eine Odisee?«
»Odyssee. Eine Reise. Ein Abenteuerspaziergang. Morgen, wenn die Neugierigen aufbrechen, brechen auch wir auf. Und jetzt geh zu deiner Familie nach Hause. Wir sehen uns morgen.«

Im Sonnenuntergang herrschte Stille in Lorns Haus. Weder Mark noch Jessica waren bisher gekommen, und obwohl sich Lorn und seine Frau nie um ihre Kinder gesorgt hatten, so war diesmal alles anders. 
Die Kinder spielten nicht draußen, und es war so seltsam still, dass Lorn meinte, er sei allein im Dorf.  Seine Frau war bei Nachbarn und sponn dort Fäden.
Auch er sollte morgen dabei sein, wenn man aufbrach, um ein wenig von dem Irgendwo zu sehen, das überall um sie herum war, Und wie üblich, konnte Lorn, verstrickt in die Ereignisse wie alle anderen, die Gründe für Aufbruch und Veränderung nicht recht nachvollziehen. Im Dorf, in dem alles seinen gewohnten Gang gegangen war, war eine Veränderung über Jahre hinweg schon schnell, so dass die Veränderungen der letzten Tage ein wahre Flut an neuen Eindrücken heraufbeschworen hatte, die niemand mehr verstand. Die Ereignisse waren ihnen allen aus den Fingern geglitten, und sie konnten nichts anderes tun, als auf den Wind von Irgendwo zu warten.
Die Tür öffnete sich und er drehte sich um. Im durch die Türöffnung fallenden Sonnenschein sah er eine kleine Silhouette Jessicas, um deren Konturen die Strahlen der Sonne leuchteten wie um eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Lorn saß mit verdrehtem Hals auf dem Stuhl und fühlte seine Kehle trocken werden. 
»Hallo, Pepe«, sagte die Gestalt, und als sie  aus dem Licht heraus- und in das Haus hineintrat, sagte Lorn nichts. Er sah sie nur befremdet an.
»Gehst du morgen auch mit den anderen?«, fragte Jessica unbekümmert und setzte sich zu ihm an den Holztisch.
Lorn saß da und starrte sie an. Er konnte das, was er empfand, nicht in Gedanken, geschweige denn in Worte fassen.
Jessica saß am anderen Ende des schützenden Holztisches und blickte ihn fragend an. Sie sah genauso aus wie früher zu Zeiten, da sie noch seine Tochter gewesen war. Aber nun suchte er Beweise in ihrem Gesicht, die darauf hindeuteten, dass sie verwandelt worden war.
»Pepe. Ist dir nicht gut?«
Es war so gespenstisch still im Haus, dass Lorn das Herz bis zum Hals schlug.
»Wo ist Mama?«
»Weg«, antwortete er geistesabwesend.
»Und Mark?«
»Weiß nicht.«
»Was ist mit dir?«
Wenn er es gewusst hätte, wäre er in der Lage gewesen, es zu überwinden, aber dieses Wesen da am anderen Ende des Tisches … – es sah aus wie Jessica, sie sprach wie Jessica. Aber da sie freiwillig zu Tirata gegangen war, war sie nun eine andere. Nicht mehr seine Tochter. In ihren Augen lag nun etwas Anderes, Neues. Er konnte daran erkennen, dass sie nun von Dingen wusste, die Tirata wusste und sonst niemand. Dingen, die sie verändert hatten. Er sah, wie Jessica ihn anblickte. Das Unschuldige, Kindliche war aus ihrem Blick verschwunden. Er hörte es in ihrer Stimme: Da schwang etwas mit, das er nie in Jessicas Stimme gehört hatte. Bislang hatte ihre Stimme stets nach kindlicher Neugier, kindlicher Unsicherheit, manchmal auch kindlichem Trotz geklungen, wie es sich für eine Kinderstimme gehört hatte.
Doch nun klang ihre Stimme anders. Wie sie ihn schon mit »Hallo, Pepe« begrüßt hatte. Wie eine Erwachsene hatte das geklungen, als sei Tirata in sie eingefahren und hätte aus ihr gesprochen. Wie reibend ihre Frage geklungen hatte, ob auch er morgen mit den anderen aufbräche. Und diese Mischung aus Fürsorge und Zweifel, ob etwas mit ihm sei.
Was Tirata auch immer seiner Jessica angetan hatte, es hatte sie ihm genommen, sie ersetzt gegen etwas anderes.
Er hörte sein Blut in den Ohren pochen. Es gab Geschichten von diesen ausgetauschten Menschen, die die Vorgängerinnen von Tirata immer wieder ins Dorf zurückgeschickt hatte. Diesen Ausgetauschten, die so verändert waren, dass man ihr Wesen nicht mehr wiedererkannte.  Dass solch ein Wesen eines Tages in seiner Hütte stehen könnte, hatte Lorn nie für möglich gehalten.
»Wie war’s bei der Hexe?«, fragte Lorn nun mit erstickter Stimme wissen.
»Sie ist keine Hexe. Sie ist eine ganz normale Frau, die mehr weiß als wir. Mehr nicht.«
»Und was weißt du, was wir nicht wissen?«
»Sie hat mir viel erzählt.«
Lorn schauderte es. Er sah sich nachts in seinem Bett in schrecklichen, unwirklichen Träumen wälzen, in denen er von Dämonen auf Knochenpferden gejagt wurde, denen roter Dampf aus den Nüstern stob. Die Kreaturen auf den Pferden schwangen Sensen, an denen Blut klebte, und er sah sie mordend durch das Land ziehen, sah seine Nachbarn, Freunde und seine Familie mit Ausnahme Jessicas vor Angst schreiend durch das Dorf rennen, gehetzt von reitendem Tod und Moder, der die Menschen im Laufen zerfetzte, die Arme, Beine und Köpfe abschlug, seinem Sohn eine Axt in den Schädel rammte, dass Blut und Hirn eben ihm ins Gesicht spritzte, der daraufhin schrie und schrie, bevor er von einer Kreatur fortgetragen wurde, fortgetragen aus dem Dorf der Zerstörung, in dem zerfetzte Leichen zwischen brennenden Häusern auf dem Boden lagen, hingetragen zu Tiratas Haus, wo Jessica lachend saß und anordnete, dass man ihm das Herz aus dem Leibe reiße. 
»Warum bist du nicht dort geblieben bei der Hexe?«, wollte er leise wissen, nicht wissend, wie sehr er damit seiner Tochter das Herz zerriss.
Jessica schluckte. »Weil es spät ist und ich nach Hause kommen wollte.«
»Ist dein Zuhause denn noch hier? Was willst du hier? Deine Sprüche aufsagen und uns verzaubern?«
»Tirata kann doch gar nicht zaubern«, verteidigte sich Jessica und spürte Tränen aufsteigen.
»Geh zu deiner Hexe. Geh zu ihr, wo jetzt dein Zuhause ist. Hier ist es nicht mehr. Und du bist nicht meine Tochter. Du bist jetzt ihre Tochter.«
»Aber Pepe …«
»Raus hier!« schrie er, so laut er konnte. Dabei schossen ihm Tränen in die Augen. Der Gedanke, nun ein Wesen zu sehen, das sich als seine Tochter Jessica ausgab, aussah wie sie, ohne sie wirklich zu sein, war für ihn reinste Folter. 
Jessica zitterte weinend. »Pepe. Pepe!«
Lorn war außer sich. »Raus hier! Raus hier! Ich will dich nicht sehen! Verschwinde!« Und er weinte wie seine Tochter, die er nicht mehr als solche betrachtete.
Jessica lief aus dem Haus und sah nur die Möglichkeit, ihre Mutter zu suchen, die sich in irgendeinem Haus aufhielt, und so lief sie zu dem Nachbarhaus. Die Bewohner, die sich gut kannte und die sie gut kannten, sahen sich erschrocken um, und der Schrecken wollte auch nicht aus ihren Zügen weichen, als sie wussten, wer hereingestürmt war. Als Jessica mit heller, erstickter Stimme nach ihrer Mutter fragte, sagten sie ihr: »Tirata ist in ihrem Haus. Verschwinde.«
So erging es ihr in allen Häusern. Sie konnte nicht ahnen, dass sich ihre Mutter versteckt hielt, als sie sah, wer angelaufen kam. Sie weinte in ihrem Versteck, denn sie hatte keine Tochter mehr.
Und Jessica erfuhr den Preis, den man hier für das Wissen bezahlen musste.

EPISODE:
HERRIN DER ZEITEN

Längst Vergangenes dämmerte herüber, längst Verlorenes. Jessica war eingeweiht worden, indem Tirata ihr Stund um Stund berichtet hatte, was sie waren und woher sie kamen. Und all dies war so unfassbar gewesen, dass all das, was sie gehört hatte, zu ihr in den Schlaf kam und sie sanft weckte. Es rief ihren Namen, leise, flüsternd. »Jessica. Jessica. Wach auf.«
Sie wachte auf und lauschte der Zeit, die sie geweckt hatte.
»Komm, Kind«, sagte die Zeit, und sie war freundlich. »Ich nehme dich mit auf eine Reise.«
Wohin sie denn ginge, wollte Jessica wissen.
»Ins Irgendwo«, sagte die Zeit und streckt ihre Hand aus. Und für Jessica begann eine Reise durch die ewige, allgegenwärtige, stets verstreichende Zeit.
Die Reise ging weit, weit zurück, weiter, als man es sich vorstellen konnte.
Sie sah Glut, Feuer und gnadenlose Hitze. Heftige Stürme jagten über das junge Land, und viele Tiere rasten über den Planeten. In einer Sekunde wurden sie erschaffen und lebten und bevölkerten, in der nächsten starben sie aus und waren auf ewig verschwunden.
Dann erkannte sie ihr ähnliche Wesen, und die Zeit sagte ihr, dass dies Menschen wie sie seien, nur dass diese sehr viel früher gelebt hatten.
Diese Wesen, die ihr so ähnlich waren, machten sich die Welt untertan, sie lebten mit ihr, von ihr, aus ihr.
Sie sah wilde Formen und Menschenmassen, sie sah Dinge, die sie noch niemals zuvor gesehen hatte und war verwundert darüber, dass all dies schon einmal da gewesen war.
Die Menschen waren im Himmel, über der Welt und bald gar über den Himmel hinaus. Und das, was die Menschen dahin trieb, machte aus ihnen selbst etwas anderes. Ihr Denken stockte zum einen und verselbständigte sich zum anderen, und immer wirrer und schlimmer wurde das, was kam. Die Zeit, die raste, war mit den Menschen, wie es schien, denn diese wurden immer großartiger und besser, aber zugleich war die Zeit auch zu langsam. Es war, als hätte eine göttliche Intrige, die von solch hoher Stelle eingefädelt worden war, dass niemand sie verstand, die Menschen in eine Sackgasse getrieben, denn ihr Wissen wuchs schneller heran als ihre Fähigkeit, mit all den Auswirkungen des Wissens umzugehen.
Es waren diese Auswirkungen, die die Menschen, zerrüttet und von verschiedenen Glauben getrennt, zum Aufbruch trieben in ein anderes Zeitalter. Nach einigen Generationen hatte man die Herkunft vergessen, und nur einige wussten noch von ihr. Sie hatten sich dereinst in einer Höhle versteckt vor all denen, die sie niederstrecken oder mitnehmen wollten, und erst nach langer Zeit wagten sich die Menschen wieder hinaus.
»Siehst du«, sagte die Zeit, als der farbige Strudel der unglaublichen Veränderungen langsam im Hier und Jetzt zum Stehen kam, »so ist es gekommen, wie Tirata gesagt hat. Und es wird noch anders kommen. Der Wind von Irgendwo kennt keine Grenzen, und er wirbelt hin und her. Mal kommt er, mal geht er, mal verschwindet er, mal kehrt er zurück.«
Und Jessica fiel wieder in ihren tiefen Schlaf.

Ende des 10. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 11: Die Geißel der Angst

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 9: Am Feuer komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 8 lesen

