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Der Bildungsbürger als solcher ist bereits schon soweit, dass er sich selbst nicht mehr als solcher bezeichnen würde, weil er das Dauerfeuer von zwei Seiten nicht mehr abwehren kann oder will. Er muss sich nicht nur ständig Kommentare und Fragen nach seinem Stand, seiner Bedeutung und seiner nicht vorhanden Wichtigkeit gefallen lassen, er fragt sich mittlerweile selbst: Schadet diese Bildung eigentlich, und wäre ich nicht besser dran, wenn ich einfach auf sie pfeife? Und ist es unangenehm, meine Bildung zu zeigen und zu ihr zu stehen?
Was ist Bildung dann in letzter Instanz?
Sie ist Mittel zur Abgrenzung und Waffe. Wer elitär ist, nutzt diesen Stand meist nur aus sozialen Gründen und verschanzt sich hinter Mauern. Und wer wenig bis keine Bildung besitzt, relativiert sie, indem er sie als Waffe gegen den Bildungsbürger einsetzt.
Nun kann man sich fragen, wohin das führen soll in einer Gesellschaft, in der man noch von „Mittelschicht“ als gegeben und für den sozialen Frieden und soziale Stabilität erforderlich spricht. Wo sie schrumpft, verhärten sich die Ränder um ein Vakuum, das über kurz oder lang gefüllt werden muss – fragt sich nur, mit was.
Schaut man hin, was gemeint ist, wenn man allgemein von Bildung spricht, so wird ersichtlich: Bildung wird immer mehr das, was den Einzelnen zum Ausüben einer langen Tätigkeit in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft befähigt – und das ist in erster Linie immer mehr Fachwissen und praxisorientiertes Know-how, das dem Gesetz der Geschwindigkeit und der Spezialisierung unterliegt. Schnelle Ergebnisse und Lösungen sind gefragt, die man später hübsch agil modifizieren und verwerfen kann.
Bildung als der Wert, der sie einmal war, heißt nur noch Bremse und Ablenkung vom vermeintlich Wichtigen. Der Bildungsbürger ist somit ein Bremser von allem, der zudem zu langsam ist und über keine Kenntnisse verfügt, schnell erfolgreiche und vor allem verwertbare Lösungen zu erzielen.
Aus dieser Warte ist verständlich, dass der Bildungsbürger verliert, denn er wird durch diese neue Brille betrachtet ein Amateur, der selbst den Ungebildeten unterlegen ist und bleibt, weil er offenbar aufs falsche Pferd gesetzt hat und einen Wasserkopf an Wissen durch die Gegend trägt, mit dem er keinen Blumentopf mehr gewinnt. Er versteht nicht, weiß nicht, kann nicht mithalten. Und ist somit nichts mehr wert, weil es immer weniger Menschen gibt, die Bildung als solche für sinnvoll, erstrebenswert und wichtig halten.
Durch Abwertung seiner Bildung verliert er an Existenzberechtigung als Bürger, womit wir bei undemokratischen Tendenzen wären. Denn wer nur noch geschätzt und geduldet wird, wenn er einsatzfähig und verwertbar ist, unterlässt zahlreiche Dinge, die ihm demokratisch zustünden, weil sie sozial geächtet sind. Es bedarf nicht erst Gesetze, um etwas zu verbieten: das übernehmen die Gesellschaftskreise schon von ganz allein.
Wir haben es also nicht einfach nur mit einer Ironisierung und Abwertung einer wie auch immer gearteten Gesellschaftsgruppe zu tun. Sondern mit einer schrittweisen Auflösung an Grundwerten und -rechten zugunsten eines Marktes, der sich um Verfassungen nicht schert: Bildung und Bürger nämlich.
Wir sollten besser aufpassen.
Kalender zu führen ist ja so einfach. Immerhin hat jedes Smartphone die passende App gleich als Standard installiert. Dem heutigen Menschen ist offenbar in die technische DNS geprägt, als Basisdisziplin des Lebens alle Termine verfügbar und – wohl noch wichtiger – jederzeit eintragen und verschieben zu können.
Mir ist das zu beiläufig. Wie geschnappter Atem werden da Wochen zerhackt und Wochenenden verplant, einfach weil es so einfach eingetragen ist. Es ging nicht um Lust und Vergnügen an der Sache, sondern lediglich um den nächsten freien Termin; und mein Privatleben bestand fortan nicht mehr aus Verabredungen und Vorhaben, sondern nur noch aus Time Slots und Einträgen – und ich sah mich oft mit Dingen konfrontiert, die ich letztlich gar nicht wollte. Weil ich keine Zeit hatte, sie zu bedenken, bevor ich angesichts der Einfachheit des Eintragens meine Lebenszeit verschleuderte.