Der Abend brach mit einem blutroten Sonnenuntergang an. Die untergehende Sonne ließ die Zwischenwesen aus den Schatten erschienen, die immer größer wurden, je tiefer die Sonne sank. Sie zündeten ein Feuer an und es war in der hereinbrechenden Nacht wie eine Insel in allumfassender Verlorenheit, um die sie saßen wie und nicht mehr weiter wussten.
»Ich habe meine Frau, meine Kinder, und eigentlich bin ich glücklich«, sagte ein Mann am Feuer, und alle lauschten seinen Worten, die das Knacken des Holzes übertönten, und alle, wirklich alle hatten sich versammelt. Dieses Feuer war zu wichtig, um ignoriert zu werden. Der Mann sprach weiter, während alle wie betäubt ins Feuer blickten: »Ich bestelle meine Felder wie alle anderen auch. Ich mache all das, was alle anderen auch tun, und das Zeit meines Lebens. Hat es mir geschadet? Nein. Ich bin glücklich. Ich habe alles, was man zum Leben braucht. Wir haben gefüllte Speicher, wir haben Scheunenböden mit Räucherfleisch, dass wir lange Zeit davon essen können. Wir haben nichts zu befürchten.«
In der einkehrenden Pause flüsterte nur das Feuer. »Und doch bin ich nun nicht mehr so glücklich wie sonst«, sprach er weiter, und seine Worte fraßen sich durch das Menschenrund.. »Wir bestellen noch immer die Felder, versorgen noch immer die Tiere und tun noch immer genau das, was wir schon immer taten, und was unsere Eltern und deren Eltern taten. Und doch ist es nun anders.«
»Wir sind nicht mehr glücklich«, meinte jemand.
»Und warum sind wir nicht mehr glücklich? Weil etwas auf uns zukommt. Weil sich etwas nähert.«
»Ich spüre etwas von Irgendwo.«
»Und was ist es?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
»Aber ich weiß es«, ertönte da plötzlich eine Stimme, und alle schraken auf. Aus der Dunkelheit schälte sich die Figur Tiratas aus der Dunkelheit wie aus einem Vorhang auf die Bühne des Geschehens, und die Herzen aller Anwesenden – einschließlich Jessicas – blieben kurz stehen.
Tirata gesellte sich zu ihnen, und man rückte aus Angst näher zusammen, um ihr Platz zu machen. Sie setzte sich wie alle anderen auf den Boden und reihte sich ein in das Menschenrund. Alle Augen waren auf sie gerichtet und niemand wagte es zu fassen, dass Tirata, die Wahrsagerin, in ihrem Kreise saß wie alle anderen. 
»Neue Zeiten brechen an, in der Tat«, begann Tirata mit erhobener Stimme, auf dass jeder sie verstand. »Warum sie nun gerade kommen, vermag ich nicht zu deuten, aber dass sie kommen, das ist sicher.«
»Aber was ist es?«, fragte Morkus. »Ist es der Mann aus der Höhle, der in meinem Buch ist?«
Tirata blickte in die Runde und sah die betäubten Blicke, die versteinerten Gesichter und die ins Leere laufenden Gedanken und sprach: »Das Neue ist immer wie der Wind, der über das Land zieht. Unvermittelt setzt er ein, und niemand weiß genau, aus welcher Richtung er genau kommt. Ein Wind kann unterschiedlich sei: er kann leicht über das Land gleiten und Erfrischung bringen. Er kann Kälte bringen, er kann stark sein und Bäume entwurzeln. Die Gräser machen es uns vor: sie neigen sich mit dem Wind, die bieten ihm nicht die Stirn. Sie lassen sich beugen.«
»Aber warum will uns der Wind beugen?«
»Weil es wohl an der Zeit ist. Er kommt einfach und geht wieder. Er sucht sich keinen bestimmten Zeitpunkt aus.«
»Aber warum verschont er uns nicht?«
»Warum sollte er? Warum sollte uns dieser Wind verschonen?«
»Warum nicht? Bisher hat uns dieser seltsame Wind doch auch verschont.«
»Ich sagte doch, dass er kommt, wann er will, und nun ist es an der Zeit. Und wir sollten wie die Gräser sein.«
»Ich will mich nicht beugen. Und vor was? Was bringt uns dieser Wind?«
»Auch das sagte ich schon.« Tiratas Worte ließen das Menschenrund zusammenrücken. »Veränderung. Neues. Es muss einfach so sein. Es kommt einfach grundlegend Neues.«
»Woher kommt dieser Wind?«, fragte der alter Mann.
»Wie du es schon eben gesagt hast. Von Irgendwo. Von Ich-weiß-es-nicht. Aber von irgendwo kommt er.«
»Wer schickt ihn?«
»Jemand. Etwas. Vielleicht erfahren wir es, wenn er kommt oder über uns hinweggegangen ist.«
»Kommt er aus der Corrin-Höhle?«
»Vielleicht kommt der Wind, um euch hereinzublasen.« Das blanke Entsetzen jagte durch den Kreis. »Ich habe von Morkus‘ Buch gehört. Und ich weiß auch von dem Gedanken, in die Corrin-Höhle gehen zu wollen. Vielleicht will das der Wind.«
»Warum sollte er das wollen?«
»Damit ihr es selbst herausfindet, was in ihr ist.«
»Es kann doch sein, dass dort dieser Mann ist, der uns Gutes tun will«, meinte Morkus schnell. »Und wenn nicht der Mann, dann Etwas, das so ist wie der Mann.«
»Aber das ist eine heikle Sache«, widersprach der alte Mann. »Seit ich zurückdenken kann, hat sich niemand von uns auch nur in die Nähe der Höhle getraut. Und ich habe nie gehört, dass irgend jemand es außer den Wahrsagerinnen versucht hat.«
Tirata ergriff das Wort. »Und warum hat es niemals jemand gewagt? Was meint ihr, dort zu finden, ginget ihr hinein?«
»Böses«, antwortete der Mann aus tiefster Überzeugung.
»Und dieses Böse«, meinte Tirata, während sie ihn mit funkelnden Augen anblickte, »hat welche Gestalt deiner Meinung nach?«
»Ich bin nie dort gewesen und habe es deshalb nie gesehen, und bei allen Mächten, ich möchte verdammt sein, wenn ich es sehen wollte.«
»Verdammt seid ihr ohnehin schon, sonst wäret ihr nicht dort, wo ihr jetzt seid: kauernd und ängstlich um ein Feuer sitzend und sich den Kopf darüber zerbrechend, was Furchtbares und Unaussprechliches in diesem tiefen Loch im Berg ist. Wäret ihr nicht verdammt, wüsstest ihr schon längst, woran ihr wäret.«
»Willst du uns etwa vorwerfen, dass wir feige sind?«, wollte der alte Mann von Tirata wissen. »Dass wir all die Jahre über zu feige gewesen sind, um in die Corrin-Höhle zu gehen?«
Tirata sah in die Runde und sah die fragenden Blicke. »Nun, jeder ist für sich selbst verantwortlich, nicht? Warum seid ihr nicht gegangen? Habe ich jemals gesagt, dass ihr es nicht dürftet? Habe ich euch jemals gesagt, dass euch Schlimmes darin erwartet? Ich habe nur gesagt, dass dort viele Geheimnisse lauern. Wenn ihr meint, den Geheimnissen entkommen zu wollen, so ist das eure Entscheidung und die Konsequenzen euer Problem. Ich bin nur zur Erklärung der Bilder hier, die ihr seht. Ginget ihr in die Höhle, sähet ihr Fremdes, und es dürfte euch fürchten, weil es euch zeigen wird, wer ihr seid und was ihr seid.«
»Willst du uns jetzt locken? Willst du, dass wir darin sterben? Dass wir aufgefressen werden von den Monstern, die darin lauern, und mit denen du einen Bund geschlossen hast?«
»Ihr werdet dort nicht gefressen werden, und von Monstren weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass etwas kommen wird, und ich weiß auch, was einst gekommen war. Ihr – ihr seid nichts. Ihr kennt eure Namen und die aller im Dorf, und ihr kennt eure Furcht, aber vor was ihr euch fürchtet, das wisst ihr nicht. Und ich stehe mit niemandem im Bunde, ihr Verrückten. Wahrscheinlich war es bisher immer besser, dass euch das vorenthalten geblieben ist, was sich um euch befindet, aber nun, da es wohl an der Zeit zu sein scheint, dass es sich euch offenbart, meine ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, es würde sich nicht zeigen, es würde nicht kommen. Ihr verdient vielleicht keinen Wind. So bleibt nur sitzen und fürchtet euch weiter. Aber nehmt euch ein Beispiel an dem Kind Jessica, die mutig ist, die wissbegierig ist, und die, wenn ihr so weiter bleibt, meine Nachfolgerin sein wird.«
Lorn schnürte es die Kehle zu, wie auch seiner Frau, die beide sich beide vorstellen wie ihre Tochter erst in Scherben fiel, um dann von einer Dämonin zu etwas Fremdartigen wieder zusammengesetzt zu werden, das nichts mehr mit dem gemein hatte, was sie einmal gewesen war.
»Der Zahn der Zeit nagt an euch. Und der Wind von Irgendwo, er kommt, ob ihr wollt oder nicht. Er ist schon da, Ihr spürt schon seine Vorboten. Ihr könnt euch nicht dagegen wehren.« So ging Tirata wieder ins Dunkel und ließ die Menschen allein am Feuer, das immer kleiner wurde, je weiter sie sich von ihm entfernte. Die Dunkelheit um sie herum schien immer größer und allumfassender zu werden.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und alle gingen in die selbe Richtung. Sie alle sahen einen Wind von Irgendwo auf sich zukommen, und die Gräser und Bäume neigten sich unter ihm. Dieser Wind war für sie so entsetzlich, dass er alles mitriss in diesen Gedankenbildern, auch ihre Kinder riss er mit, auf dass sie panisch schreiend für immer verschwanden. In ihren Gedanken wallte um ihre kleine Welt ein Ozean aus schwarzem Pech, der an die Rückseiten der Berge brandete und alles unter sich begrub, und den man erst sehen konnte, wenn man weit genug vom Dorf fortging. Sie sahen sich als Insassen auf einem schwankenden Floß, das auf einem unbeständigen, riesigen Wasser allen Stürmen und Gezeiten ausgesetzt war. Der Wind: würde er doch fortbleiben!
Würde dieser Wind doch im unbestimmten Irgendwo im seligen Nichts verlaufen!
Ihre Welt, ihre kleine Welt, die nun nichts war außer dem orangener Schein ihres Feuers: sie bot keinen Schutz mehr. Ein Wind konnte ihre Häuser niederreißen, ihre Tiere fortwehen, ihre Getreidespeicher zerstören und die Ernten vernichten. 
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, flüsterte einer.
»Und er wird hinter uns her rennen«, meinte ein anderer.
»Und er wird uns ein Loch in unser Leben blasen«, schloss ein Dritter.
Und sie alle wussten, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten.
»Vielleicht hat Tirata recht«, sagte Morkus. »Es kann doch nichts Schlimmes daran sein, in die Höhle zu gehen. Tirata hat nicht gesagt, dass dort tatsächlich etwas Schlimmes ist.«
»Und wenn doch?«
»Dann werden wir es sehen. Es kommt doch sowieso.«
Schweigen trat ein, und wieder flogen die Gedanken der Menschen wie die Funken des Feuers.
Hinauf in die Höhen, hinauf in die Sphären, in die selten ein Mensch sich vorgewagt hatte. Sie stiegen auf in Höhen, die sie nur von Erzählungen her kannten, und sie waren wie die Feuerfunken, die der Wind mit sich trug, mit sich trug zu fernen Dingen, und sie sahen vor ihren Augen Häuser, die es nicht gab oder doch irgendwann einmal gegeben hatte, und sie begannen sich zu fragen, wer wohl, was wohl diese Häuser errichtet haben mochte und wer wohl darin gewohnt hatte oder gar noch wohnte. Und wo dieses Irgendwo, sofern es existierte, wohl war; jedenfalls nicht bei ihnen im Dorf, das wussten sie alle. Sie wurden alle zu Funken, die der Mensch mit sich trug, und sie sahen auf die Corrin-Höhle hinab und taten so, als wären sie schon darin gewesen und stellten fest, wie stolz sie sich fühlten, wie gut und überlegen. Ja, vielleicht gab es Anderes, und sie stiegen höher und höher, hinauf in die Höhen, in die der Wind von Irgendwo sie trug, und sie alle blickten über die Berge hinweg und sahen den großen Wind von Irgendwo kommen, sie alle sahen ihn kommen.
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, meinte der alte Mann.
»Nein«, widersprach jemand, »er ist schon da. Er ist schon dabei, uns ein Loch in unser Leben zu blasen.«
»Ist es denn einfach ein Loch? Wird es nicht gestopft durch die Dinge, die der Wind mit sich trägt?«
»Wie auch immer. Wir können uns nicht wehren.«
»Werden wir also wie Gras.«
»Beugen wir uns.«
»Hinein in die Höhle.«
»Wer weiß, was uns Neues offenbart wird.«
»Denn ob wir wollen oder nicht – kommen wird er so oder so; gehen wir ihm entgegen.«

Ende des 9. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 10: Beginn einer Odyssee

Warum ich im Blog veröffentliche statt auf Plattformen

Wann ist eine Veröffentlichung eine »echte« Veröffentlichung? Diese Frage ist für Schreibende wie mich relevant. Wir, die wir schreiben, schreiben zwar in erster Linie, um zu schreiben – wir tun es für uns, wir tun es wegen uns – aber Publikum wäre dennoch schön. 

Da der Weg in Verlage oder Literaturzeitschriften steinig, langwierig und aus verständlichen Gründen auch oft unmöglich sein mag, bieten sich Plattformen an. Nach dem Motto: Account erstellen, einloggen, publizieren, Leserinnen und Leser finden.

Klingt einfach, verlockend und erfolgversprechend.

Aber ich will dennoch keine Plattform nutzen, sondern meinen eigenen Blog als Plattform verwenden. So sind Erzählungen wie Sag mir, wer du bist, Im Schweigen oder Das Ähm im M.’s Garten in der Nähe von Emsdetten sowie sogar mein kompletter Roman Der Wind von Irgendwo in meinem Blog Das hat verschiedene Gründe:

1. Ich kann enorm schnell veröffentlichen

Bei mir ist es WordPress-Blog, damit kenne ich mich aus. Da es mein eigener Blog ist, überlege ich gar nicht allzu lange, sondern konzentriere mich auf das, was ich tun will: Veröffentlichen – ich stelle online, was, wann und wie ich es möchte. Ich entscheide mich für ein Format selbst, eine Struktur, einen Termin. 

Bloggen mag manchen nicht gut genug sein, um als »veröffentlicht« zu gelten – dabei sehe ich viele Aspekte des »richtigen« Veröffentlichens eher als Ballast. Ich erziele schnell Ergebnisse, indem ich einfach selbst veröffentliche, was, wann und wie ich es möchte. 

Absolut großartig ist es für mich, gerade bei Kurzgeschichten und Erzählungen auf eine ganze Reihe von Texten zurückgreifen zu können, von denen viele bislang auch in Anthologien veröffentlich worden sind – aber ganz ehrlich: Auf meinem Blog erreiche mehr Leserinnen und Leser, denn er hat eine größere Reichweite als manche Plattformen, denn nur weil etwas auf einer Plattform veröffentlicht ist, heißt das nicht, dass die eigenen Texte auch gelesen werden. Wer in einem Genre schreibt, das untypisch für die Plattformen ist, kann unter Umständen mit einer Veröffentlichung dort wenig bis nichts erreichen, wenn die dort vernetzte Leserschaft solche Texte nunmal gar nicht mag. Da fühle ich mich auf meinem eigenen Blog wohler.

2. Die Freiheit, alle Inhalte unter einem Dach zu haben

Nein, ich habe weder vor Verlagen, noch vor Literaturzeitschriften kapituliert. Nein, ich habe mich nicht aufgrund einer oder mehrerer Absagen beleidigt zurückgezogen. Nein, ich reagiere mit meinem Vorgehen nicht auf »etwas«. 

Im Gegenteil:

Es geht mir um nichts anderes als meine persönlich Freiheit in allem, was ich tue. Wenn man das eigene Schreiben als »etwas Eigenes« betrachten kann und will, geht es in erster Linie einmal nur darum: Das Eigene. Und das hat zwei Dimensionen:

Denn ich möchte nicht nur meine Geschichten veröffentlichen, sondern diese auch bei Bedarf mit  zusätzlichen Inhalten anreichern wie begleitende Making-ofs, Hintergrundartikel und Blick in die Schreibstube, hätte ich diese gerne auf der gleichen Plattform wie die Geschichten selbst.

Geschichten wie Artikel sollen parallel laufen und untereinander verlinkt sein. Ein Plattformwechsel bringt aus meiner Sicht lediglich Unvollständigkeit. 

Ich möchte dies unter meinem eigenen Namen auf meinem eigenen Blog tun, der meinen Namen trägt, um so authentisch und persönlich wie möglich zu bleiben – was mir besser möglich ist, wenn ich alle Texte, Artikel und Bilder in meiner eigenen Blog-Plattform anbiete und verwalte.

Außerdem habe ich damit selbst in der Hand, mit welcher Art von Dateien ich meine Artikel und fiktionalen Texte anreichere, wie diese aussehen und welche Form sie haben. Diese Freiheit habe ich auf Plattformen nicht in diesem Maße, sondern muss mich an alle möglichen Regeln und Vorgaben halten, die nicht ich mache, sondern andere. Das ist nicht in meinem Sinne. 

3. Kontrolle über meine Dateien

Ich möchte selbst entscheiden, wem ich meine Texte anvertraue. Denn ich verstehe meine Texte nicht als »Content«, weder meine Artikel, und schon gar nicht mit meinen schriftstellerischen Texte.

Da ich von Texten spreche, die mir wichtig sind, ist es mir auch wichtig, wo ich sie platziere – und damit meine ich die Server und die Rechte, die ich habe bzw. abgebe.

Ganz klar: Die Server für meinen Blog werden in Deutschland betrieben und unterliegen den europäischen Datenschutzrichtlinien. Das war es dann auch schon.

Sie gehören mir, weil ich den digitalen Ort verwalte, an dem ich sie speichere.

Bei Plattformen ist das anders. Da wandern meine Texte auf Server, über die ich keine Kontrolle habe und unterliegen vielleicht Bestimmungen, die ich nicht möchte – und mit denen ich mich erst einmal befassen muss. Für mich ein Unding: Der Cloud Act, mit dem die USA automatisch Zugriff auf meine Daten haben, sobald ich meinen Blog etc. bei einem amerikanischen Unternehmen hoste – dabei spielt es keine Rolle, ob ich bei »der deutschen Tochter« eines US-Unternehmens bin. 

Ich finde das als Gängelung und sogar persönliche Frechheit. Natürlich kann jeder selbst für sich entscheiden, dass es keine Rolle spiele, da man »nichts zu verbergen hat«. Da schlägt in mir das europäische Revoluzzer-Herz in mir, das eine Allergie gegen diese untergeschobenen »Selbstverständlichkeiten« hat. 

Und ich möchte mich auch nicht erst mühsam durch endlose Bestimmungen von Plattformen lesen, um zu erfahren, wer da was mit meinen Daten machen kann – so ist es ja zudem möglich, dass Plattformen Inhalte sperren können, weil man gegen ihre Richtlinien verstößt. Da sträubt sich in mir alles.

4. Monitoring meines eigenen Handelns

Alles, was in meinem eigenen Blog passiert und angeboten wird, kann ich gut monitoren und aufeinander abstimmen. Es stimm natürlich, dass ich auch Inhalte auf anderen Plattformen monitoren kann, allerdings bin ich da auch limitiert. In meinem eigenen Blog unter meiner eigenen Domain profitiere ich selbst am meisten von meinen Artikel, Stories und Kapiteln – nun mag man völlig zu Recht einwenden, dass ein Text von mir auf einer gut gerankten Plattform eine größere Reichweite erzielen könnte, als lediglich als Post in meinem Blog.
Völlig richtig.
Allerdings ist es fraglich, ob diese Reichweite sich auch nennenswert in größerer Leserschaft niederschlägt. Aber das zu beobachten und selbst in der Hand zu haben, ist reizvoll.

Es gibt noch andere Punkte, die ich anführen möchte, spare mir die aber für einen eigenen Artikel auf, auch, um diesen nicht allzu lang werden zu lassen.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 6: Der Himmel weint komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 5 lesen

Mit dem Abend kam der Wind, der die Hitze wegfegte, und vom Himmel begannen die Sterne zu leuchten. Die Akteure und Komparsen traten auf. Sie kamen aus ihren Häusern – nicht alle gleichzeitig; aus Jasefs Haus kam Jasef selbst, schritt durch die Dunkelheit und die von den Grillen untermalte Stille und klopfte an ein anderes Haus, in dem er kurz verschwand und nach einiger Zeit mit einem Begleiter wieder erschien, um ans nächste Haus zu klopfen; und mit einem Mal war fast das ganze Dorf versammelt.
Ein Feuer wurde angezündet, und die orangeroten Flammen stachen wärmend in den Himmel, und das Universum, ausgebreitet als ruhiges Publikum in schwarzem Stoff und Pailletten, wurde aufmerksam auf den kleinen, strahlenden, flackernden Punkt inmitten der Bühne vor interessiertem Publikum in versteckten Logen.
Eine Tradition wurde fortgeführt: das Feuer! Mehrmals in der Woche wurde es gezündet, und Männer und Frauen begannen zu reden und zu erzählen, und viele Männer und Frauen sahen viele Dinge. Welche, die sie zu deuten nicht in der Lage waren. Welche, die geheimnisumwittert in der Umgebung und den Köpfen der Menschen spukten. Das Feuer war das Herz des Dorfes. Es gab da nichts, was wichtiger gewesen wäre. Es gab da nichts, was aufregender gewesen wäre. Wenn das Feuer inmitten des spinnenartigen Körpers des Dorfes zu knistern begann, schlugen alle Herzen des Dorfs im Gleichklang. Je nach Geschichte langsam und friedlich oder schnell und gehetzt. Dann hetzten Furcht und Aberglaube die ansonsten ruhigen Menschen von einer Paranoia in die nächste.
Nun leckte das Feuer gierig am Holz. Die Gesichter orangerot und flackernd, saßen sie um das Feuer und hörten zu, wie Jasef, einer der alten Männer mit dem Knistern sprach: »Ich spüre Fremdes in unserer Gegend. Etwas ist nicht mehr wie früher.« 
»Was meinst du, was es ist, Jasef?«, fragte jemand.
Dieser schüttelte nur den Kopf. »Ich kann es nicht sagen. Aber ich sage euch: spürt ihr nicht den Atem des Fremden? Habt ihr nicht bemerkt, wie der Himmel in letzter Zeit weint?«
»Ich habe vor einiger Zeit eine dicke Träne niederfallen sehen. Groß und hell.«
»Was will uns nur strafen?«, fragte Jasef in die Runde. »Warum hat der Himmel in den letzten Nächten Tränen über uns verloren? Was machen wir falsch?«
Schweigen brach herein. Jeder hörte das Knistern des Feuers, und hin und wieder gab es ein lautes Knacken, wenn feuchtes Holz zersprang und hunderte von Funken in das schwarze Tuch des Himmels jagten, als wollten sie es entzünden.
Manchmal ächzte und stöhnte das Holz, schnarchte und fauchte – und um das Feuer und die Menschen herum waren tausend Augen von Dingen, vor denen sie sich fürchteten und tausend Augen der Sterne waren über ihnen.
Tief in dieser Dunkelheit sahen sie den kaum erkennbaren Buckel eines riesigen Monsters, das so groß war, dass Bäume darauf wuchsen, das eine Haut aus Erde und Stein besaß und daher nicht zu töten war; das so groß war, dass es eine ganze Höhle als Maul besaß, aus dem es befremdenden Atem hauchte. Dieses monumentale Geschöpf mit den tausend Augen schlief rein äußerlich. Doch niemand bezweifelte, dass darin Grausiges steckte.
»Was Tirata wohl darüber weiß?«, fragte jemand leise. »Kann sie uns sagen, warum der Himmel weint?«
»Vielleicht hat er es ihr gesagt?!«
»Ich höre viele seltsame Stimmen.«
»Ja, hört ihr das Feuer flüstern?«
»Hört ihr den Wind flüstern? Die Bäume?«
»Tirata wird es wissen.«
»Wohin ist Maraim gestern gelaufen?«
Stille.
Jeder sah ihn vor sich, wie er weinend vor ihrem Gelächter in die Nacht gelaufen war.
»Ist er wiedergekommen?«, wollte Jasef wissen, und etwas schnürte ihm wie allen anderen den Magen zusammen. »Habt ihr ihn gesehen?«
Niemand wollte etwas sagen.
»Agatha!«
Agatha sah zu Boden. »Ich habe ihn nicht gehört. Er ist doch so oft so lange allein draußen in der Nacht. Das ist schon immer so gewesen.«
»Und ist er nicht immer seltsamer geworden? War er nicht immer … böse?«
Das Feuer knisterte.
»Was, wenn ES ihn verwandelt hat?«
Keiner wagte zu atmen. Die Luft wurde dick und heiß. Dies war die aufregendste Geschichte seit Langem, und Vieles ging den Leuten durch den Kopf.
Ja, Maraim war immer unflätig und bösartig gewesen, hatte nie am Leben im Dorf teilgenommen, hatte immer nur getrunken und hatte jeden attackiert, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Er war ein Tyrann. Er war wie ein Dämon – und nun war er verschwunden in der Dunkelheit, in der er schon immer gern allein gewesen war.
»Und was«, führte Jasef weiter aus, »wenn Maraim nun dort hin gelaufen ist, wohin er gehört? Mit was hat er gesprochen? Zu wem ist er gelaufen?«
Angst machte die Runde, nahm das Menschenrund um das Feuer gefangen und bildete einen lodernden Zirkel der Furcht.
Jasef sah in die Runde, ein entsetzliches Kribbeln fühlend. »Was ist es?«
Wände schienen auf die Menschen zuzurasen, die Nacht begann zu einem einzelnen monumentalen Geschöpf zu werden, das von allen Seiten auf sie zugekrochen kam. Ihre Herzen pochten im Stakkato, und ihre Häuser waren im Feuerschein düstere Karikaturen des Schutzes, den zu geben sie nur heuchelten. Plötzlich war das Böse überall. Und das brachte das ganze Dorf in Aufruhr. Man sah sich in einem Rudel von Wölfen, wie es schon einmal geschehen war – man hatte sich tagelang verkrochen, während draußen graue Wölfe umhergestreunt waren und Tiere gerissen hatten. Die Menschen hatten in ihren Häusern gesessen und das Schreien der Tiere gehört. Sie hatten die vielen Todeskämpfe durch die Nacht hallen gehört. Die Wölfe hatten die Weidetiere in schrecklichem Ausmaß dezimiert, und seitdem bangte man der Rückkehr der Wölfe mit Schaudern entgegen.
»Der Himmel weint über Maraim«, sagte Jasef schließlich nach langer Pause, in der das Feuer die knisternden Worte der Angst gesprochen hatte, die jeder verstand.
Auch Jessica saß mit am Feuer. War sie eigentlich nur mit zum traditionellen Feuer gegangen, um sich ein wenig von der wundervollen Ruhe einzuhauchen, die sie schläfrig machen sollte, und mit den anderen Kindern irgend etwas zu tun, so war sie nun von der Geschichte über Maraim vollkommen gefesselt. Trotz ihres Alters war sie sich darüber im Klaren, dass sie an Maraims Verschwinden beteiligt gewesen war; er war fortgelaufen wegen ihres Streiches, und nun war er fort, fortgelaufen zu dem, das niemand kannte und jeder fürchtete. Hin zu dem, das in der Nacht, in der Corrin-Höhle lag – denn wo sonst sollte es sich verbergen. Doch Tirata fürchtete sich nicht, sie war nicht unwissend, und Jessica fühlte sich zu all dem hingezogen. Sie dachte sich, dass man vielleicht schweigen musste, wen man von allem wusste. Diese Dinge konnten nur gewissen Menschen vorbehalten sein – und da es üblich war, dass eine Wahrsagerin stets eine Tochter hatte, die ihre Nachfolgerin wurde, fragte sich  Jessica, ob Tirata sie als solche anerkennen würde. Sie wollte es, denn nichts interessierte sie mehr als all die Geheimnisse, über die man so gut wie nie abends am Feuer sprach, auf dem Boden rund um das Feuer sitzend, mit Phantasiegebilden losgelöst wie die auftanzenden Funken. 
Sie wollte mehr über all das erfahren, das auftauchte, wenn die Stimmen der Erzählenden das Rund der Menschen gefangen nahm und sie mit dem unsichtbaren Band der Neugier verband. Wenn man das Gefühl hatte, allein in einem gewaltigen Magen eines viel gewaltigeren Molochs zu sein, den das spärliche Feuer nicht auszuleuchten vermochte; wenn einen das Gefühl übermannte, auf einer Welt auf bestimmte Weise allein und verloren zu sein, umgeben von finsteren Dingen, jedoch wissend, dass dennoch nichts geschah und man in die sichere Hülle seines Hauses zurückkehren konnte, wie sollte man das nennen? Gab es ein Wort dafür? Wenn jemand das wusste, dann war das Tirata, und Jessica war willens, daran teilzuhaben.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie einmal an einem Feuer gesessen hatte, das wegen Regens in einer großen Scheunen stattgefunden hatte. Das Feuer war winzig gewesen im Gegensatz zu jenen, die draußen gezündet würden, die Scheune sollte kein Feuer fangen. Wieder hatte es einen Redner gegeben, der gesprochen hatte, während Regen rauschend auf das Dach geschlagen, an dem Dach heruntergelaufen und zu Boden gefallen war. Dieses Hintergrundrauschen hatte alle beruhigt und ihre Glieder waren bleischwer geworden. Das, was der Mann gesagt hatte, war durch die Scheune geschwebt wie der Rauch des Feuers, der sich den Weg durch einige hochgelegene Öffnungen in den Wänden kurz unter der Decke gesucht hatte.
»Ich habe letzte Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt.«, hatte der Mann begonnen, und Jessica wusste die Worte noch, so hypnotisch, wie sie in der damaligen Atmosphäre erschienen waren.
»Ich träumte von Menschen fernab von uns. Ich träumte, wir wären nicht allein. Große Vögel flogen über das Land, einen gewittrigen Himmel mit sich bringend. Und ich bin der Überzeugung, dass in der Corrin-Höhle Unaussprechliches ist.«
»Was sollte denn Unaussprechliches dort sein?«, wollte Lorn wissen, an den sich Jessica lehnte. Ihr Blick ruhte auf einem ledernen Pferdehalfter, der an einem Balken hing. Sie blickte durch die Scheune, die das Abbild ihrer Welt darstellte, ihrer Existenz. Alles, was ihr Leben ausmachte, alles, woran sie dachte, wenn sie morgens erwachte, war hier vereint; hier war Heu, in dem man spielte unter dem man herkroch und sich versteckte; hier war Holz, in dem man wohnte und mit dem man lebte; hier schlug für dieses Abend das Herz des Dorfes; hier waren zurzeit ihre Angehörige und Freunde. Die Scheune war zweistöckig – unten waren die Ställe für die Tiere, die nur winters dort standen. Hier standen Geräte für Garten- und Ackerbau, Riemen und Halfter.
Oben, gehalten von teils morschem Holz, war die zweite Ebene, auf der Heu lag, und auf die man sich so gut wie nie wagte, weil dort Geister umgehen sollten. Weil es dort oben gefährlich war und weil es dort oben niemanden gab, der einen hätte beobachten können. Hier herrschte Sturzgefahr, aber jeder, obgleich man sich fürchtete, war neugierig und hoffte nur, den Mumm zu haben, sich dort oben zu verstecken und allen zu beweisen, dass nichts dort oben war. Bei den Kindern galt das Heraufklettern als Mutprobe, die nur die wenigsten bestanden.
»Das Unaussprechliche kann ich nicht beschreiben«, sagte der Mann. »Seltsam aber, denn seit meinem Traum habe ich das Gefühl, dass nicht mehr alles so ist, wie es war.«
Nun machte sich Jessica abermals Gedanken darüber, mehr zu erfahren. Sie wollte auf den Dachboden der Scheune! Und wenn möglich, dann auch noch auf das Dach!
Als habe es das Schicksal so gewollt, dachte Mark an Sarah, und diese kam, setzte sich zu ihm und lächelte. Dieses Lächeln!
Er freute sich darüber, dass sie kam, doch mit einem Zwicken im Magen hielt er nach Tsam Ausschau und war erleichtert, als er ihn nicht fand.
Beide hörten zu, was Jasef zu sagen hatte.
»Warum weint der Himmel über Maraim, wenn er Böses im Schilde führt?«, wollte eine Frau wissen.
»Er weint über den Verlust einer Seele. Oder er weint über uns.«
Schlagartiges Staunen. Schweigen.
Nur das Feuer knisterte und knackte.
»Warum sollte der Himmel über uns weinen?«, fragte die selbe Frau etwas leiser.
»Weil wir uns schuldig gemacht haben.«
Die Worte hingen wie Gewitterwolken über dem Rund, und Wind trieb die Flammen zu wildem Zucken.
»Wessen?«
»Das weiß nur Tirata. Wenn der Himmel weint, dann lügt er nicht.«
»Vielleicht beweint der Himmel unsere Feigheit. Unsere Feigheit vor dem Fremden. Unsere Feigheit, dass wir nicht nach Maraim suchen. Vielleicht weint der Himmel, weil wir uns nicht in die Corrin-Höhle trauen.«
Die Männer und Frauen blickten einander nervös an.
»Was sollen wir dort? Außer Tirata ist nie jemand von uns dort gewesen.«
»Eben«, meinte Matia, ein junger Mann, plötzlich. »Vielleicht ist es ein Zeichen des Himmels, dass wir uns trauen sollen. Kennt ihr nicht das Buch?«
Natürlich kannte es jeder. Das Buch, das nur Tirata lesen konnte, das Buch mit viel Papier, dünnem Papier, auf dem viel stand , in zwei Blöcken nebeneinander pro Seite, auf vier Blöcken pro Doppelseite. Morkus nannte dieses Buch sein Eigen, und er hatte Grund, stolz darauf zu sein. Dieses Buch war das einzige im Dorf abgesehen von denen, die Tirata besaß. Es war ihm vererbt worden, denn seine Familie besaß das Buch schon länger, als jeder im Dorf denken konnte; selbst Tirata hatte einmal gesagt: »Dieses Buch ist vor der Zeit unserer Häuser entstanden.«
Niemand wusste, woher es kam, und das machte es wertvoll. Und nur Tirata hatte es gelesen, wie die Wahrsagerinnen vor ihr, und alles, was sie gesagt hatte, war: »Dieses Buch ist heilig.« Und als ein solches wurde es auch behandelt. Morkus war stolz – so sehr, dass er es oft herausnahm und betrachtete und es längst nicht jedem zeigte. Die Bilder darin reizten ihn besonders, und obwohl die Farben der ganzseitigen Bilder schon ausgeblichen waren und die Ränder der Seiten Gelb und Kräusel aufwiesen, hatten sie noch Pracht und Schönheit. Er verstand die Bilder nicht, aber die waren magisch. Sie waren meist wunderschön, manchmal auch grausam. 
Er sagte: »Ich habe sie mir oft angesehen, auch gestern wieder. Jedes einzelne. Und eines war dabei, das mir sagt, dass der Himmel tatsächlich weint, weil wir in die Corrin-Höhle gehen sollen, es aber nicht tun. Ich hole es.«  So stand er auf und ging. In der Zeit war es still ums Feuer, und jeder gab sich seinen Gedanken hin, und in Mark brodelte es. 
Ja, warum sollten alle Verbote weiterhin Verbote bleiben? Warum sollten Höhlen mit ihren Geheimnissen gemieden werden? Was war das Geheimnis tief im Innern der Corrin-Höhle, und warum sollte man nicht mutig sein? Er sah Sarah in die Augen, und es lag wieder eine unaussprechliche Faszination in ihrem Gesicht, in ihrem Haar und überall an ihr, eine Faszination, die nur tief im Innern gespürt werden konnte. Der Wind, der um sie hauchte, blies ihnen beschwörende Formeln ins Ohr, und das Knistern des Feuers war wie das flüsternde Kichern von Voyeuren. Der Ansporn ließ ihn über sich hinauswachsen. Bevor sie sich versahen, küssten sie sich. Sie wussten nicht, warum sie es taten, aber sie wussten, dass sie es tun mussten, weil ihnen keine Wahl blieb. Sie gingen in die Dunkelheit hinter eine entlegene Scheune, wo sie sich zu Boden fallen ließen und sich gedankenlos die Kleider abstreiften. Die Finger des jeweils anderen, das Gras und der Wind ließen sie bis in die kleinste Faser vibrieren. Mark war wie von Sinnen. Ohne darüber nachzudenken tat er, was er tun musste, ohne zu wissen, wie leidenschaftlich, aber zugleich auch wie mechanisch er seiner Liebe freien Lauf ließ. Er vergaß alles um sich herum und sollte später nur noch eines wissen: wenn man tatsächlich in die Höhle gehen wollte, würde er dabei sein!
Währenddessen kam Morkus mit dem Buch zurück und setzte sich, das Buch betrachtend. Es sah bei Feuerschein noch faszinierender aus als bei Tag. Der Einband war aus altem, mittlerweile hartem Leder. Alle Augen sahen darauf, und das Rund brach auseinander. Man rottete sich zusammen, um das Buch zu betrachten, denn nicht jeder hatte es schon einmal gesehen – wurde es doch als Morkus‘ wertvollster Schatz bestens behütet.
Der Umschlag war alt und verfärbt. Wasser hatte das Leder wellig gemacht und aus der Form gebracht, und das Dunkelrot war nur noch ein fleckiges und ausgefärbtes Fragment. 
Das Buch war schwer, dick und so groß wie vier Handflächen. Es lag im Schoß des stolzen Besitzers, der eine Seite aufschlug, wo die Seiten eine seiner Finger einklemmten. Es offenbarte sich den Neugierigen eine Doppelseite, deren rechte Hälfte unverstandene Schrift, deren linke Hälfte ein farbenprächtiges Bild zeigte. Morkus wies darauf. »Da, seht, da, seht. Soll das etwa heißen, dass wir uns von der Höhle fernhalten sollen?«
Alle betrachteten sie das Bild gespannt, und man schob sich gegenseitig zur Seite, um einen Blick darauf werfen zu können. Es zeigte im Hintergrund eine Höhle, deren schwarzer Schlund in die Tiefen eines gezeichneten Berges hinein zeigte. Umrahmt war sie von einigen Bäumen, wie es auch die Corrin-Höhle war. Aus ihrer Richtung kam ein Mann mit weißen Gesichtszügen, langen Haaren und einem Gewand, um den Kopf einen leuchtend-gelben Kreis tragend, den niemand zu deuten verstand, und er hielt seine Hände nach vorn, die in ihren Mitten Wunden zeigten. Das Bild war von umwerfender Anmut und Pracht. Es zeigte zudem eine Frau, die ihn verwundert und verängstigt ansah.
»Wir müssen in die Höhle hinein«, beschwor Morkus. »Wir müssen dorthin. Seht doch.« Wie sehr ihn doch das Bild in den Bann schlug, wie schon viele Male zuvor! Er wusste nicht, wozu es gemalt worden war und wen es darstellte, aber eines war für ihn unwiderruflich: »Ich glaube nicht, dass dieser Mann böse ist, der da aus der Höhle kam. Seht ihr nicht das Zeichen?«
Jeder sah das Bild und brachte es in Verbindung mit seiner eigenen Angst.
»Die Frau erschrickt sich aber«, merkte jemand an.
»Weil sie nicht wusste, dass in der Höhle etwas ist«, meinte Morkus. »Sie war wie wir, und nun kann sie es nicht fassen, dass sie sich geirrt hat.«
»Nein«, sagte jemand entschieden. »Das ist ein Zeichen, dass wir heraus bleiben sollen. Die Frau hat Angst vor dem Mann aus der Höhle. Ich werde nicht gehen.«
Leise Zustimmung fraß sich durch die Runde, und eingenommen von Furcht verteilte man sich wieder am Feuer, der Kreis wurde wieder aufgebaut, und nichts Fremdes von außen wurde eingelassen.
Und weitab von dem, weitab vom Kreis und den anderen lag Mark mit Sarah hinter der Scheune und lernte, ein Mann zu sein, lernte, Vergnügen dabei zu empfinden und fühlte sich schwebend, als Sarah plötzlich aufschreckte. 
»Was ist los?«, wollte Mark wissen.
»Sieh doch«, meinte sie angsterfüllt und mit bebender Stimme.
Mark sah in den Himmel, in den sie zeigte und sah eine Träne niederfallen, eine große, dicke Träne, und kurz darauf wieder eine weitere.
Sarah wich zurück, und Mark trat der Angstschweiß aus den Poren. »Der Himmel weint«, entfuhr es ihm, und sein Magen wollte ihm explodieren. »Oh nein, was haben wir getan? Was haben wir getan?« Er sprang auf und lief davon. Sarah, die hinter ihm herrief und sich aufrichtete, hörte er in seiner Panik nicht mehr, und er lief zum Rund und um das Feuer und schrie: »Der Himmel hat geweint! Der Himmel! Der Himmel hat geweint!«
Alle sahen auf, und der Schrecken saß allen in den Gliedern. Lorn fragte: »Bist du sicher?«
Mark zitterte. »Ich habe eine Träne gesehen, und Sarah auch. Wir haben es beide gesehen!«
Man kauerte sich aneinander.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Das ist ein Zeichen. Wir werden Tirata fragen müssen. Der Himmel weinte, als ihr meintet, dass das Bild in meinem Buch kein Zeichen zum Betreten der Corrin-Höhle ist.«
»Wenn Tirata sagt, dass wir gehen sollen, werden wir gehen.«
Und Mark setzte sich hin, starrte ins Feuer und spürte das erste Mal in seinem Leben Panik und war sich sicher, vom Himmel ein Zeichen bekommen zu haben, das ihm Angst machte. Er musste einen Fehler gemacht haben. 
Der Himmel weinte nicht ohne Grund.