Denn was in all den Kalenderapps immer fehlte, war das, was keine App mir geben kann: Die Zeit für mich – es sei denn, ich bin so wahnsinnig, und trage mir die entsprechend auch noch als Termin in einen freien Time Slot ein oder ergebe mich der Peinlichkeit, für die Beurteilung dessen, was wann gut für mich ist, eine App zu benötigen und damit wirklich jeden Rest der menschlichen Freiheit über mich selbst einem Progrämmchen anderer Leute anzuvertrauen.
Andere mögen sich die Frage nicht stellen, ob sie so leben wollen, und bitte sehr, dann eben nicht. Ich jedoch nehme mir diese Freiheit ganz ausdrücklich.
Und das hat Folgen.
Seit Langem schon weigere ich mich, Verabredungen als Termine in freie Time Slots einzutippen. Ich weigere mich, bei jeder Idee sofort das Gerät zu zücken und zu schauen, ob ich da Zeit habe. Stattdessen gewinne ich Zeit, sage nicht sofort zu sondern sage: „Ich muss nachschauen.“
Denn zu Hause liegt mein wirklicher Kalender, ein Buch mit Papierseiten, den ich mit Bleistift und Füller führe.
Auf diese Weise nämlich gewinne ich notwendige Zeit, die ich brauche, um mir eine ganz besondere Frage zu stellen: „Will ich das überhaupt? Ist mir das in dieser Woche eigentlich recht?“ Der zeitliche Aufschub bewahrt mich vor der Leichtfertigkeit, die mich so häufig in Bedrängnis gebracht hat. Die Entschleunigung bringt mir Entscheidungsfreiheit zurück, die ich in der Hochgeschwindigkeit der technischen Machbarkeit und Allverfügbarkeit nicht wie gewünscht habe. Meine Verabredungen haben wieder mehr mit mir zu tun und meiner eigenen Geschwindigkeit.
Hinzu kommt: Es ist eine Frage der Ästhetik. Auf einem Smartphone in was auch immer herumzutippen, hat nichts Ästhetisches. Im Gegenteil. Seit es die Geräte gibt, sehen wir alle aus wie Affen, die sich lausen. Statt von Haptik ist jetzt nur noch von Usability die Rede – dabei liegt zwischen Fühlbarkeit und Bedienbarkeit ein ganzes Universum. Auch dies ist etwas, das mir verloren ging, und das ich wiederfand. In der Hochgeschwindigkeit des Bedienens und Eben-schnell-mal-Machens fällt das nicht weiter auf und dürfte nicht vermisst werden.
Das ist legitim.
Ich jedoch mache es mir gerne und mit Freude in meinen Entscheidungen gemütlich.
Nun, da endlich Sommer ist und mit Ende Mai tatsächlich noch zu früh, endet das Lamento, das seit April den Alltag prägte, dass nämlich immer noch kein Sommer sei. Die letzten Jahre brachten mit all der Hitze, Dürre, Sturm und Platzregen nur eine Apokalypse, nämlich dass die Welt stets untergeht, wenn gerade heute einmal kein Sommer ist. Das Hoffen, der Klimawandel könne bitte ausbleiben oder wenigstens kleiner ausfallen als befürchtet, hat angesichts des Hoffens aller auf noch mehr Hitze, möglichst schon von März, April an und bitte unterbrechungsfrei, keine Chance.
Da ist es nun Ende Mai und plötzlich 25 Grad warm, und alles jammert über all die vergangenen Tage, an denen es nicht auch schon so warm oder wärmer gewesen ist. Erstaunlich, das Ganze. Einhergehen wird der nun so plötzlich, heftig – und eigentlich immer noch zu früh – hereingebrochene Sommer statt dem Glück über seinen ersehnten Anfang mit zwei ganz anderes Dingen: Dem Jammern darüber, dass es nicht 40 Grad ist, und dem Jammern bei jedem Tröpfchen, jedem Wölkchen, jedem Lüftchen, das ab abends bald die Hitze aus den Ecken wirbelt. Denn dann werden bei 25 Grad im Schatten fröstelnd Jacken angezogen, was soll denn das, wenn es abends irgendwann so kalt wird, und außerdem war heute auch mal kurz bewölkt, das ist doch kein Sommer sowas.
Nun also ist er da, der Sommer, begleitet von Weh und Ach, um dann im Herbst und Winter wieder zuverlässig betrauert zu werden, weil man von dem Sommer ja gar nichts Schönes hatte, und natürlich nicht genug.
Das war es also mit den Sommern, die man erwartet und ersehnt, genießt und sich an ihnen erfreut. Immerhin warten nun alle auf ihn, um wenigstens seine langen Tage dazu zu nutzen, sich zu beklagen und zu bemitleiden.
Ich vermisse diese Sommer.
Heute sprechen wir häufig über DIE Wut. Als sei sie neu für uns und als hätte sie nur ein Gesicht. Wir sehen wütende Menschen im Fernsehen, die auf Demonstrationen aberwitzigesten Paroloen schreien. Wir sehen in den Nachrichten brennende Autos rund um die Welt, wenn es – auch in Europa – zu Entladungen von Wut kommt. Die mediale Aufbereitung beugt unsere Empfindung hin zu der zweifelhaften Erkenntnis, dass es solch eine Wut zuvor nicht gab, und dass „normale“ Menschen zu solch einer Wut doch eigentlich nicht fähig sein könnten.
Der Blick auf die Geschichte klärt natürlich schnell über den Irrtum auf. Wut gab es immer und ist etwas Universelles.
Und wir sehen sie manchmal auch im Alltag. Wenn ganz plötzlich „die Wut“ in unser Leben kommt.
Meine eindrücklichste Erfahrung mit „der Wut“ hatte ich vor nunmehr über 20 Jahren ausgerechnet in einem Buchladen. Ich arbeitete dort während meines Studiums als Aushilfe an einer der Buchkassen, und mitten oder trotz des Vorweihnachtsgedränges war es zivilisiert. Mobiles Internet und Smartphones waren noch Science Fiction, und so standen die Menschen in Massen einfach in der Schlange und taten nichts anderes außer mehr oder weniger geduldig zu warten.
Dass es dabei auch Ungeduldige oder Gereizte gab: Geschenkt.
Der Mann, der wütend werden sollte, war allein, und er mag Ende 30, Anfang 40 gewesen sein. Er trug eine Brille, ich kann mich an sein Gesicht zumindest noch einigermaßen erinnern – ein wenig wie Steve Jobs. Gepflegt, recht dünn, schmales Gesicht. Irgendwann stand dieser Mann vor mir, ich nahm die Bücher an, ein Kollege kassierte, zwei weitere packten sie für Weihnachten ein. Akkord.
Ich grüßte ihn wie ich jeden Kunden grüßte, dem ich die Bücher abnahm, gab Nummern Bon Bücher an den Kassierer weiter, wenn die Titel nicht scanbar waren.
„Haben Sie ein Lineal?“, fragte der Mann mich da.
Da mich viele Kundinnen und Kunden danach fragten, ob ihre Bücher denn in normale Umschläge zum Verschicken passen würden, glaubte ich auch bei diesem Kunden, was er wollte.
Es war ein Fehler.
Ich antwortete ihm, dass die Bücher auf jeden Fall in einen B4-Umschlag passen würden, die seien um Einiges größer als A4-Umschläge, die gebe es auch wattiert, damit beim Versand nichts passiert.
Was dann geschah, weiß ich noch immer.
Der Mann schrie. Er schrie so laut er konnte. Und es war unglaublich laut. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich groß zu rühren, brüllte er ohrenbetäubend „ICH WILL EIN LINEAL! ICH HABE NACH EINEM LINEAL GEFRAGT! ICH WILL EIN LINEAL!“
Ich weiß nicht, ob die Leute um uns herum zusammenzuckten, denn es war mir derart peinlich, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Noch nie hatte mich ein Mensch derart laut angeschrien. Übrigens bis heute nicht.
Nach einigen Schrecksekunden – in denen er übrigens unentwegt weiter schrie, dass er ein Lineal haben wolle – sah ich, wie geschockt meine Kollegen waren. Sie hatten aufgehört zu arbeiten, überhaupt starrte die gesamte überfüllte Etage sprachlos auf den Mann und mich.
Es sind diese Momente, die man selbst gern damit beschreibt, dass die Welt stillstand, und das ist natürlich Blödsinn, aber es zeigt, wie extrem so eine Störung des Alltäglichen ist.
Da steht ein Mann vor einer Kasse in einem Buchladen und schreit sich die Seele aus dem Leib, ein Lineal zu wollen.
Da er nicht aufhörte zu brüllen, suchte ich hektisch und vergeblich nach einem Lineal, stammelte ständig etwas wie „Ich schaue nach“ oder dergleichen, nur um dann, fast wie von den Schallwellen seines Geschreis angetrieben, die Treppe hinauf ins nächste Geschoss zu rennen, um dort atemlos nach einem Lineal zu fragen. Ich hörte ihn noch auf der Treppe und in der oberen Etage schreien, über das Vorweihnachtsgetöse eines großen, mehrstöckigen Buchladens hinweg.