Ende des 6. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 7: Ein neuer Tag

Erzählung „Das Ähm in M.’s Garten in der Nähe von Emsdetten“

Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Die Schneise in der Gartenerde, die es geschlagen hat, die ist offensichtlich: Erst hat es sich beim Eintritt schräg vom Himmel in die Gemüseparzellen gebohrt und ab dort eine Furche geschlagen, zu deren Rändern sich die Erde auftürmt. Je weiter es sich in Richtung Rasenfläche vorgearbeitet hat, hat es sich weiter in die Tiefe gebohrt, sodass die Furche tiefer und die Ränder höher werden. Erdklumpen rieseln herab, überall liegen Pflanzenreste, es sieht aus, als wolle jemand ein Rohr verlegen. Die drapierte Buschgruppe hat es zerlegt, es ist fraglich, ob das einst so hübsche Arrangement, das sorgsam ausgesucht das ganze Jahr über blüht und im Winter mit Immergrün erfreut, den wüsten Schneisenschlag überleben wird. Derzeit sieht es nicht danach aus. Möglich, dass die äußersten Triebe sich noch retten lassen, sorgsam getrennt, liebevoll in Erholung gepflegt – wer weiß.
Ja, all das, was sie hier sehen, ist irgendwie klar, auch wenn es an sich unfassbar ist, wie etwas aus heiterem Himmel – im wahrsten Wortsinn – kometenhaft in spitzem Winkel in den Garten eintreten konnte. Überdies hat es beim Sturz den Zaun ruiniert. Wie den eine Versicherung ersetzen soll, ist fraglich, denn da stehen sie, alle anwesenden Parteien des Hauses, in dessen Garten nun die Schneise schneist, und sie starren auf das, was bis zur Terrasse durchgedrungen ist, dass es die ersten Bodenplatten anhebt.
„Ähm“, sagt M. Er sagt es nun zum dritten oder vierten Mal. Aber mehr fällt ihm nicht ein.
„Ja“, pflichtet S. von der Etage drunter bei. „Das ist wirklich … ähm.“
„Sauerei“, zischt R., der im Parterre wohnt und das Haus so lange kennt wie niemand sonst. R. begrüßte alle bei ihren Einzügen und hat schon manchen beim Auszug verabschiedet. R. ist es auch, der gerade im Frühjahr für neue Bodenplatten auf seiner Terrasse gesorgt hat, die neben der Terrasse für die Allgemeinheit von einer stirnhohen Hecke umgeben ist, damit er blickdicht seine Ruhe hat. „Das ist eine Sauerei. Für so was haben die Geld. Und dann fällt es ihnen auch noch runter in unsere Gärten. Sauerei.“
Im Gegensatz zu L. und T. hat Frau W. noch kein Wort gesagt. Ihr ist das alles einfach zu viel, und so sagt sie nichts. Denken übrigens auch nichts. Sie steht einfach da, reines Betrachten – oder möchte man Gaffen sagen – völlig ohne Staunen und Wundern, sondern einfach nur bloßer Blick, der die Schneise bis zum Endpunkt verfolgt, immer und immer wieder.
„Ähm“, sagt M. schon wieder. „Was soll denn das sein?“
Es ist nicht das erste Mal, dass diese Frage gestellt wird. Vielmehr wird sie weiter gereicht oder reicht sich selbst weiter von Mund zu Mund, und wen soll es wundern, denn schließlich ist dies das einzig Logische, das dazu gesagt werden kann.
Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Wenigstens um die Ausmaße gibt es keine Unklarheit. Größer als einen Meter ist es keinesfalls. M. schätzt es eher kleiner. 80 Zentimeter vielleicht.
Doch ob es rund ist oder eckig, da hört es dann schon auf. Ob das ovale Teil, das sich in den Boden gebohrt hat, nun die Spitze oder das Ende, eine Seite oder das Oben oder Unten sein mag, weiß schon wieder niemand. Überhaupt, diese Form.
„Keine Ahnung“, erwidert L., ebenfalls nicht zum ersten Mal. „Echt. Echt keine Ahnung.“
„Tja.“
L. geht in die Hocke, so weit, dass seine Knie die Erde berühren, die sich am Rand der Schneise aufgetürmt hat, und seine Frau holt zischend Luft und fährt ihren rechten Arm zu seiner Schulter aus, doch es ist zu spät, da hockt er schon und reckt den Kopf. „Tja. Ein Satellit vielleicht?“
„Glaub ich nicht. Wo soll denn ein Satellit herkommen?“
„Von oben. Von wo denn sonst?“
Dass ausgerechnet jetzt Max heimkommt, ist eher unpassend. Er war mit Freunden Gott weiß wo und ist normalerweise den Tag über nicht da, aber ausgerechnet jetzt kommt er doch heim und ist allein. „Was machst du denn hier?“ fragt seine Mutter verstört, und er schaut sie an und gibt zurück „Sorry, ich wohne hier?“ Dann blickt er auf das, worauf alle starren. „Was ist das denn?“
„Ähm“ sagt M.
Und ja: Was ist es nur?
Das beginnt nicht nur mit der Form und Größe, sondern auch mit der Farbe. „Irgendwie grau?“ hat L. eben gefragt, und obwohl jeder aus der Hausgemeinschaft „irgendwie schon“ formuliert hat, sträubt sich dagegen die Erkenntnis, denn es ist gleichzeitig ein „irgendwie nein“. Grau: Was heißt das schon? Ein wie auch immer geartetes Dazwischen von Weiß und Schwarz, eine Schattierung dieser Mischung beider Töne ist nicht erkennbar. Denn da ist keine Schattierung zu erkennen, keine Ahnung von Schwarz, keine Andeutung von Weiß. Überhaupt ein Farbton – ist da einer? Niemand weiß es, L. nicht, wie auch die anderen nicht. Im Gegenlicht, je nach Blickwinkel macht es den Anschein, als reflektiere es die Sonne, andererseits auch wieder nicht. Nein, es glänzt nicht. Und weil es nicht glänzt, reflektiert es auch das Sonnenlicht nicht. Andererseits hat es je nach Sonneneinfall und Blickwinkel hellere und dunklere Partien.
M. hat weder Begriff noch Vorstellung dafür außer einer Sache: Er hat dergleichen noch nie gesehen und sich nie vorgestellt. Was er sicher weiß ist, dass es seinen Garten ruiniert hat, und so bricht sein Blick immer von der Unbekanntheit vor ihm ab in den Garten, den er pflegt, den er plant, den er umsorgt. Er zahlt mehr Geld als alle für die Nutzung dieses Raums, den Rasen, die Beete, und die Tomaten, die dort wachsen und die noch neben der Schneise im Sonnenlicht leuchten, erst gestern hat er einige von ihnen im selbst gemachten Salat verputzt. Dieses Ding, was immer es sein mag und wo immer es auch herkommen mag, hat seinen Garten ruiniert, so viel steht fest. Fest steht auch, dass es nicht damit getan ist, die Zerstörung zu fotografieren – er wird das Chaos so lange bestehen lassen müssen, bis Sachverständige da gewesen sind, Polizei ganz sicher, aber auch Versicherungsmenschen, die prüfen müssen, ob und in wie weit sie für den entstandenen Schaden geradestehen werden. Ärgerlich.
Niemand hat mitbekommen, dass sich Max auf den Boden gelegt hat und mit dem Oberkörper nah über dem Ding schwebt. Seine Mutter ruft „Max“, doch es ist zu spät. Er reckt seine Hand danach aus. „Mach dir nicht ins Hemd“, sagt er, ohne den Blick von dem Ding zu nehmen, „ich fass es nicht sofort an, ich bin doch nicht bescheuert.“
M. mag Max. Ihm gefällt diese Rotzigkeit, mit der der Junge mit seinen 16 Jahren  auftritt. 
Jeder hält den Atem an, während Max Hand kurz über dem Ding schwebt. „Also heiß scheint es nicht zu sein“, meint der Junge. Er streckt den Zeigefinger aus, und jeder spürt, dass Max fast das Herz stehen bleibt, doch er kann nicht anders: Trotz aller eigener Bedenken tippt er daran, nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ne. Ist nicht warm.“
„Pass wegen der Radioaktivität auf“, stöhnt seine Mutter durch die Hände, die sie vor ihren Mund geschlagen hat. 
M. schaut sie verstört an. „Wieso Radioaktivität?“
„Naja“, beginnt sie, ihre Hände noch immer vor den Mund gepresst, die Augen tellergroß, „sind diese Dinger nicht immer radioaktiv?“
„Wieso sollten sie das sein?“
„Naja. Es kommt ja von …“
Der Rest ist Schweigen.
Frau W. schreitet die Schneise ab und ist inzwischen an den Gemüsebeeten angelangt. Sie sucht zwar nichts, aber sie schaut trotzdem über das, was ihr Nachbar M. so züchtet und sich regelmäßig in die Töpfe und Salatschüsseln schnippelt.
Max pult in der Erde, die auf das Ding rieselt ohne Geräusch. Nichts deutet darauf hin, dass das Ding sich tiefer in die Erde gebohrt hat und damit einen Teil von sich verbirgt. „Komisch, hat keine Delle oder so.“
„Ja, es sieht unbeschädigt aus“, meint M. 
„Aber aus was ist es dann gemacht?“
Metall ist es nicht, und wenn, dann eines, das noch niemand gesehen hat. Und überhaupt: Das Material ist jedem fremd.
„Ähm“, sagt diesmal L., der noch immer kniet und sich der Hand seiner Frau auf seiner linken Schulter sicher weiß.
„Was ist denn da bei Ihnen passiert?“ ruft es da von jenseits des Zauns, und als sie sich alle umdrehen, bemerken sie die zahllosen Gesichter, die über Zäune und aus Fenstern und von Balkonen rund um das Grundstück zu ihnen und ihrer Misere herüberschauen.
„Etwas ist abgestürzt“, ruft L. pflichtschuldig, so laut es geht, „wir wissen auch nicht, was es ist!“
„Um Gottes Willen, jemand muss die Polizei rufen!“
„Eine Bombe! Eine Bombe! Passen Sie bloß auf!“
Sie wenden sich wieder dem Ding in der Erde zu, das Max, der noch immer auf dem Boden liegt, inzwischen mit beiden Händen berührt. Fasziniert streicht er darüber, betrachtet es, und es scheint, als habe es ihn ganz in den Bann geschlagen. „Max, nicht!“ ruft seine Mutter ungehört, und Max stellt fest, dass er keine Ahnung hat, wie es sich anfühlt, was da vor ihm liegt. „Nicht warm, nicht kalt. Nix.“
„Wie, nix?“, will M. wissen und bückt sich seinerseits, um es zu berühren. Die anderen Gesichter recken sich synchron herab und sehen M.’s Händen bei der Berührung zu. 
„Er hat recht“, meint M. „Nix.“
„Was soll das heißen? Wie fühlt es sich an?“
„Das ist es ja: Es fühlt sich gar nicht an.“
Jedes Material bietet ein Gefühl, doch dieses hier sendet Signale ins Leere. M. weiß nur, Derartiges nie gefühlt zu haben.
Ungläubig streicht er über die Fläche, und es gibt keinen Ton der Reibung. Er spürt keine Kante, keine Unebenheit, aber auch nichts, was auf eine gänzlich glatte Oberfläche hindeutet. Er spürt nur Fremdheit.
„Hm.“
„Ja hallo, ich möchte den Absturz eines Dings melden.“
Alles dreht sich um, denn die Stimme gehört zu Frau W., die mit der Polizei telefoniert. Sie steht ein wenig abseits, ihr linker Arm um den Oberkörper geschlungen, ihr Telefon am rechten Ohr, und ohne jede Regung schaut sie in Richtung Ding, ohne es anzusehen. „Wir wissen es nicht. Es ist vom Himmel gefallen. Ja, runter. Natürlich runter, es kam ja vom Himmel. Es hat den Garten verwüstet. Nein, ich kann Ihnen nicht sagen … – kommen Sie doch her und sehen es sich selbst an. Nein, ich kann es nicht beschreiben, nein. … – warten Sie.“ Sie schaut in die Runde. „Die wollen wissen, was es ist.“
„Sollen sie es sich doch selbst ansehen“, grollt M. „Woher sollen wir das denn wissen?“
Frau W. spricht weiter: „Maschine? Keine Ahnung. Nein, ich kann nicht beschreiben, wie es aussieht. Bombe? Moment.“ Sie sieht sie an: „Kann es eine Bombe sein?“
Niemand hat bislang von ihnen eine Bombe leibhaftig gesehen. Aber niemand kann sich eine Bombe wie diese vorstellen.
Frau W. schürzt die Lippen. „Eher nicht. Warum kommen Sie nicht selbst, dann sehen Sie es doch? Warten Sie.“ Sie fragt wieder in die Runde: „Er will das Material wissen. Ob es ein Meteorit oder ein Ding ist.“
„Was unterscheidet denn einen Meteoriten von einem Ding?“, kläfft L. „Keine Ahnung. Sieht nicht nach einem Stein aus. Oder?“
Max und M. befühlen das Fremde weiter und finden nicht, dass es aus Stein ist. Oder Holz. Aus Plastik aber auch nicht.
„Sie kommen nicht“, sagt Frau W. „Sie halten es für einen Scherz. Sie meinen, sie können nicht kommen, wenn nichts passiert ist.“
L.’s Frau wedelt mit beiden Händen in Richtung Ding. „Ist da etwa nichts passiert?“ Sie weist weit ausholend auf die Schneise im Garten. „Ist DAS etwa nicht passiert? Was wollen die denn noch?“
„Er meinte, verarschen kann er sich selber.“
„Ich glaub’s nicht! Muss die Polizei nicht kommen, wenn man sie ruft?“
„Er meint, wir müssten angeben können, was passiert ist.“
„Ich fass es nicht.“
„Ja aber …“ M. richtet sich wieder auf. „Was ist denn passiert, frage ich Sie? Was können wir sagen, was passiert ist? Da ist dieses … – dieses … ähm …“
„Es ist vom Himmel in unseren Garten gekracht!“ empört sich L.
„In meinen Garten“, sagt M. „Es ist mein Garten.“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, dürfen wir weiter in Ihrem Garten stehen und Anteil nehmen? Also wirklich! Immerhin liegt es direkt an UNSEREM Haus und UNSEREN Wohnungen!“
„Ja aber er hat recht“, sagt L.’s Frau. „Was ist passiert? Was ist das da?“
Alle Blicke wandern wieder auf das fremde Ding ohne Nähte, ohne Ösen und Schrauben, ohne jeden erkennbaren Hinweis darauf, gemacht zu sein.
Da reißt Frau W. ihre Augen auf, lässt das Telefon in den Rasen fallen und springt mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen entsetzt zurück. „Oh Gott!“
Kaum liegen die Worte in der Luft, ergreift jeden die Panik, denn jedem ist nun klar, auf was Frau W. zu sprechen kommen will. Auch wenn niemand recht daran selbst gedacht hat, steht nun eine Möglichkeit im Raum, die der Instinkt jedem von ihnen in den Geist gelegt hat.
„Es LEBT!“ ruft sie aus, und jeder weicht zurück. Max ist schneller auf den Beinen, als irgend jemand sehen kann, und M. wird schlagartig heiß. Da krabbelt etwas seine Hände hinauf, mit denen er eben noch das Ding berührt hat, ein scheußliches Kribbeln, als werde sein Körper geentert. 
Es ist, als habe jemand alle Atemluft aus der Welt gesogen, und voller Grauen starren sie alle auf das Ding da, das … – vielleicht LEBT?
Wie lange sie starren und schweigen, wissen sie nicht, als Max die Stille durchbricht: „Also wenn das so ist, dann ist es jetzt sicher tot.“
M. kann wieder Sauerstoff in seine Lunge ziehen. 
„Naja, das überlebt doch keiner“, schließt Max. „Fallt ihr mal vom Himmel und kracht in den Garten. Das will ich sehen, was das überlebt.“
„Und wenn es ein Panzer ist wie bei einer Schildkröte?“
Sie nähern sich schrittweise und beugen sich zaghaft herab.
„Ne, glaub ich nicht“, meint L. „Kann aber sein. Ach, was weiß denn ich.“
„Okay“, sagt M. da. „Das wird mir jetzt zu blöd. Lassen wir es einfach liegen.“
Alle Augen richten sich auf ihn, und er blickt in die Runde. „Ja, ich meine es ernst. Was sollen wir denn den Leuten erzählen? Ich hab keine Ahnung, was das ist, oder geht es einem etwa anders?“
Verstohlene Blicke sind die Antwort. „Na also. Wir wissen alle nicht, was das da ist, was das da soll und woher es kommt. Also ich hab echt keine Idee.“
„Wir sollen also einfach so tun, als wäre es nicht da?“
„Was heißt, so tun? Da ist nichts! Nichts, was wir benennen können. Nichts, wovon wir eine Vorstellung haben. Für mich ist das quasi gar nichts.“
L. schürzt die Lippen. „Da hat er recht.“
„Stimmt“, pflichtet seine Frau ihm bei.
Max, der wieder auf dem Boden liegt und seine Hände mit größerer Vorsicht als zuvor über die Oberfläche gleiten lässt, gibt ein kurzes „Hm“ von sich. Während er das Ding so untersucht, wird ihm klar: „Die Leute würden das auch für einen Fake halten.“
„Einen was?“ Frau W. ist irritiert.
„Eine Fälschung. Wenn ich das fotografiere und teile, denkt jeder, ich mach nen Witz. Das glaubt einfach keiner.“
„Und wer soll so eine Schneise aus Jux in einen Garten buddeln?“
„Geht auch als Fake durch. Und es gibt echt viele, die notfalls buddeln, um was zum Erzählen zu haben.“
Sie schauen herab, hinter ihnen verschwinden die ersten Zuschauer und wenden sich ab. Grillgeruch weht herüber, die Stille der Umgebung weicht.
„Deshalb sag ich ja“, meint M. „lasst es uns einfach zuschütten. In ein paar Wochen ist wieder Gras über die Sache gewachsen und kein Hahn kräht mehr danach.“
„Und wenn es doch lebt?“, fragt S. besorgt. „Unsere Terrasse ist doch direkt daneben …“ Der Gedanke, dass dort jemand oder etwas nächtens plötzlich vor seiner Terrassentür stehen mag, behagt ihm gar nicht. „Nachher wächst das noch zu einer echten Krise aus!“
Max zuckt die Achseln. „Also wie gesagt: Nix überlebt das.“
M.’s Blick wandert zu seinen Gemüsebeeten. Das Chaos, die abgeknickten Äste, die halb herausgerissenen Pflanzen tun ihm fast körperlich weh, und die Sehnsucht überfällt ihn, sie zu richten. Dass da Tomaten und Gurken auf der Erde liegen, stört ihn, er möchte nicht, dass sie faulen. „Also. Es ist meiner Meinung nach nichts passiert. Sieht es jemand anders?“
Niemand sagt etwas. Mit jedem Schwung Erde, der das Ding im Boden kurze Zeit später verdeckt, kehrt Frieden ein. S. verbuddelt es nahezu im Alleingang, Max kommt mit seiner Schaufel kaum hinterher. M. sortiert seinen Gemüsegarten, und von jenseits des Zauns nimmt man nur wahr, dass dort Ordnung einkehrt. Sicher, die Büsche sind größtenteils hin, und bis diese Bresche vollends zugeschüttet ist, werden Tage vergehen. Ganz zu schweigen von der Zeit, die es braucht, bis das neue Gras gewachsen ist. 
Aber ihm dabei zuzusehen, wie es täglich mehr wird, ist doch ein schönes Gefühl.