Ich erhielt ein Lineal, rannte nach unten – nur um zu erfahren, dass der Mann schließlich einfach seiner Bücher bezahlt und mitgenommen habe. Einfach so, als wäre nichts gewesen.
Es gab noch Kundinnen und Kunden, die mir versicherten, es habe nicht an mir angelegen, und die mir zu verstehen gaben, wie geschockt sie selbst von diesem Wutausbruch waren.
Beruhigen konnte ich mich den ganzen Abend dennoch nicht. Was hatte den Mann dazu gebracht, so unmenschlich zu schreien? „Meine blöde Frage“, die mir manch einer vielleicht nun unterstellen möchte? Auf die er auch einfach mit einem „Darum geht es nicht“ oder „Ich will es einfach nur wissen“, hätte antworten können. Klar, er hätte vielleicht wissen wollen, ob die Bücher in sein Regal passen – wobei er sie erstens dennoch gekauft hätte und nachweisbar gekauft hat.
Das war „die Wut“, von der man so redet, als sei sie ein Tier oder ein Monstrum. Sie wird ein „Das da“, auf das man zeigen kann, das man benennen kann, ohne es zu verstehen.
Dabei gibt es „die Wut“ so gar nicht – was immer in dem Mann vorgegangen sein mag, es waren seine Schaltungen, die ihn dazu bewogen haben, lauter zu brüllen als ein Kasernenkommandant.
Und was war los, als mir vor wenigen Wochen aus heiterem Himmel ein Mann schreiend hinterher trat, weil ich mir dem Fahrrad den Zebrastreifen kreuzte, den er soeben auf der anderen Straßenseite betreten hatte? Der mir meinen Fahrradkorb vom Gepäckträger trat, dass er meterweit durch die Gegend flog? Der mich „blödes Arschloch“ anbrüllte und der mir, wie mir ein Fußgänger erzählte, der alles mitbekam, extra einige Meter hinterhergelaufen war, um mich zu erwischen? „Blöde Sau!“, wurde ich angeschrien – weshalb? Ich hatte den Mann weder behindert noch bin ich ihm zu nahe gekommen? „Du mit deinem scheiß Fahrrad!“
Aha.
Ich ließ den Mann einfach ziehen, der nach seinem kurzen Ausbruch auf offener Straße wieder still wurde und wütend weiterging, als habe es die Episode nicht gegeben.
Das Erstaunliche an „der Wut“ ist, dass man sich, sobald sie einem unvermittelt entgegenschlägt, selbst die Frage stellt, was man diesen Menschen angetan haben mochte. Was man falsch gemacht hat. Wie man die Leute und ihre Wut provoziert hat. Und damit den Kern des Ganzen verfehlt, denn „die Wut“ braucht kein bestimmtes Gegenüber, das etwas triggert. Sie ist da und sucht ein Ventil. In besonderen Fällen wird sie übergriffig und nimmt sich einfach, was sie braucht.
Und das kann überall geschehen, in der beiläufigsten, friedlichsten Szene, im schönsten Moment im besten Lokal oder in einem unvermittelten Moment auf offener Straße.
„Die Wut“ ist kein neues Phänomen, und selbst die Extreme der letzten Zeit hat es schon immer gegeben – neu sind die Kanäle, in denen sich derlei Taten rasend schnell verbreiten. Da tut sich eine Bühne für jene auf, die ihre Wut als öffentliche Heldentat ausleben wollen. Die nach Wegen suchen, aus ihrer Schwäche das Kapital des Beifalls und der Zustimmung zu schlagen. „Die Wut“ wird zu einer Ware, die für Öffentlichkeit und Selbstvergewisserung angeboten wird, und die sich Bahn bricht.
Was würde passieren, wenn der Mann aus dem Buchladen heute vor einer Kasse so außer Kontrolle geriete? Alle wären erschreckt, man würde sich angesichts der Lautstärke ducken, man käme sich automatisch ausgeliefert und schwach vor, obwohl man mit den anderen bei Weitem in der Überzahl ist.
Das ist das Fatale an „der Wut“. Sie macht sich ihre Plötzlichkeit ebenso zunutze wie die Überrumpelung der Massen, die sie auslöst. Das macht sie stark, obwohl sie es im Grunde gar nicht ist. Sie blüht auf dem Boden des Schrecks und der Sorge um den eigenen Ruf und die eigene Unversehrtheit. „Die Wut“ ist stark, weil man sie lässt.
Die Wütenden selbst sind meistens schwach, sobald „die Wut“ sie verlässt. Ohne sie sind sie nicht wütend und damit nur irgendwelche Leute. Das macht sie verführerisch.