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 2: Der Streich komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Erst Kapitel 1 lesen

Der Tag erblühte mit jeder Minute und gelangte zur Reife. Die Sonne stieg weiter auf, es wurde heller, und die Natur wiegte sich in Sonne und Wind. Im Dorf wurde eifrig gearbeitet. Man ging in Keller oder Scheunen, um alte Girlanden aus Truhen zu kramen, man machte sich daran, die Feuerstelle inmitten des Dorfes zurechtzumachen und mit Holz zu versorgen.
Mark beschäftigte sich noch immer mit Holzhacken, und aufgrund der Hitze hatte er seinen Oberkörper freigemacht. Somit wurde er zu einem Blickpunkt für so manches Mädchen, das an ihm vorbeikam. So kam Sarah in seine Nähe und blieb unverblümt stehen, um den Jungen zu betrachten. Er war ein stattlicher Anblick, denn die Arbeit, die er oftmals erledigte, hatte an seinem Oberkörper sichtbare Spuren hinterlassen. 
Sarah betrachtete gern das Muskelspiel des Jungen, der der Schwarm aller Mädchen im Dorf war.
Mark, ganz beschäftigt, bemerkte den Blick nicht. Er keuchte und schwitzte unter Hitze und Arbeit, und hörte nur selten auf, um den an seiner Stirn herabrinnenden Schweiß am Einlaufen in die Augen zu hindern.
»Hallo, Mark«, hörte er eine Mädchenstimme hinter sich sagen, und er drehte sich um. Blinzelnd erkannte er Sarah, die beschlossen hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie lächelte, versucht, distanziert und freundlich zu wirken.
»Hallo«, antwortete er. »Hast du viel zu tun?«
Sie nickte verschämt und nutzte das Blinzeln Marks kalt aus, um ihn unverblümt zu betrachten und sich an seinem Anblick zu ergötzen.
»Aber sicher nicht sowas wie ich, oder?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe eben mit meiner Mutter ein paar Hühner gerupft.«
»Ich muss auch gleich mithelfen, Hasen zu schlachten.«
»Das ist mir zu blutig.«
»Nun ja, was soll ich sagen. Um so besser schmecken sie mir heute Abend.«
Sarah legte den Kopf schief und scharrte mit dem linken Fuß im Boden. »Ich hoffe, du kannst tanzen, Mark.«
»Tanzen? Ich? Nun, wenn ich betrunken genug bin, sicher.«
»Nein, ernst, Mark. Kannst du tanzen?«
»Ich habe es noch nie ausprobiert außer dem Gehopse auf den Festen. Aber ob das Tanzen ist, weiß ich nicht.«
»Heute Abend werde ich das erste Mal an unserem Tanz teilnehmen, und dazu braucht man immer zwei.«
Mark wusste Bescheid. »Diese Formationstänze sind doch gähnend langweilig, Sarah. Sie sind viel zu langsam und öde.«
»Es kommt immer darauf an, mit wem man sie tanzt.«
»Das finde ich nicht. Das ist doch kein Tanzen, das ist – … keine Ahnung, was das ist. Es macht jedenfalls keinen Spaß.«
Sarah sah zu Boden.
»Aber das soll ja nicht heißen, dass ich nicht mit dir tanzen würde, wenn ich betrunken genug bin.«
»O, danke, Mark.«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte sagen, dass ich vielleicht tanze, mal sehen, wie ich gelaunt bin.«
»Na, vielleicht wirst du in der Stimmung sein.«
»Kann ich jetzt noch nicht sagen.«
»Verstehe.«
»Bist du beleidigt?«
»Nein, wieso? Ich blitze gerne ab.«
»Wieso abblitzen? Habe ich gesagt, ich würde nicht mit dir tanzen wollen? Nein, das habe ich nicht gesagt. Aber ich will nur auch vorbeugen, dass du allzu enttäuscht bist, wenn ich es dir versprochen habe und mein Versprechen breche. Das mache ich öfter.«
»Ja,ja, schon gut.«
Der Wind spielte um sie herum, und Mark spürte einen angenehmen Luftzug. Er versuchte immerzu, Sarah so zu betrachten, wie er es eigentlich gewollt hatte, doch sie hatte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegt und stand im Licht der Sonne, so als wäre sie eine Geburt von ihr.
In einem solch kleinen Dorf kam es oft vor, dass ein Mann, Junge, Mädchen, eine Frau sich in einen anderen versah und vergötterte, zumindest eine Zeitlang. Da gab es Phasen, da sich diese Menschen in die Träume der anderen vorwagten, so ganz von allein, um dann einige Zeit später ebenso von allein wieder daraus zu verschwinden.
Auch Sarah war Mark so manches Mal in die Träume gefolgt, doch hatte sie sich schnell wieder verflüchtigt. Mark kannte diese Gefühle nicht und wusste sie nicht zu deuten. 
Er wusste nicht, mit Liebe, Zuneigung oder Ähnlichem umzugehen. Und so stand er Sarah nun gegenüber und wusste nicht mehr ganz genau, was er denken sollte.
»Du bist jetzt beleidigt«, sagte er. »Gib zu, dass du beleidigt bist.«
»Ich bin nicht beleidigt. Nur enttäuscht. Habe mir was anderes versprochen.«
»Das weiß ich.«
Sie errötete und sagte nichts.
»Ist dir das unangenehm?«
Noch immer sagte sie nichts und sah zu Boden.
Er suchte nach Worten, nach Gesten, nach Phrasen, doch ihm blieb nichts als die verzweifelte Tatenlosigkeit, die ihn zum Dastehen und Stillschweigen verdammte. 
»Wir sehen uns heute Abend, Mark«, presste sich Sarah heraus und war verschwunden. Mark wusste nicht, ob er ihr nachrufen oder sie ziehen lassen sollte. Er wusste nichts. Und so ging sie.

Mit der Zeit wuchs der Haufen des Holzes neben ihm, und er betrachtete beiläufig die Veränderungen, die sich im Dorf vollzogen.Alles wurde langsam aber sich immer festlicher, alles wurde bunter.
»Du kannst gleich aufhören«, sagte ihm sein Vater. »Pet hilft mir gleich beim Schlachten, das brauchst du also nicht zu machen. Hör auf und ruh` dich aus.« Und so war Lorn wieder verschwunden, und Mark ließ die Axt fallen. 

Seine Arme waren ihm schwer, seine Schultern schmerzten ein wenig. Es war gut zu wissen, dass nun Schluss mit dem Holzhacken war. Es hatte ihn schon die ganze Zeit in die Ruhe gezogen, in das, was das Dorf umgab. Die weiten Wiesen und Weiden, die sanften Hügel, die Baumgruppen und die Felder waren und blieben immer ein großer Reiz für Kinder. Dort war ihr Abenteuerspielplatz. Was sollten sie auch anderes tun, als sich in der Umgebung zu vergnügen, auf verstaubten Dachböden oder in alten Scheunen? Wo nichts anderes existierte als der Frieden oder Unfrieden der normalen Dinge, da war die Phantasie der Zeitvertreib. Wer in der Lage dazu war, sie zu benutzen (und das waren nahezu alle im Dorf), der entdeckte so Manches, was dem Unerfahrenen auf alle Zeiten verborgen blieb.
Die Geschichten, die man sich erzählte und die eingingen in die Köpfe der Menschen – ob nun wahr oder nicht – waren die Dreh- und Angelpunkte des Lebens im Dorf.
Und Mark empfand wie alle seiner Mitmenschen: die großartige Umgebung war das Faszinierendste, das sie kannten. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen und beinahe gedankenverloren sein Hemd, um es sich lediglich lose über die Schultern zu werfen. Um ihn herum liefen die Leute, schmückten die Wagen, trugen Holz und Bänke und rollten Fässer. Man tat, was man tun musste, tat es gründlich, schnell, aber nicht übereilt, immer bereit, zu verschnaufen, wenn es denn nötig war, ein paar Worte mit anderen zu wechseln, die einem entgegenkamen, und allgemein die Gesellschaft zu pflegen.
Mark schätzte das wie jeder andere auch. Doch nun war er etwas erschöpft und wollte seine Ruhe haben. Die Kinder rannten und tollten um ihn herum, Vierjährige liefen sich hinterher, und oftmals zupfte eines der Kinder an seinen Kleidern und rief »Mark, Mark«, doch er wollte nicht reagieren. Er ging einfach weiter zum Rand des kleinen Dorfes, zum Strand am Ozean der grünen Wiesen, aus dessen Fluten sich fernab die Berge erhoben, und die der grünen Flut, die an ihnen hochklimmen wollte, mit felsener Starrheit stolz trotzen. 
Mark war alles andere als ein Einzelgänger und ein melancholischer Junge, doch hatte er von Zeit zu Zeit das Bedürfnis nach Einsamkeit.
Im Dorf erzählte man sich, dass hin und wieder, äußerst selten, Wolfsrudel daherkamen, aus dem Wald in der Nähe, und das Dorf bedrohten. Jeder wusste, dass mit den Wölfen nicht zu spaßen war, und so verschanzte man sich so lange, bis sie wieder fortgegangen waren. Diese Belagerung, die hin und wieder, aber ganz selten auftrat, wurde ertragen und dauerte nie so lange, dass man zu hungern und dursten anfing. 
Zugegeben, man hatte Angst vor den Wölfen, man hatte Angst vor dem Schmerz, den ihre Bisse verursachten, aber niemand hatte Angst vor dem Tod. Und wo die Angst um das Leben, die Sorge um ein Fortbestehen verlorengegangen ist, hat auch die Panik ihren Nährboden verloren. Zurück bleibt nur noch ein Teil dessen, nämlich die Angst vor so Manchem und so Vielem, aber nicht vor etwas Bestimmten. Man fürchtete Tirata, ohne zu wissen, weshalb, man fürchtete die Corrin-Höhle, ohne zu wissen, was in ihr lag, man fürchtete den Frauenbaum, weil es hieß, er hätte irgendwelche dämonischen Kräfte inne, von denen man nicht wusste, welche es waren und wie sie wirkten. Aber dieser rudimentäre Teil der Angst war lebensbestimmend für die Menschen, denn sie hatten Angst, große Angst sogar. Sie hatten in latenter Weise Angst deshalb, weil sie nicht wussten, wovor sie sich eigentlich fürchteten. Das war im Grunde genommen schrecklich, denn dass etwas zum Fürchten vorhanden war, das wussten sie alle, und sie ängstigten sich wohl auch zu recht, aber sie fürchteten sich vor Dingen, von denen sie nichts verstanden. Es war wohl so, dass sie sich vor der Natur selbst fürchteten, weil sie sie so vergötterten. Man fürchtete und liebte einen Gott stets gleichermaßen. Aber der Umstand, sich nie sonderlich in Gefahr um das Leben zu sehen, machte die Menschen zu Ruheliebenden, die sich gern allein in eine Wiese legten und gedankenverloren in den Himmel über sich starrten. 
Mark ging auf das Haus von Tsams Eltern zu, ein Holzhaus wie alle. Es war solide und ohne eine Ordnung einzuhalten in das Dorf gebaut, wie alle Häuser. Da standen Häuser, Hütten und Scheunen umgeben von Wiesen, ohne erkennbare Ordnung. Hier galten keine geometrischen Regeln; hier standen die Gebäude wie zusammengewürfelt. Sie standen alle mit einigem Abstand auseinander, so weit, dass jedes Haus von einer freien Fläche und Wiese umrahmt wurde. Aber auch nicht so weit, dass man nicht mehr von einer Dorfgemeinschaft sprechen konnte. Tsams Haus lag irgendwo inmitten dieses Dorfes, und wenn man genauer diese Häuser betrachtete, erkannte man: keines glich dem anderen. Sie unterschieden sich in An- und Aufbauten, an den Gärten, an den Anordnungen der Fenster – nur das Material war Holz und so bei allen gleich, sonst nichts.
Mark stieg die kleine Treppe hinauf und klopfte laut gegen die Tür, bevor er eintrat und das gewohnte Bild in Tsams Haus sah: die Wohnküche, die den unteren Teil des Hauses beherrschte, war hell erleuchtet. Man legte Wert auf viele große Fenster in Tsams Elternhaus. Hier brannten keine Feuer, und Maraim, der Bruder Tsams, sah ihn und winkte ihn zu sich. »Hallo, Mark. Suchst du Tsam?«
»Ja«, antwortete Mark und setzte sich dem drei Jahre älteren Maraim schräg gegenüber an den Tisch. Einige Krüge hochprozentigen Tropfens standen auf dem Tisch. Maraim bemerkte Marks Interesse daran und grinste. »Er ist nicht hier. Was stierst du denn so auf die Krüge, hä? Juckt dir die Kehle nach was Hartem, hä?«
Mark zuckte die Achseln. »Klar.«
»Dann fass mir mal zwischen die Beine, Kleiner, hahaha!«
»Du bist ein altes Schwein. Wo ist er?«
»Wer. Mein Hartes?«
»Tsam natürlich.«
»Er ist mit den Kindern draußen.«
»Was, zum Teufel, macht er mit den kleinen Kindern?«
»Nicht, was ich mit ihnen machen würde, wenn sie’s nur nicht weitererzählen würden, hahahaha!«
»Hör auf mit deinen Sauereien.«
Maraim lachte laut und krächzend. Jeder Junge oder Mann fand früher oder später ein passendes Mädchen, aber bei ihm war es sicher, dass er niemals eines bekommen würde. 
Was Maraim so abstoßend machte war nicht nur ein Streich der Natur, ihn mit Unansehnlichkeit zu schlagen; es waren seine Anlagen innerer Widerlichkeit, die er stets voll zur Geltung brachte. Er betrank sich bei jeder Gelegenheit maßlos, er war zu laut und zu ordinär; man nahm ihn als notwendiges Übel im Dorf hin. Er trug nur schmutzige Sachen und hielt nichts von Sauberkeit.
Man sah ihm gehörige Schmierigkeit an, und so vermied es jeder, allzu sehr in seiner Nähe zu sein.
»Er betreut sie.«
»Er tut was?«
»Ja, du hast richtig gehört. Tsam spielt mit den kleinen Kindern, um sie uns allen vom Leib zu halten.«
»Das wird ihm nicht gefallen.«
»Es stinkt ihm wie die Scheiße eines Gauls. Willst du ’nen Schluck von dem Kram hier?« Er deutete auf die Krüge.
Mark schüttelte den Kopf. »Ich will mich erst heute Abend betrinken.«
»Zum Besaufen ist es nie zu früh. Hier, trink.« Und ehe Mark sich versah, hatte er einen Becher mit dem Schnaps vor sich und spürte die Versuchung.
»Komm schon, Gottkind, sauf den Kack.«
»Wenn es Kack ist, warum soll ich es dann trinken?«
»Weil du dich besaufen willst, du Neunmalklug! Und jetzt runter damit, oder bist du heute Feigling?«
Das reichte, um in Mark Stolz auszulösen. Er nahm den Becher und leerte ihn mit einem Zug. Das Brennen in Mund und Kehle riss ihn fast vom Stuhl. Seine Augen weiteten sich und er hustete heftig. Maraim grölte. »Na, Süßer, noch auf den Beinen?«
Röchelnd erwiderte Mark: »Es geht gerade noch. Scheiße, was ist das nur für ein Zeug?«
»Pure Kacke, habe ich doch schon gesagt. Pure Kacke. Kuhscheiße, frisch aus dem Arsch. Haut rein, was?«
»Du bist und bleibst ein Dreckschwein, Maraim. Ich suche jetzt Tsam. Und du jetzt lass’ mich in Ruhe, du Widerling!«
Er stand auf und ging hinaus, noch immer mit Schwindel und Brennen überall.
Maraim lachte hinter ihm. »Gut gesagt, Kleiner. Werd` s mal versuchen, vielleicht kommt was dabei raus!«
Und Mark schlug einfach die Tür zu.