Die Wut ist Gewalt. Es gibt sie zwar in Abstufungen, aber sie ist immer Gewalt. Sie zerstört das übliche Gefüge an geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, bricht mit allen Konventionen, überschreitet Grenzen – sie ist ein Gewaltakt und ist deshalb so mächtig. Sie wirkt wie Gewalt, ängstigt wie Gewalt, ist gnadenlos wie Gewalt. Es spielt keine Rolle, ob die Wut körperlich wird, denn in ihrem Wesen ist sie Gewalt. Und sie ist in vielen von uns, vielleicht sogar in den meisten von uns. Zahlreiche Einflüsse lassen sie ausbrechen wie ein wildes Tier: Überforderung, fehlende Anerkennung, soziale Ängste – es gibt vieles, das ihren Käfig öffnet.
Heute wäre die Szene Anlass für zahlreiche Handy-Videos – derlei Wut ist nun mediale Sensation. Es wäre schade für die Filmenden, wenn derlei Ausbrüche ein schnelles Ende nähmen. Zum Eingreifen hätten somit weitaus weniger Anwesende als früher ihre Hände frei.
Das ist gefährlich.
Da druckt sie aus: Die neue 2019er-Version meines Romans „Dickhäuter“, den ich ja eigentlich vor Kurzem erst mit neuem Cover erneut als eBook veröffentlicht habe – was ist passiert?
Manchmal sind Fehler Glücksfälle. Jemand wird mich auf einen Fehler gleich auf Seite 1 hin, der auch in den Vorschauen zu sehen war, und der bislang niemandem aufgefallen war. Ich zog die Veröffentlichung zurück und entfernte den Roman aus allen Shops. Und nahm dies zum Anlass, noch einmal ans Manuskript zu gehen. Es geriet zum Glücksfall.
Ich habe „Dickhäuter“ bereits 2001 geschrieben und bei der letzten Überarbeitung lediglich beschriebene Technologien und Verhaltensweisen angepasst – 2001 war nicht zu ahnen, was mit mobilem Internet und Sozialen Medien über uns kommen sollte …
Doch nun 2019 erkannte ich, dass ich noch mehr ändern musste. Es begann schon auf Seite 1, Kapitel 1 hat nun komplett neue Dialoge, Kapitel 8 und 9 haben sogar neue Szenen. Außerdem strich ich einige Passagen auch einfach ersatzlos und formulierte andere um. Der Ton hat sich verändert und der Dickhäuter hat nun als Person eine Facette hinzu bekommen. Der Roman ist weniger anklagend, dafür differenzierter geworden. Von einer Neuversion kann also wirklich die Rede sein. Und das alles wegen eines Fehlers, den niemand zuvor bemerkt hat. Manchmal muss man für Fehler dankbar sein. Voraussichtlich in eine Woche lade ich ihn wieder hoch, sodass er erhältlich sein wird.
Ich gebe Bescheid.
Lange Zeit schrieb ich bei den ersten Versuchen des neuen Romans mehr oder weniger drauflos – naja, nicht ganz: Geplottet habe ich schon in gewisser Hinsicht. Es stand sehr viel fest, auch die Entwicklung der Hauptfigur, die Story natürlich auch, das Ende obendrein.
Was dem Roman fehlte, war mir immer bewusst: Der Konflikt oder der klassische Gegenspieler. Batman kann endlos durch die Lüfte flappen, ohne Verbrecher wäre seine Geschichte langweilig, und ohne seine inneren Dämonen nicht so interessant.
Das war mir natürlich auch immer klar.
Mein Fehler war jedoch, dass ich der Ansicht war, die Suche des Protagonisten nach seinem Gegenspieler könne als tragendes Element der Handlung fungieren wie bei einer Detektivgeschichte, die mir obendrein gestattet hätte, zahlreiche Fährten zu legen, an denen sich der Leser interessiert klammern kann.
Um es kurz zu machen: Es funktionierte nicht. Durch den speziellen Charakter der Geschichte verboten sich gängige Muster eines Gegenspielers, aber ohne den Konterpart blieb ich immer wieder recht früh stecken. Das, was ich für den Konflikt hielt, war im Grunde keiner, und so hatte icheinfach keinen tragfähigen Konflikt der Handlung und des Protagonisten. Auf diese war ist das ganze Romangebilde jedoch keinen Jota wert.
Und jetzt?
Ich hatte einfach keine Antwort, und so hatte mein Protagonist keine glaubwürdige Motivation. Das lähmte meine Motivation für lange Zeit. Ich verzettelte mich in Möglichkeiten, konnte mich aber nie entscheiden, weil ich nicht wusste, wie ich auch nur eine dieser Möglichkeiten angemessen nutzen könnte.