Am Ufer des Baches sah Mark schon von weiter Ferne eine Schar Kinder verschiedenen Alters, die zwischen den Bäumen und Büschen entlang der Wasserlinie und im Wasser selbst entlang huschten. Sie gaben ihrer Vergnügung offenkundigen Ausdruck. 
Der sanfte Wind trug ihr Geschrei und Gequieke weit über das Land, und es schien, als wären alle Kinder hier versammelt. Sie spielten Fangen und Verstecken, sie ließen flache Steine über das Wasser hüpfen, sie schwammen, sie platschten, sie warfen sich gegenseitig ins Wasser, und besonders die Mädchen mussten es hilflos über sich ergehen lassen, wie sie von den Jungen lange Zeit unter Wasser gedrückt wurden. Wenn sie hochkamen, holten sie tief Luft, japsend und keuchend, ohne die Gelegenheit zu bekommen, außer Keuchen und Strampeln darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen diese Behandlung missfiel, denn stets wurden sie sofort wieder unter Wasser gedrückt. Nun, ertrunken war noch niemand, doch hätte Tsam seine Aufgabe ernster genommen, dann hätte er dies wohl gesehen und verhindert. 
Doch nichts interessierte ihn sonderlich. Er lag unter einem Baum und ließ die Götter gute Menschen sein. Mark steuerte auf ihn
zu, ohne von ihm gesehen zu werden. Mark benutzte diesen Vorteil, um sich von hinten anzuschleichen, in beiden Hände Berge von Erde, um sie Tsam von hinten überraschend auf Bauch und ins Gesicht zu werfen.
Tsam schrak mit einem lauten »Iiih« auf und stand sofort. In seinem von der Sonne gebräunten Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde, spiegelte sich Wut wider, weil er an einen Spaß der ihn nervenden Kinder gedacht hatte. Als in seinem Hirn der Impuls über die Sichtung Marks angekommen war, entspannte er sich ein wenig. »Du warst das?
»Sicher, warum nicht. Ich habe mich an dir für seinen Bruder gerächt.«
»Wieso, was hat er getan?«
»Er hat wieder den üblichen Mist erzählt. Er ist wirklich widerlich. Manchmal wünschte ich, Tirata würde ihm die Beulen an die Eier zaubern.«
Tsam setzte sich wieder unter seinen Baum in den Schatten. 
»Was wolltest du bei uns?«, fragte er.
»Ich habe dich gesucht«, meinte Mark und setze sich dazu. Beiläufig sah er den herumtollenden Kindern zu. »Ich habe nämlich jetzt nichts mehr zu tun, und da dachte ich, du könntest Gesellschaft gebrauchen, wenn du nicht gerade arbeitest.«
»Gut Idee«, sagte Tsam und schloss die Augen.
»Solltest du nicht auf die Kinder aufpassen?«
»Eigentlich schon.«
»Sie ertränken sich gegenseitig.«
»Na hoffentlich. Sie gehen mir auf die Nerven. Ich hätte lieber Holz gehackt.«
»Wieso, du hast es doch hier ganz gut.«
»Klar, weil ich alles vernachlässige. Das ist der Trick an der ganzen Sache. Ich mache mich doch nicht fertig, wenn ich mir für den Abend ein großes Betrinken vorgenommen habe.«
Mark dämpfte seine Stimme. »Tja, das ist so eine Sache. Ich habe mich wirklich darauf gefreut, aber Pepe hat mir für heute verboten, zu trinken. Er hat schlechte Laune wegen der vielen Arbeit und meinte, mich damit ärgern zu müssen.«
Tsams Augen waren mittlerweile geweitet und auf Mark gerichtet. »Was willst du damit sagen?!«
»Dass ich heute Abend nicht mittrinke, Tsam.«
»Was? Nicht mittrinken? Mit wem soll ich denn dann trinken?«
Mark hob kurz die Achseln und entgegnete resigniert: »Es gibt andere als mich. Pepe wird sich bestimmt betrinken. Du kannst es ja mit ihm machen. Oder mit den anderen.«
»He! Die sind doch alle entweder alle zu alt oder zu jung! Du bist der einzige im Dorf in meinem Alter! Ich will mich mit dir betrinken, und mit sonst keinem! Was soll das?«
»Ich habe keine Ahnung.« Mark sah zu Boden. »Frag Pepe. Er ist heute schlechter Laune.«
»Das ist mir doch egal! Was mache ich jetzt? Heute ist das erste Feldfrucht-Fest, an dem ich mich betrinken darf, und ich freue mich schon den ganzen Winter darauf, und ein paar Stunden vorher kommt so was! Das ist nicht gerecht!« Tsam sprang auf. »Wo ist dein Pepe? Ich werde ihm sagen, dass er mir alles versaut, wenn er dich nicht mittrinken lässt!«
Er sah zum Bach herüber, wo ein Junge ein Mädchen pausenlos unter Wasser drückte und sie nur kurz Luft holen ließ.  »He!« brüllte Tsam mit voller Stimmkraft. »Lass sie los, oder ich binde dich unter Wasser an einen Stein! Loslassen, sofort, sage ich!« Er war außer sich, und Mark grinste in den Schatten und sah Tsam von hinten an. Wie erbost Tsam war! Wie aufgeregt! Mark stand auf und ging zu ihm. Kinder rannten um sie herum und zupften an ihnen. »Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Spielt ihr mit uns Pferd und Reiter? Och bitte, spielt mit uns doch Pferd und Reiter!«
Mark beachtete sie kaum, doch Tsam stieß sie wutentbrannt und grob zur Seite. »Zieht Leine, kleines Kreppzeug!«
Verdutzt über Tsams Wutausbruch wichen die Kleinen zurück und wagten es erst in einigen Metern Entfernung, zaghaft wieder mit ihrer Tollerei zu beginnen.
Mark grinste, legte seinen linken Arm um Tsam, drückte ihn ein wenig an sich und sagte, aufs Wasser blickend: »Weißt du, man sollte nicht alles glauben, was einem der beste Freund aus Spaß erzählt.«
Tsam sagte nichts.
»Es war ein Witz«, gab Mark Nachdruck.
Tsam sah ihn an. »Hast du gerade Witz gesagt?«
Mark sah ihn grinsend an und nickte. »Mmhmm.«
»Du hast mich also angelogen?«
»Mmhmm.«
»Du Drecksack«, rief Tsam und warf Mark zu Boden, setzte sich auf ihn und kitzelte ihn durch, dass Mark japste. »Du mir Lügen erzählen? Na warte, na warte!«
»Hör auf«, versuchte Mark ins Lachen zu sagen, doch er schaffte es mehr schlecht als recht. Tsam hörte nicht auf. 
»Ich will, dass später gesagt wird, dass Tsam seinen besten Freund Mark zu Todes gekitzelt hat, weil er ihm Lügen vor dem Feldfrucht-Fest erzählt hat. Er hat ihm weismachen wollen, dass er nicht mit ihm mittrinken durfte, obwohl sich beide das ganze Jahr auf nichts anderes gefreut hatten wie auf das.«
»Nein! Nein! Hör auf!«
»Nein, ich höre nicht auf. Du kriegst deine Strafe. He, Kinder, kommt her! Wir kitzeln Mark durch! Macht alle mit!«
Mit frenetischen Jubel zogen sich die Kinder zu einer Traube zusammen und fielen über Mark her wie eine brüllende Horde Welpen über die Zitzen ihrer Mutter. Sie alle gaben nach Kräften ihr Bestes, was Mark nicht zugute kam. Er schrie und brüllte unsichtbar unter einer bunten Schar von Kindern und Tsam, der auf ihm saß, und konnte sich nicht wehren, und erst nach einiger Zeit hörte Tsam auf und stand auf. Mark schaffte es dann recht leicht, die Kinder von sich abzufegen wie Staubkörner. Als er stand, war er dreckig, zerzaust und halb nackt. Die Brut hatte ihm im Eifer des Gefechtes das Hemd halb heruntergerissen und die Haare durcheinandergewirbelt. 
Tsam lächelte. »Ich würde mir demnächst überlegen, ob du mir irgendwelche Geschichten erzählst«, meinte er.
Die Traube von Kindern hatte nicht genug und ließ nicht von Mark ab, bis er sie anbrüllte: »Geht spielen!« Wie ein Bienenschwarm huschten die Kinder zurück zum Wasser und machten sich wieder daran, sich gegenseitig zu ertränken.
Mark richtete sein Haar und machte sich daran, sein Hemd wieder in die Hose zu stopfen. Er setzte sich neben Tsam unter einen der Bäume. »Dein Bruder ist ein Widerling. Er ist verdorben von oben bis unten. Er ist …«, Mark fand keinen treffenden Ausdruck.
Tsam starrte in die Leere. »Ja, das ist er. Ich schäme mich, so einen Bruder zu haben. Maraim ist das Letzte. Heute Abend, wenn er richtig betrunken ist, wird er wieder anfangen, zu toben. Das macht er oft.«
»Du kannst heute bei mir schlafen, wenn er wieder gewalttätig werden sollte.«
»Ich glaube, das tue ich auch. Es wird wohl besser sein.« Ein Grinsen umspielte Marks Züge. »Wollen wir uns schon vorab dafür rächen?«
»Wie meinst du das?«
»Na, wir könnten ihm doch einmal einen richtig schönen Denkzettel verpassen dafür, dass er ist, wie er ist, und ist, was er ist.«
»Und wie willst du das anstellen?«
Mark stand auf. »Komm mit. Aber verkneif dir das Lachen.«
Tsam tat, wie ihm geheißen und ging mit Mark zum Bach, dessen Wasser wild durch die Gegend spritzte, da sich die Kinder darin herumwälzten und plantschten. »He, Kinder«, rief Mark, und das ausgelassene Toben verebbte sofort. »Kommt, ich erzähle euch eine Geschichte. Habt ihr Lust?«
Natürlich hatten die Kinder das, und sie machen sich daran, sich eilig im Mark und Tsam zu scharen und erwartungsvoll dreinzublicken. Geschichten, die man sich erzählte, waren immer Ereignisse, und schon früh lernte man, sie zu erzählen; aber nie, sie als Unsinn abzutun.Als die Kinder versammelt waren, bewegte sich Mark unter die Bäume, und wie ein Haufen Ameisen folgten ihm die Kinder und Tsam und ließen sich im Schatten nieder.
Mit einem Mal war es still geworden. Hatte es eben noch den Anschein eines Abenteuerspielplatzes gehabt, so vernahm man nun das ferne Pfeifen der Vögel, das allgegenwärtige Summen der Insekten, das Zirpen, das Quaken, das um sie herum war, und dieses himmlische Adagio betäubte die Anwesenden und machte sie offen für die Geschichten, die vom sanften Rauschen der Blätter im lauen Wind untermalt wurde.
Mark begann mit seiner Geschichte. »Ihr kennt doch alle den widerlichsten Menschen im Dorf, oder? Wer ist es?«
Aus vielen Kinderkehlen kam es gleichzeitig und in allen Tonlagen: »Maraim! Maraim!«
Mark nickte zufrieden. »Richtig. Maraim. Es hat noch nie einen so widerlichen Menschen gegeben, oder?«
»Nein, nein«, riefen die Kinder einhellig, und auch die Größeren unter ihnen, die begannen, wie Pflanzen zu sprießen, schüttelten eifrig den Kopf.
Tsam saß da und überlegte, was er tun sollte. Jeder wusste, dass Maraim sein Bruder war, und nun hatte er Furcht, dass etwas auf ihn zurückfiel.
»Findet ihr, Tsam hätte so einen Bruder wie Maraim verdient?«
Kollektives, lautstarkes Verneinen.
»Findest ihr, Maraim könnte überhaupt Tsams Bruder sein?«
Da war die Verneinung nicht mehr so einhellig.
Mark riss die Augen weit auf und wartete auf ein lautes Rauschen der Blätter, mit dem er leise und fast flüsternd in den Wind hauchte: »Er ist gar nicht Tsams Bruder.«
Die Kinder erschraken, und Tsam am meisten. Er sah nicht minder verblüfft Mark an, auf den so viele große Augen und offene Münder gerichtet waren.
»Wisst ihr, das ist ein großes Geheimnis. Maraim ist nicht mal ein richtiger Mensch. Seht ihn euch doch an, diesen Widerling. Und riecht er wie ein Mensch?«
Kopfschütteln.
»Er stinkt doch fürchterlich, oder?«
Kopfnicken.
»Es war vor vielen Jahren, als noch niemand von uns lebte. Da kam ein Mensch von weither, und niemand kannte ihn.« So einfach dies ausgesprochen war, so unvorstellbar war es. Die Welt war das Dorf, mit dem, was darum zu sehen war, aber hinter dem Wald, hinter den Bergen hörte die Welt auf, das wusste man. Dahinter gab es nichts, auch keine Menschen. Und woher sollten sie sonst kommen, als aus der Corrin-Höhle?
»Dieser Mensch kam ins Dorf und wollte hier leben. Aber er war dumm. Zu dumm zum Säen, zu dumm zum Ernten, zu dumm zum Schlachten. Er konnte nicht mal Wasser holen, selbst dazu war er zu dumm.«
Kichern fraß sich durch die Gemeinde.
»Niemand hatte jemals einen solch dummen Menschen gesehen, und auch nie einen so hässlichen. Er hatte überall am Körper dicke Beulen, die gelb, grün und blau waren.«
Ekel verzog die Gesichter der Zuhörer.
»Aus diesen Beulen kam Eiter, der furchtbar stank.«
Nun gaben die Zuhörer ihrem Ekel verbal Ausdruck.
»Niemand wollte ihn haben, weil er aus dem Mund stank und Eiter versprühte. Niemand konnte ihn ansehen, ohne dass einem schlecht wurde. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, dazu war er nicht zu dumm. Aber das Mädchen wollte ihn nicht. Weil er auch immer kotzen musste.«
Bähs und Böhs machten die Runde, und Tsam senkte den Kopf, um sein Lachen zu verbergen.
»Ja, dieser Fremde war wirklich ein hässlicher Kerl. Nun, es kam der Tag, an dem die Leute im Dorf ihn nicht mehr länger bei sich haben wollten. Er ging ihnen auf die Nerven, und sie wollten endlich wieder frische Luft atmen. Sie prügelten ihn aus dem Dorf. Er lief, so schnell ihn seine fetten Beine trugen, und als er weit genug fort war, ließ man ihn in Ruhe. Man meinte, endlich Ruhe vor ihm zu haben. Aber falsch gedacht. Er schlich sich wieder ans Dorf heran und wartete. Was er nicht wusste, war, dass er so unerträglich stank, dass man ihm im Dorf roch. Und die Männer wussten, was sie zu tun hatten. Sie schlichen sich eines Nachts zu ihm. Er war ungefähr hier, wo wir jetzt sind.«
Erstaunte Blicke huschten über die Landschaft, und Mark und Tsam merkten, dass vor den geistigen Augen der Kinder der hässliche, stinkende Fremde auftauchte.
»Sie warfen ihn ins Wasser, als er schlief, und er fiel nicht nur ins Wasser, er fiel auch in Schlamm und Kacke, in Berge aus Schlamm und Kacke. Er verfing sich darin, und aus lauter Angst machte er sich in die Hose. Er riss sich im Wasser die Hose runter, die Frösche behüpften ihn. Und die Kacke aus seiner Hose vermischte sich mit dem dem Schlamm und der Kacke. Der Mann lief davon und wurde nie wieder gesehen. Aber seine Kacke schwamm im Wasser. Lange war es still im Dorf, aber irgendwann kam eine andere Gestalt – es war Maraim! Er war eine Mischung aus dem Schlamm und der Kacke des grässlichen Fremden. Er ist kein Mensch. Er ist eigentlich nur Abfall. Stimmt doch, oder?«
»Ja, ja«, riefen die Kinder, und Tsam lachte lauthals, weil er die Beschreibung und die ganze Geschichte so komisch und treffend fand.
Mark sagte weiter: »Vor ihm muss man keine Angst haben. Oder habt ihr etwa vor Pferdeäpfeln Angst?«
»Nein, nein!«
»Also. Wenn ihr ihn aus dem Dorf haben wollt, müsst ihr ihn mit Fröschen und Schlamm aus dem Bach bewerfen, denn davor ekelt er sich maßlos. Bewerft ihn heute beim Fest damit und gebt es ihm zu essen, dann wird er aus dem Dorf verschwinden. Macht ihr das?«
Die Begeisterung für diesen Plan war ausufernd, und sogleich machten sich die Kinder des Dorfes mit Ausnahme derer, die ihren Eltern hatten helfen wollen oder müssen – darunter auch Jessica – daran, den Bach und das Ufer nach Fröschen abzusuchen, und es gab genug davon. Im Bach fanden sie massenhaft Schlamm, und sie legten alles in Eimer.
Maraim sollte am Abend die Rache der Kinder zu spüren bekommen.