Das war es dann also.
Dass es nun anders ist, kann man sich denken, denn ich schreibe ja – und ja, mit einem Konflikt, der tragfähig ist und zur Geschichte passt. Ein Geständnis: Es ist kein neuer Gedanke. Im Grunde war dieser Konflikt schon immer da und immer Gegenstand der Geschichte. Ich habe es nur selbst nicht als Konflikt erkannt und gesehen.
Das hat zur Folge, dass ich mich und den Roman nicht verbiegen muss. Ich muss mir nichts Neues ausdenken, um den Gegenspieler zu integrieren und zum Thema zu machen.
Warum es plötzlich klappt?
Das hat mit den Zeitsprüngen zu tun, die ich bereits im 2. Teil meines Roman-Tagebuchs ansprach. Ich kann die Geschichte auf zwei Zeitebenen erzählen und auf diese Weise den Konflikt stärker herausarbeiten. Ohne diesen Kniff würde es wahrscheinlich nicht klappen.
Es macht mich offen gesagt glücklich, dass das Schreiben nun von der Hand geht und dass dafür nicht einmal etwas Neues eingebaut werden musste.
Dass ich die ganze Zeit zuvor einfach nicht sah, was die ganze Zeit vor meinen Augen lag, nehme ich hin. Es scheint zu stimmen, dass manche Dinge einfach Zeit brauchen, damit ein Knoten platzt. Und sich die Seile ausrollen und entwirren.
Besser konnte es nicht laufen.
In den späten Siebzigern gab es in meiner Klasse einen Jungen namens Daniel. Seinen Nachnamen habe ich vergessen.
Aber die Geschichte, die mir einst erzählt hat, die habe ich nie vergessen. Daniel war mir nie ein Freund. Warum er gerade mir die Geschichte erzählt hat, weiß ich nicht.
Ich hatte einen guten Freund, mit dem ich fast jeden Tag die unmöglichsten Dinge anstellte. Wir schellten an fremden Haustüren, um uns zu verstecken und ärgerten mit Vorliebe Susanne aus der Nachbarschaft, die damals für mich der Inbegriff aller Abscheulichkeit war. Ihre Klappe war riesig, und sie war als Petze gefürchtet und verschrien.
Und wer war Daniel?
Ein kleiner, schmächtiger Kerl mit zu exaktem blondem Scheitel, und einer Brille, deren Gläser so dick waren, dass er mit ihnen in der Jackentasche ertrunken wäre, wäre er ins Wasser gefallen. Still und verschlossen. Man hörte nie etwas von ihm, und die Lehrer mussten ihn aufrufen, damit er überhaupt etwas sagte.
An einem heißen Tag im Sommer verließ ich die Schule und sichtete Daniel hinter mir. Sein Blick war wie immer ins Nirgendwo gerichtet. Bis heute weiß ich nicht, warum ich stehenblieb und ihn ansprach. Es gab auf meine Fragen entweder keine Antwort oder brummte nur ein „Hmhmm”, bis ich schließlich schwieg.
Wir waren ein gutes Stück nebeneinander hergegangen, als er er mit leiser Stimme fragte:
„Soll ich dir mal was erzählen?”
„Ja”, sagte ich. „Was denn?”
„Hattest du schon mal Angst in der Nacht?”
Angst? In der Nacht? Und wie! Die Dunkelheit war etwas Schauerliches, vor allem, wenn das Holz knackte. Ich und Angst in der Nacht?
„Nein”, sagte ich. Auch kleine Jungen haben schließlich ihren Stolz.
„Ich aber, denn manchmal ist was in meinem Zimmer.”
Das hatte mir noch gefehlt! „Was denn?”
„Roboter.”
„Roboter?”
„Roboter.”
„Und was machen die Roboter bei dir?”
„Sie gucken sich um. Sie sind wie Spinnen, nur größer.” Das sagte er in einer so merkwürdigen Art, dass ich ihm glauben musste. Ich glaubte damals zwar ohnehin viel – die Naivität der Kindheit macht aus dem Leben einen Abenteuerspielplatz, den ich heutzutage oft vermisse – aber Daniel glaubte ich noch mehr. Ich habe ihm keine Lüge zugetraut. Und da war dieser rätselhafte Ton in der Stimme, irgendwie resigniert.
„Sie sind plötzlich da”, erzählte er weiter, während Autos an uns vorbeifuhren und das helle Gekreische anderer Schulkinder uns begleitete.. „Sie sind einfach da. Wie das angeknipste Licht.”
Ich stellte mir das vor, verängstigt in der Nacht, vor mir eine Metallspinne, größer als der Bernhardiner unserer Nachbarn, vor dem alle Angst hatten. Ich stellte mir die Geräusche vor: ein seltsames, metallisches Klicken, wenn sie mit ihren glänzenden Beinen beginnt, auf mein Bett zu kriechen…
„Und was machen die mit dir?”
„Gar nichts.”
„Gar nichts?” Wie enttäuschend! Ein wenig hätten sie ihn ruhig pieken können. Wo waren die Strahlenwaffen oder Operationswerkzeuge? Warum konnten sie ihn nicht paralysieren oder fressen oder einspinnen wollen?
„Nein”, erwiderte Daniel. „Sie machen gar nichts. Sie gucken nur rum, gucken mich an, und einmal, da haben sie…”
Ja, dachte ich mir für einen Augenblick, jetzt haben sie ihm doch was getan!
„…mich angestrahlt mit einem gelben Lichtstrahl.”
Was sollte denn das? Mehr nicht?
„Was hat der denn gemacht?” wollte ich wissen.
„Mir ins Auge geleuchtet.“
„Hat das weh getan?”
„Nein.”
So ein Mist. „Nicht ein bißchen?”
„Nee. Sie waren schon ein paar Mal da. Sie kommen, und dann sind sie einfach wieder weg. Ich hab’s meinen Eltern erzählt, aber die glauben mir nicht. Hast du auch schon Roboter in deinem Zimmer gehabt?”
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
„Vielleicht kommen sie ja noch zu dir, wenn sie mich zu Ende untersucht haben, oder wenn sie mich mitgenommen haben. Und sie kommen immer zu mir, egal, in welchem Zimmer ich bin. Zu meiner Oma kommen sie auch, wenn sie schläft. Wenn du Roboter hast, dann sag mir was davon, wenn ich dann noch da bin.”
Das waren die schlimmsten Worte, die ich jemals gehört habe.
Ich dachte den ganzen Tag daran, dass ich wach werden würde, vor mir diese Spinnen . Und ich fragte mich: Woher kommen diese Spinnen bloß? Sie waren plötzlich einfach nur da!?
Ich wollte abends nicht ins Bett und druckste herum. Ich schloss mich im Bad ein uns starrte auf die hellblauen Fliesen. Nach einiger Zeit schließlich wollten meine Eltern hinein klopften gegen die Tür.
„Mach die Tür auf und geh ins Bett.”
„Ich will aber nicht”, quengelte ich. Ich habe Angst.”
Schweigen hinter der Tür. Dann nach kurzer Zeit, mit sanfterer Stimme: „Wovor denn?”
Was sollte ich ihnen erzählen? Dass mir Daniel, den niemand für ganz richtig hielt, Räuberpistolen über Roboterspinnen erzählt hatte, die einfach kamen wie das angeknipste Licht?
Ich erzählte es schließlich.
„Roboterspinnen?” kam ungläubig zurück. „Ich glaube, Daniel hat einen schlechten Traum gehabt.”
„Er hat aber gesagt, dass sie oft kommen.”
„Dann hat er oft davon geträumt.”
„Das glaube ich nicht.”
Ich schloss auf und meine Mutter ging mit mir in mein Zimmer, wo das Bett schon auf mich wartete und auf die Roboterspinnen.
„Daniel ist doch ein Träumer”, sagte sie. „Spielt er mit euch? Redet er mit euch?”
Ich schüttelte den Kopf.
„Und warum nicht? Er ist ein Junge ohne Freunde, und er will gerne Freunde haben. Was machst du, wenn du keine Freunde hättest und welche haben wolltest?”
„Ich habe aber Freunde.”
„Ja. Aber wenn du keine hättest, was würdest du tun? Erzählst du denn keine Geschichten, auch Lügengeschichten, damit die Kinder dich beneiden?”
„Geschichten ja, aber keine Lügen”, log ich. Das war doch ein Trick, um herauszubekommen, ob ich log, um mir dann zu erzählen, wie böse das doch war.
„Daniel hat sich interessant machen wollen.Er wollte sicher nur, dass du eine Nacht bei ihm schläfst. Und während ihr auf die Roboterspinnen wartet, werdet ihr Freunde. Verstehst du das?”
„Er wollte mich also zu sich locken?”
„Ja. Er hat dir die Geschichte erzählt, um dich neugierig zu machen. Vielleicht solltest du mal zu ihm gehen”, schlug meine Mutter vor. „Vielleicht werdet ihr ja Freunde.”
Aber jetzt wollte ich nicht mehr. „Er hat mich angelogen”.