Nach getaner und schwerer Arbeit setzte sich Lorn in seine Wohnküche. Er musste ein wenig ausruhen, und das hatte er sich auch verdient. Das Licht der Sonne flutete durch die Fenster, und es war angenehm kühl. Die Luft roch holzig, und es war nur eine Frage der Zeit, bis das Haus sich mit Hitze aufgeladen hatte. Für jeden Mann im Dorf war jedes Fest mit Alkohol ein wahres Fest. Es war eine gute Angelegenheit, sich einen hinter die Binde zu kippen und um berauscht zu tanzen ebenfalls. Das Fest konnte nur gut werden, denn es gab da nichts, was irgend jemandem das Fest hätte vergällen können.
Es klopfte an der Tür.
»Ja«, sagte er lapidar, ohne sich umzusehen. Er vernahm Schritte und eine männliche Stimme, die sagte: »Tag, Lorn. Mit der Arbeit fertig?«
Lorn hörte schon an der Stimme, dass es Alkon war, der da hineinkam und schließlich in seine Sicht trat, um sich vor ihn zu setze. Der Besucher, etwa so alt wie Lorn, brachte einen Schwall Frischluft mit sich.
»So ziemlich«, entgegnete Lorn. »Es gibt noch einiges zu tun, aber das ist nicht so eilig. Ich habe mich erst mal hingesetzt.«
»Das gönne ich dir, wenn ich bedenke, was ich noch alles zu tun habe …«
»Ach, und du ruhst dich auch bei mir ein wenig aus?«
»Eigentlich nicht.« Alkon schürzte die Lippen.
»Was ist denn los?«, fragte Lorn leicht verunsichert.
»Nun, wir haben beraten, und du bist es diesmal, der Tirata einlädt und abholt.«
Lorn erstarrte. »Was, ich?«
»Es war eine gerechte Entscheidung. Jeder muss einmal gehen, und du hast nun das richtige Alter. Es ist ja auch nur ein Mal.«
»O, nein, ich …«
»Du musst ihr doch nur Bescheid geben. Du musst nicht einmal zu ihr hinein. Rufe es am besten durch die Tür, nachdem du angeklopft hast.«
»Das … das … schaffe ich nicht.«
Jessica kam mit einem Eimer voll Schlamm hereingestürmt. »Hallo, Pepe«, rief sie und stellte den Eimer in eine Ecke. Sie war heilfroh, dass Lorn nicht fragte, was in dem Eimer war.
»Warum war ich nicht dabei?«, wollte Lorn wissen.
»Na, na, das hört sich sehr nach Misstrauen an, Lorn. Meinst du, man will dir was Böses? Jeder muss es einmal tun, und diesmal hat man dich gewählt. Ganz einfach. Warum sollte es dich nicht treffen?«
»Jaja, du hast ja recht, aber …« Er schluckte schwer, und Jessica kam zu ihm. »Was ist denn, Pepe?«
»Dein Pepe muss zu Tirata, um sie zum Fest abzuholen.«
Begeisterung keimte in ihr auf. »Ich komme mit, Pepe!«
»Nein, Jessica, nein. Du bleibst schön hier.«
»Och, Pepe. Was soll sie denn tun? Uns fressen? Oder frisst sie nur kleine Mädchen?«
»Jessica, bitte.«
»Was soll das? Lass sie doch mitgehen.«
Und so blieb Lorn noch ein wenig sitzen, um seinen Mut zu sammeln.

„Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 3: Bei Tirata

Der Wind von Irgendwo – Kapitel 1: Am Tag vor der großen Schuld komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Inhaltsangabe und Kapitelübersicht

Der längste Tag des Jahres begann ruhig. Dabei würde es später noch hoch hergehen. Irgendwann zwischen Nacht und Morgen entzündete sich ein Funke und ließ das Dorf erwachen. Nicht, dass alle nachts geschlafen hätten – denn heute war der längste Tag des Jahres und damit der Tag des Feldfrucht-Fests. Heute würden sie alle Gaben feiern, die die Natur ihnen in diesem Jahr geschenkt hatte und noch schenken würde. Jedes Jahr war das ganze Dorf rund um das Feldfrucht-Fest außer Rand und Band, denn alle freuten sich auf einen Tag und eine Nacht voller Musik, Tanz, Schlemmen und Trinken. 

Deshalb weckte der Funke dieses besonderen Tages nicht alle – denn viele hatten die ganze Nacht hindurch für das Fest geschuftet oder hatten vor Aufregung nicht schlafen können. 

Für diesen Höhepunkt des Jahres war keine Mühe zu groß, keine Arbeit zu schwer. 

Im jungen Licht des aufstrebenden Tages, das sich langsam in Dunkel fraß, verhüllten die Dinge noch weitgehend ihre Farben. Die Wiesen und Felder rings um das Dorf waren nicht mehr als eine Ebene, die westwärts bis zur großen Bergkette reichte, in deren Nähe sich noch nie jemand gewagt hatte – diese Bergkette dort, wie viele Stunden oder Tage Fußweg sie auch entfernt sein mochte, brach die Ebene, und was in den Wäldern dort oben vor sich gehen mochte, war ein Geheimnis. Niemand wollte das wecken, was dort leben mochte, von der schrecklichen Höhle ganz zu schweigen. Die Corrin-Höhle, von der man sich Grauenhaftes erzählte. Wenn abends die Feuer in der Dorfmitte flackerten oder bei Regen in der großen Scheune, gingen die Schreckgestalten der Corrin-Höhle von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr – niemand würde je dorthin gehen, dazu war ihnen das eigene Leben viel zu kostbar. Wenn man schon mit dem Grauen dort leben musste, so wollten sie wenigstens hier bleiben, während der Schrecken in welcher Art auch immer dort bleiben sollte.

Am kommenden Tag und vor allem am Abend und in der Nacht sollten derlei Dinge unerwähnt bleiben, denn es gab ein Fest zu feiern.

Es war der Juniriam, und heute brach der längste Tag des Jahres an. Der Tag, an dem sie alle das jährliche Fest zum Dank für die Feldfrüchte feierten.

Sie hatten eigens dafür Vorräte über den Winter gehortet, um das Festbrot zu backen, Trockenobst, Kartoffeln, Räucherfleisch, Alkohol, Äpfel des letzten Jahres und vieles mehr. Ohne das Fest mit all seinem Rausch und seiner Freude würde das Jahr kein Gutes werden. Niemand rührte daher die Vorräte an, die nur darauf warteten, feierlich verspeist und getrunken zu werden.

Es war einmal dieser Morgen, der sich über dieser alten Landschaft entzündete, eine sehr alte Landschaft. Niemand hatte sie je verlassen, niemand war je zum Horizont aufgebrochen. Die weite Ebene mit dem Dorf in der Mitte, um das sich einzelne Bäume und Baumgruppen mit wilden Wiesen und bestellten Feldern spannten, mit Weiden für das Vieh, um die sich Zäune spannten, veränderte sich kaum in einem Menschenleben. Bäume begannen als Schösslinge und reiften heran, Stämme knickten bei Sturm ein, Felder wuchsen zaghaft weiter in die Landschaft hinein, doch abgesehen von derlei Dingen hatte sich seit Urzeiten nichts verändert, so sagte man sich. 

In der Mitte einer großen, wilden Wiese, die noch nie jemand urbar zu machen gewagt hatte und deren Gras hüfthoch wuchs, stand ein einzelner Baum, der größte und älteste von allen einzelnen Bäumen in dieser Welt, die das Dorf umgab. Sein Profil zeigte das einer alten Frau mit wuchtiger Nase. Hierher ging kein Kind allein, und auch nur in Gruppen wagten sie sich mit größtem Unbehagen. Denn niemand hatte die Geschichten über den Baum vergessen, die ihm während seiner Kindheit erzählt worden waren, auch die Ältesten im Dorf hatten sie als Kinder gehört, dessen Frauengesicht seit jeher unverändert geblieben war und das auch die Erwachsenen ängstigte, seit man im Dorf zurückdenken konnte. Und seit man zurückdenken konnte, waren erst vier Häuser hinzugekommen, um weitere Bewohner aufzunehmen – von denen es nur ein paar Dutzend gab. Vor gut einem Menschenleben hatte eine Krankheit zehn Menschen dahingerafft, andere sprachen von zwölf, da war man sich nicht mehr sicher. Damals war zum letzten Mal die Erzählung des Heiligen hervorgeholt worden, die niemand lesen konnte bis auf die Wahrsagerin des Dorfs, die seit Menschengedenken stets ihre Nachfolgerin bestimmte und die als Einzige Dinge wusste, über die alle anderen nicht einmal zu flüstern wagten. 

Das zunehmende Licht hauchte den Dingen langsam ihre Farbe ein, und auch die Pferde auf ihren Koppeln, die langsam erste lange Schatten warfen, begannen zu grasen. 

Der Geruch von gebackenem Teig quoll aus immer mehr Fenstern, und immer häufiger hoben sich Köpfe aus Kissen. Die Geschäftigkeit ließ Böden knarren, erste Worte wurden gewechselt. Zwischen den Kühen draußen saßen melkende Bauern, noch von Müdigkeit ermattet, die heute keinen Schlaf mehr finden würden, obwohl die Nacht lang zu werden versprach wie jedes Jahr. Denn an keinem anderen Tag würden sie so viel schlemmen und trinken, obgleich das Fest des Heiligen mitten im Winter lag, das kaum mehr war als jeder andere Tag im Winter auch. 

In dieser Frühe an diesem Morgen in dieser Zeit erwachten die Eltern von Jessica und Mark. Mark hörte, wie die Eltern aus ihrem Bett stiegen und tat so, als würde er weiter schlafen. Er wusste, dass die Eltern ihn und seine Schwester noch in Ruhe lassen würden, solange ihre Hilfe nicht nötig war. Doch er hatte sich am letzten Abend sehr früh zu Bett gelegt, um am Tag des Festes wohlauf zu sein – vielleicht zu früh, denn kein Schlaf wollte sich mehr einstellen, und so lag er im Bett und sah den Tag durch die dünnen Vorhänge zaghaft anbrechen. Würde auch er aufstehen, wäre dies mit ungeliebter Arbeit verbunden gewesen, und er war schlau genug, lieber seinen Vater die schwere Arbeit erledigen zu lassen. Zudem würde er auch noch Jessica wecken, und sollte das geschehen, würde das Haus unter ihrem Gekichere und Geschwätz erzittern. 

Schließlich war sie mit ihren zehn Jahren sechs Jahre jünger als er, und er vermied, wie man es mir jüngeren Geschwistern tat, möglichst jeden Kontakt mit ihr. Das war allerdings leichter gesagt als getan, denn die Kinder des Dorfes erlebten viel miteinander, und so kam es, dass er mit einigen wenigen gleichaltrigen Freunden eine Schar Kinder in Jessicas Alter mit sich nahm, beziehungsweise umgekehrt. Manchmal spielten sie allesamt miteinander. Manchmal wurden die älteren Jungen zu Bullen, und die Kleinen waren entweder die Opfer, die gefangen werden mussten, oder sie waren die Reiter. In diesem Fall ließen es sich alle Kinder des Dorfes nicht nehmen, der Reiter von Mark oder seines Freundes Tsam zu sein, denn die beiden Jungen waren bei allen im Dorf die beliebtesten. Jeder mochte sie, denn sie waren höflich und zuvorkommend, schlichteten Streitigkeiten unter anderen und nahmen tröstend in die Arme, beziehungsweise strafend in die Mangel. Wenn Mark und Tsam zu Gericht gingen, dann war das triumphal für den, der Recht hatte, katastrophal für den, der es nicht hatte. Große Gemeinheiten wurden nicht selten mit einer Tracht Prügel bestraft. Diese Eigenschaft der Ritter und Rächer machten sie zu den beiden Dreh- und Angelpunkten des ganzen Dorfes. Und Jessica war die Schwester eines dieser beiden; so verwies sie auf ihren Status als Schwester von einem der beiden, und schon hatte sie ihren Vorteil. Es lebte sich gut als Jessica, Schwester von Mark, zumindest besser als Jessica, irgendeine Freundin der Schwester von Mark. Dieser Status hätte Jessica nicht gereicht, wohl aber ihren Freundinnen, die sich damit brüsteten, ihre Freundinnen zu sein. Nur mit ihren Dingen – mit denen hätte nicht einmal der Schöpfer aller Dinge spielen dürfen. 

So entschloss sich also Mark, liegenzubleiben. Er sah einer langen, herrlichen Nacht entgegen, in der er tanzte und den Mädchen an den Haaren zog, obgleich er auch gern etwas anderes mit ihnen tun würde, dessen er sich nicht so ganz sicher war. Manchmal jedenfalls gab es da Regungen in ihm, derer er sich vor Jessica schämte, wenn er bemerkte, dass diese Regungen etwas an ihm wachsen ließen. Er empfand sie bei so Vielem, so viel Merkwürdigem, und er konnte nicht begreifen, warum es geschah, wenn er Mädchen sah oder nur an sie dachte, aber auch, wenn er manchmal da stand und Tsam betrachtete. Das war so merkwürdig, dass er meinte, diese Regungen, sowohl die eine als auch die andere seien nicht normal. Und bevor man ihn zu Tirata, der Wahrsagerin schickte, die ihn wahrscheinlich ausziehen und mit ihren Fingern von oben bis unten berühren und ihm etwas Merkwürdiges raten würde, behielt er diese Dinge lieber zurück und war äußerlich einfach nur der beliebte, geachtete Mark.

Der gestrige Tag hatte einiges gebracht. Schon früh hatte man in Anbetracht des Festes mit der Arbeit aufgehört, schon früh hatte man sich um das große Feuer in der Mitte des Dorfes versammelt, hatte erzählt, phantasiert, zitiert, rezitiert und getrunken, und Mark war früh wie alle anderen zu Bett gegangen, schließlich wollte man feiern. Und zu feiern wusste man im Dorf, denn dann wurde nicht unterschieden zwischen Kindern und Erwachsenen, dann trank jeder Alkohol, wenn einem danach war. Wenn die Kinder es vertrugen, war das gut, wenn nicht, dann eben nicht.

Mark hatte sich viel vorgenommen: Er wollte sich erstmals betrinken, auch wenn er in den letzten Jahren keinen Alkohol gemocht hatte. Wenn aber alle davon schwärmten, wenn es alle taten, die etwas auf sich hielten, dann war es ihm Pflicht, sich endlich mit seinem Freund Tsam zu betrinken, bis die Lichter ausgingen.

So hoffte er, doch noch etwas einschlafen zu können, eine Stunde konnte er sicherlich heraus schinden, denn es war eigentlich noch mitten in der Nacht, und an normalen Tagen hätten erst vor wenigen Minuten die Letzten der Glut des abendlichen Feuers den Rücken gekehrt und wären zu Bett gegangen, zögen sich wahrscheinlich jetzt erst um und röchen ihr Bett, hörten das gleichmäßige Atmen der Schlafenden ringsum, sofern es sie denn gab, und waren trotz allen Vergnügens am Feuer froh, endlich schlafen zu können. 

Mark schloss die Augen und stellte sich den Wind vor, der über die Wiesen strich und das Gras, hoch und dicht und dunkelgrün, zu welligem Wogen brachte, so dass sich die Landschaft zu drei Seiten hin zu einer tiefgrünen, gräsernen See verwandelte, einem Ozean, wie ihn nur der kennt, der einmal durch seine Wellen geschwommen ist.

Mark hatte dies oft getan, und im Geist die Leinwand hinter seinen geschlossenen Lidern betrachtend, sah er diesen Ozean, dessen Fische Hasen und Mäuse, Heuschrecken und fliegende Insekten waren, hörte das Rascheln des Grases, hörte die Schritte Tsams hinter sich, hörte dessen Atem hinter sich, hörte seinen eigenen. Er sah sich auf den Boden fallen und in den Wogen verschwinden, und Tsam sprang über ihn hinweg, da er nicht so schnell hatte anhalten können. Die beiden waren gerade Jessica und ihren Freundinnen fortgelaufen, mit denen sie eigentlich hatten spielen sollen. Aber dann hatten sie es sich anders überlegt, hatten sich angesehen, angegrinst und mit einer unbekannten Art der Gedankenübertragung beschlossen, den Kindern einfach aus den Augen zu laufen. Er und Tsam waren gute Läufer, und so stand es außer Frage, dass sie die anderen abhängen konnten. Manchmal kam der Drang in beiden durch, für sich zu sein, nur sie beide, und wenn dieser Drang kam, dann sprachen sie über so Vieles und Verschiedenes, gingen Richtung Corrin-Höhle, um aus sicherer Entfernung in deren tiefschwarzen, nicht ergründeten, gefährlichen Schlund zu sehen, ohne ihm zu nahe zu kommen; oder sie wagten sich zum Frauenbaum, um so lange unter ihm zu liegen oder auf ihm herumzutollen, bis es dunkel wurde, denn dann kam die mysteriöse Angst vor dem Baum wieder zum Vorschein, oder sie sagten nichts und erfreuten sich an der bloßen Präsenz des anderen. Manchmal lagen sie da, und einer hatte den Kopf auf der Brust des anderen, womit sie sich abwechselten, und so bildeten sie von oben gesehen einen rechten Winkel. Ihre Freundschaft war geradlinig und perfekt und tief und würde bis an ihr Lebensende dauern in tiefster Verbundenheit, bis einer der beiden eines Tages einmal sterben musste. Aber derlei Gedanken kamen ihnen kaum. Über den Tod nachzudenken war es jetzt noch nicht an der Zeit, obwohl der Tod ein allgegenwärtiger Zustand für die beiden war. Im Dorf starben immer wieder die Menschen, sie starben innerhalb ihrer Familie, im gewohnten Bett liegend, um von dem Vertrauten zu etwas anderem Wunderbaren zu gelangen. Er war so selbstverständlich wie der Sonnenuntergang. Man dachte nur über das nach, was man zu sehen vermied.

Die schöne, eingebildete Szenerie ließ ihn in den Nebel des Schlafs gleiten, er spürte, wie seine Glieder wieder schlaffer wurden, wie die Müdigkeit auf ihn herabsank.

Die Farben seines Traums nahmen zu, da rüttelte es an ihm, und seine Decke wurde fortgezogen. Kälte fraß sich in seinen Körper. »Mark«, sagte eine helle Stimme. »Mark, komm, steh auf.«

Es war Jessica, und Mark hätte sie ermorden können. »Lass mich schlafen«, entgegnete er müde und blieb liegen.

»Mark, die Sonne geht gleich auf.«

»Sie geht auch ohne mich auf.«

»Aber wir müssen doch heute bei Sonnenaufgang aufstehen.«

»Dann sieh aus dem Fenster und erschrick die Sonne mit deinem Gesicht, dann verschwindet sie wieder und ich kann weiterschlafen.«

»Du bist gemein, Mark. Von mir aus kannst du den ganzen Tag über liegenbleiben, du bist mir nämlich egal, aber wir sollen jetzt aufstehen.«

»Wenn du nicht gleich verschwunden bist, versohle ich dir den Hintern.«

Das reichte, denn Jessica wusste nur zu gut, was geschah, wenn Mark seine Drohung wahr machte. Er hatte es schon häufiger getan, wenn sie sich wieder einmal zu viel erlaubt hatte.

Mark selbst war dies peinlich, fühlte er sich doch trotz all seiner Naivität stets zu einem Erwachsenen berufen, der sich wie ein solcher zu benehmen hatte. Und das, obwohl er noch längst nicht aus dem Alter heraus war, sich vor den Schatten nicht mehr zu fürchten. 

Die Schauergeschichten, die man sich am Feuer erzählte und für wahr hielt, waren das blanke Grauen, und die merkwürdige Wahrsagerin Tirata hatte schon zu oft von merkwürdigen Gestalten gesprochen, die nachts im Dorf herumliefen. Im Prinzip war er ein Kind, das jedes Märchen glaubte.

Jessica wich zurück und beschloss, ihren Bruder schlafen zu lassen. Sollte er doch verschlafen und sich Ärger einhandeln. Und obgleich sie keine Petze war, würde sie ihn gleich so richtig schlecht machen. Da sie zu jung war, die Schönheit eines gerade erst anbrechenden Tages zu sehen, stieg sie einfach daran vorbei und öffnete die Tür. Überall roch es nach Holz. Sie schlich den Flur entlang, der unheimlich dunkel war und kam schließlich in die Küche, wo ein Feuer brannte. Sie sah ihre Eltern inmitten von Aktivität, sie waren gewaschen und bereiteten das Frühstück zu.

»Mark kommt nicht«, waren ihre ersten Worte.

Ihre Mutter drehte sich um. »O, mein Schatz, hast du gut geschlafen?«

»Mhmmm. Mark kommt nicht.«

»Freust du dich schon auf das Fest heute?«

»Mhmmm. Mark schläft noch.«

Ihre Mutter stellte ihr eine Schale Milch auf den Tisch. 

»Hier, trink, Kleines. Wir haben viel zu tun.«

»Für Mark brauchst du keine Schale hinzustellen, Mama.«

Überall um sie herum war Holz, und die Wärme des Feuers saß in jedem Astloch.

Alles sah aus wie früh am Tag. In den Fenstern sah man Morgenrot, die Mutter trug ein Nachthemd und ihre langen Haare waren noch wirr, ihr vitales Gesicht besaß morgendliche Frische. Der Vater saß mit nacktem Oberkörper im Schein des flackernden Feuers am Tisch und trank seine Milch, die er eben erst frisch gemolken hatte. 

Die Mutter stellte Brot auf den Tisch.

»Du brauchst für Mark gar nicht erst mitzudecken, Mama, er will nämlich noch schlafen.«

Ihre Eltern ignorierten dies von Neuem, und die Mutter deckte trotzdem für ihn.

Jessica sah trotzig auf sein Gedeck und fragte grantig: »Soll ich Mark wecken und ihm sagen, er soll gefälligst hierherkommen?«

»Nein, lass ihn schlafen«, sagte ihr Vater bestimmt.  

So schwieg Jessica. Der Vater sprach weiter, ohne sie zu anzusehen, aber in einem viel weicheren Tonfall: »Er hat eine lange Nacht vor sich, mein Mädchen. Das Feldfrucht- Fest ist ein hohes Fest.«

»Er will sich betrinken.«

»Jeder Mann tut das.«

»Er ist mein Bruder.«

»Und dennoch ein Mann, Jessica. Niemand achtet ihn als Mann mehr als du, oder?«

Sie hielt den Mund und trank trotzig ihre Milch. Eine Zeitlang duldete sie die knisternde Idylle, dann platzte sie heraus: »Ich hoffe doch wohl nicht, dass ich hier etwas tun muss, solange Mark schläft.«

Ihre Mutter setzte sich an den Tisch und lächelte sie an. »Du wolltest mir doch so gerne beim Backen und beim Kochen helfen, Jessica.«

»Ja.«

»Und das kannst du wohl auch, wenn Mark schläft, oder etwa nicht?«

»Die Sonne ist doch schon aufgegangen.«

»Aber er ist müde.«

»Das ist gemein. Er kann schlafen, obwohl er es nicht soll. Ich bin aufgestanden, ganz von alleine, und ich wollte helfen. Mark will nur schlafen.«

»Schluss jetzt, Jessica«, sagte der Vater ruhig. »Ich werde ihn gleich wecken, gut? Er wird Holz hacken für heute Abend. Und er wird gleich mit mir Hasen schlachten. Wenn er wach ist.«

Jessica schwieg unversöhnlich, trank ihre Milch und nahm sich eine Scheibe Brot.

»Nimm Schmalz dazu«, sagte die Mutter, doch Jessica schüttelte den Kopf. »Wenn ich das mache, dann kann ich heute den ganzen Tag kaum etwas essen. Jola hat gesagt, dass es mal eine Frau gegeben hat, die ist an dem vielen Schmalz geplatzt, und die Leute wären gekommen und hätten sich die Fetzen der Frau aufs Brot geschmiert.«

»Ich glaube«, brummte ihr Vater, »ich werde mit Jolas Mutter heute sprechen müssen.«

Zur gleichen Zeit entschied sich Mark schließlich doch, aufzustehen. Es gab nur zwei Alternativen: entweder entstieg er nun dem Bett und war wach, oder er ließ sich aber wieder in den Schlaf fallen und war hundemüde, wenn er geweckt wurde. 

Der Abend sollte zu schön werden, als dass er müde sein wollte. So stand er auf und zog den Vorhang vom Fenster, um den herannahenden Tag zu betrachten. Mark war ein Träumer und Genießer, und daher befähigt, einen tiefen Seufzer auszustoßen. Schade nur, dass er keine Zeit haben sollte, sich dem Morgen hinzugeben. Arbeit wartete auf ihn, und sie sollte ihm nicht gefallen. Doch was machte es. Der Abend würde für alles entschädigen.

Als er gewaschen und angezogen in der Küche erschien, sagte sein Vater: »O, du bist doch schon aufgestanden. Das ist gut. Du musst gleich einiges Holz hacken.«

»Ich weiß, Pepe.«

»Und du musst mir gleich beim Schlachten helfen.«

Ein Schauer des Ekels überkam ihn. »Aber ruf mich bitte erst, wenn sie schon tot sind, ansonsten kann ich mir das nicht ansehen.«

»Du bist ja richtig feige, Mark«, meinte Jessica schnippisch.

»Ein Wort noch, kleines Luder, und ich werfe dich nach dem Schlachten in den Trog mit den Eingeweiden, und du kannst glauben, dass ich das tue.«

Jessica erschrak und nippte an ihrer Milch. 

»Ist gut, Mark.«, meinte der Vater. »Du sollst mir ja nur beim Auseinanderschneiden und Ausnehmen helfen. Töten werde ich sie schon alleine.«

Nach dem Frühstück ging Mark nach draußen, um Holz zu hacken. In der Rechten hielt er eine Axt, als er an die frische Luft kam. 

Es roch herrlich draußen nach Holz, Tau und taunassem Gras. Er hörte die Hühner gackern, und das Rot im Osten hatte einem Hellblau Platz gemacht; das Schwarz der Nacht war nun zurückgedrängt, und die Vögel trauten sich mit ihrem Gezwitscher mehr als eben noch.

Er ging um das Haus herum, wo viel Holz lag, und er griff nach einem großen Klotz. Währenddessen lief ihm Jolio über den Weg, ein älterer Mann, der am abendlichen Feuer häufig verrückte Geschichten zum Besten gab. Man erzählte sich ebensolche über ihn; so sollte er als Reaktion auf den Tod seiner Frau vor vielen Jahren, als es Mark noch nicht gegeben hatte, für mehr als eine Woche in der Corrin-Höhle verschwunden sein, in die sich normalerweise kein Mensch, der sie alle beisammen hatte, hinein traute. Nicht so Jolio. Er war tatsächlich hineingegangen und behauptete sogar, nichts Absonderliches in ihr gefunden zu haben.

»Ach, mein Junge.«, begrüßte er Mark. »Festvorbereitungen, wie, haha.«

»Allerdings, Jolio. Was ist daran so merkwürdig?«

»O, nichts, mein Junge. Mich wundert nur, dass ihr jungen Leute das um diese Uhrzeit so freiwillig tut.«

»Ich tue es nicht freiwillig, Jolio.«, bekannte Mark und zerhieb ein großes Stück Holz.

»Du bist ganz schön kräftig, Mark. Schön kräftig, jaja.«

»Das freut mich.« Mark wünschte sich, dass dieser alte, dürre Schwätzer mit seinen ewig dreckigen Lumpen, die er trug, und seinem löchrigem Hut auf seinem faltenreichen, kaum behaarten Kopf, dessen Mund kaum noch Zähne aufwies, möglichst schnell wieder verschwinden würde. 

»Als ich so alt war wie du, da sollte ich auch immer Holz hacken, mein Junge, aber ja, ich war einfach zu schwach dazu, viel zu schwach, ja. Ich konnte kaum die Axt halten.«

»Wie hast du denn dann deine Frau nach der Hochzeit über die Schwelle getragen Jolio?«

Der alte Mann sah betreten zu Boden, denn die Unverschämtheit hatte ihn getroffen. Dass man die Frau über die Schwelle trug, war eine notwendige Sitte, doch Jolio hatte es damals nicht geschafft, und so hatte man auf diesen Ritus verzichten müssen, sehr zur Blamage seiner Frau.

»Ach, nichts für ungut, Jolio. Was triffst du denn für Vorbereitungen für heute Abend?«

»Ich werde Eier holen, um daraus Eierschaum zu schlagen. Aus Schnepfeneiern. Ich hoffe, ich finde genug.«

»Schnepfeneier?! Igitt!«

»Ach, mein Junge, mein Junge, wenn du wüsstest, wie herrlich die schmecken, jaja, wie herrlich, wie herrlich …« Und so ging der alte Mann sehr zur Erleichterung Marks.

Ende des 1. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 2: Der Streich

Erzählung „Im Schweigen“

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Du sitzt da und schweigst, du hältst dein Glas vor dir fest und schaust verstohlen auf die Spiegelung deines Handys, während ich rede. Machst du es dir damit einfach? Oder bist du einfach nur sprachlos?
Stopp. Ich müsste mal die Klappe halten, Luft holen, einen Schluck trinken, mal sehen, was geschieht. Ich trinke, halte mein Glas weiter umfasst und warte. Auf Antwort. Auf Reaktion. Auf irgendwas.
Die Redepause nutzt du zu einem Schluck aus deinem Glas, und da kommt der Lärm von denen, die hier sitzen, stehen, trinken, essen, reden, lachen, kichern, diskutieren und schwatzen, lästern, schimpfen, sich anvertrauen, aufs Klo gehen, vom Klo zurückkehren, die Bedienungen bahnen sich ihren Weg wie tänzelnde Eisbrecher durch die Menschen, all das spritzt Gischt um uns, die wir zwei schweigende Felsen sind in einem Meer der Bewegung und des Lärms, während ich sitze und warte, während du nochmals einen Schluck aus deinem Glas nimmst. Du stellst dein Glas ab, während ich im Schwall der Worte um uns und warte.
Siehst du einem inneren Film zu? Oder starrst du einfach nur ins Nichts? Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Es sei bedauerlich, aber verständlich, klar und in Ordnung so weit.
In Ordnung? Nichts ist in Ordnung! Aber ich kann das Rad nicht zurückdrehen, nichts wird ungeschehen sein, wie sehr ich es mir auch wünsche. Ich habe nun aufgehört zu kämpfen. Das Leben schmerzt nur solange, wie man es vergeblich zu ändern versucht. Wer aufhört, es ändern zu wollen, beginnt eine sanfte Reise auf dem Ozean der Ruhe und Stille mit dem Schiff namens Gelassenheit. Loslassen ist Befreiung.
Das Schweigen wird lang. Um uns trudelt die Welt durch ihre Bestimmung und hat mit uns nichts zu tun. Warum sagst du nichts?In meinen Därmen sprudelt die Quelle der Unruhe und im Gewirr meines Hirns beginnt das Verlangen nach Gewissheit zu sprudeln, ob ich Recht habe oder nicht. 
Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Stein für Stein hab ich die Mauer aufgebaut, um den Schmerz fern zu halten, und habe versucht, es mir dahinter gemütlich zu machen, doch nun stelle ich fest, dass ich mich durch dein Aussperren eingesperrt habe.
An einem der anderen Tische, drei Meter links von mir, in der heimeligen Ecke dort, sitzt eine junge Frau, die ebenso wartet wie ich. Der Stuhl ihr gegenüber ist leer, ihr Blick gleitet, ohne haften zu bleiben, ihre braunen Haare fallen in Locken über die Schultern, und trotz der Entfernung und des dämmrigen Lichts, das allen Kneipen zu eigen ist, da sie der Privatheit gedimmter Schummrigkeit bedürfen, trotz dieses Lichts also, das in seiner Gemütlichkeit heischenden Trübe die Farben aller Dinge in stimmungsvolles Grau zieht, erkenne ich Dutzende Sommersprossen auf ihren Wangen und Nasenflügeln. Mit großen braunen Augen betrachtet sie immer wieder ihr Handy auf dem Tisch in der Hoffnung, eine Nachricht möge kommen, die nicht kommt. Sie wartet wie ich im Stimmentosen. Sicher ist sie traurig. Ich denke mir, dass ihr bewusst ist, dass aus anfänglichem Wartenlassen, diesem Gewebe aus Langweile und Hoffnung, ein Sitzenbleiben geworden ist, eine Säure, die im Magen eines Riesen schwappt, der sie nun zu verdauen beginnt. Mit solch einem Ausgang kann sie nicht gerechnet haben, sonst wäre sie nicht hier. Hat mit Aufmerksamkeit gerechnet, sich Wichtigkeit gegeben, über die letztlich nur der Andere entscheidet – doch niemand kommt. 
Ich sehe dich an und versuche zu deuten, was ich sehe. Die Tischplatte zwischen uns, auf der unsere Gläser stehen und unsere stummen Handys liegen, trennt Universen, wer hätte das gedacht!
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, aber nur weil ich es sagte, muss ich es doch nicht wollen! Du warst mir nahe wie ein Zahn – lange Jahre ein Teil von mir, bis die Fäulnis einsetzte, warum auch immer, und nun bist du herausgerissen aus mir, die Wunde mag verheilen irgendwann, aber die Lücke wird immer bleiben.
Du schweigst, ich warte. Ich sehe dich an und wünsche mir, dein Blick ins Nirgendwo fände dort Antwort und Lösung, wünsche mir, dass du auf den großen Fang wartest, aber Hoffnung, was ist das schon, was ist es mehr als nur ein Wort, das nur Erlösung oder Vernichtung bringen kann, das uns im Dunkel unserer Wünsche und Neigungen tappen lässt, verstrickt im Außen, dem es Spaß macht, geliebt, begehrt, verehrt zu werden, dessen sadistische Befriedigung sich nur in Vorenthaltung oder Fortreißen zeigen kann, Hoffnung, diese Zersetzung, die mein Herz zerfrisst, denn ich will nur, dass du sagst, wie sehr ich im Unrecht bin, ich will, dass du mich dazu bringst, mich bei dir für meine Worte und Meinung entschuldigen zu müssen, sag was, ein Wort von mir aus nur, oder wenigstens zeig eine Geste, einen Blick, der mir zeigt, dass ich mich irre, bitte!
Themenblöcke werden zu Sand zerrieben, Jahre rieseln von uns herab. Wortlos blickst du blicklos durch den Tisch, auf dein Getränk, drehst versonnen dein Glas, und ich warte noch immer, auch wenn nun die Gewissheit Überhand gewinnt, dass alles gesagt worden ist.
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, und habe das gesagt,  was dir längst klar gewesen ist. Wir sind am Ende, habe ich gesagt, damit du es nicht zuerst sagen konntest, aber du hättest es nie gesagt. Nicht, weil du es nicht hättest wahrhaben wollen, sondern weil ich es längst hätte wissen müssen. Meine Worte waren ein Luftschnappen meiner Eitelkeit, die mich in der Illusion wiegen sollte, es wäre meine wohlüberlegte Entscheidung gewesen, das Wohlfühlprogramm in Zeiten des Unwohlseins, das nur mit Verblendung funktioniert.
Hinten in der Ecke trifft eine Frau ein, die sich zur Sommersprossigen setzt – das war es dann mit Sitzenlassen, das doch nur ein Wartenlassen war. Das war es dann mit Traurigkeit, die sich doch nur an meinem Tisch abspielt und die ich lieber dort drüben als bei mir gesehen hätte. 
Nun bin ich da, wohin ich gehöre: am Ende meiner Einbildungen.
Du schweigst, aber dein Schweigen sagt alles. Es ist egal, ob du nichts zu sagen weißt oder nichts mehr zu sagen hast. Die Tischplatte zwischen uns hackt uns in zwei Regionen, da erscheint die Welt in Regenbogenfarben. In den Prismen meiner Tränen offenbart sich gar das Licht als Täuschung der Sinne, die es uns bequem machen, die uns eine Welt zeigen, die so gar nicht ist, und nur in Momenten wie diesen erkennen wir es.
Wir sind am Ende, habe ich sagt und habe es nicht so gemeint. Ich wollte, dass du es mir ausredest, dass du wütend oder traurig oder sonst was bist, aber dass du wortlos da sitzt, damit habe ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, wie es hätte werden können, aber die Möglichkeit einer Möglichkeit wäre tröstlich gewesen. Ein Ende wie nun ist eine Sackgasse. Sie erzwingt Umkehr und Rückzug.
Wortlos ertaste ich Geld, viel zu viel, und lege es auf den Tisch. In mir ist Beklemmung, die den Verlustschmerz gebiert. Das Ende dieses Weges mündet in das Ende aller Worte. Das Schweigen der Worte ist ein Schweigen der Zukunft. 
So gehe ich, während du weiter schweigst und sich dein Blick in den Spiegelungen deines Handys verliert.