„Er hat dir eine Geschichte erzählt”, wiegelte meine Mutter ab. „Das hat er nicht böse gemeint.Kannst du denn jetzt besser schlafen?”
„Ich weiß nicht”, sagte ich, und so meinte ich es auch. Dass Daniel mich verarscht hatte, war in Ordnung. Aber als ich allein im Zimmer war und Dunkelheit mich umfing, war der Gedanke wieder da, dass Daniel die Wahrheit erzählt hatte und nichts als die Wahrheit, und ich krümmte mich in meinem Bett zusammen, die Augen weit aufgerissen und wartete auf die Roboterspinnen.
Ich starrte in die Dunkelheit, nahm jedes Geräusch wahr, hörte die Bettfedern meiner Eltern, als sie sich zu Bett legten, hörte die Schritte meines Vaters, als er irgendwann in der Nacht aufs Klo ging, ich hörte alles.
Natürlich sind die Roboterspinnen niemals gekommen.
Dennoch gibt es für mich keinen Zweifel, dass er es ernst gemeint hat. Die Geschichte machte mir Angst, und mein ganzes Leben sah ich Daniel vor mir, diesen kleinen, schüchternen Jungen, entsetzlich hager, mit einer Haut so weiß wie frischer Pizzateig. Er schritt neben mir her mir kleinen Schritten, und in seinen Augen lag nicht ein einziger Funken Belustigung.
Und obgleich ich von Daniel nie wieder etwas gehört habe, seitdem wir nach der Grundschule getrennte Wege gingen, so begleitete er mich auf Schritt und Tritt. All die Jahre kam der Gedanke wieder, wenn das Licht ausging. Im Studentenwohnheim kam mir der Gedanke eines nachts, und der Tag, an dem Daniel neben mir geschritten war und mir die Geschichte erzählt hatte, war plötzlich wieder da. In meiner ersten Wohnung habe ich die Spinnen manchmal erwartet und habe ich mich gefragt, woher sie kommen mochten, wenn es sie denn wirklich gab; für mich war die Frage nach dem Ob nicht entscheidend, sondern die des Wie. Wie kamen die Roboter zu ihm? Woher kamen sie?
Als ich in meiner späteren Kindheit auf einem Foto plötzlich die Raumsonde Voyager zu sehen bekam, war es um mich geschehen. War dies eine Roboterspinne?
Voyager Soundso hatte etwas Spinnenhaftes.
Dann kam die Ernüchterung:
Erstens kamen diese Sonden von der Erde und flogen von ihr fort statt zu ihr hin.
Und zweitens waren diese Dinger ewig unterwegs und so schrecklich langsam in Anbetracht der Größe des Universums. Eine fremde Intelligenz, das wusste man, musste viele, viele Lichtjahre entfernt leben, irgendwo tief in unserer Milchstraße oder noch weiter. Diese Distanzen aber sind so gewaltig, dass niemals eine Raumsonde von uns oder eine der anderen so mirnichtsdirnichts den anderen Planeten erreicht, und schon gar nicht einige Nächte für kurze Augenblicke das Schlafzimmer eines kleinen Jungen.
Aber in irgendeiner dunklen Hirnwindung beschäftigte mich die Geschichte weiter. Daniel hatte ohne Zweifel die Wahrheit gesagt.
Woher also kamen die Roboter?
Und schließlich kam mir eine Theorie zu Ohren: Paralleluniversen. Eine Welt, ein Universum, das deckungsgleich auf dem unseren liegen sollte oder wenigstens fast deckungsgleich, ohne etwas mit unserem Universum zu tun zu haben.
Jedem, dem ich davon berichtete, konnte ich nicht mehr als ein vergnügtes Lächeln entlocken.
Seit ich von dieser Theorie gehört habe, läßt mich der Gedanke nicht mehr los, dass wie unmittelbare Nachbarn haben, die einen Weg gefunden haben, uns Fremdlinge näher zu betrachten. Ja, Daniel hat die Wahrheit erzählt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Und was gäbe ich dafür, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich möchte ihm erzählen, gleich, was für ein Mensch er ist und was auch immer er tun mag, dass ich ihm mein Leben lang geglaubt habe, und nun wie damals nachts kaum schlafen kann, da ich die Roboter von nebenan erwarte.
Ich will ihm sagen, dass ich ihm durch seine beängstigende Geschichte ein ewiger Partner gewesen bin; vielleicht sogar der einzige, den er jemals hatte.
Inmitten unserer Orte stehen sie, die Kirchtürme. Als Symbol christlichen Glaubens mit all seinen Werten und Tugenden verkünden sie mehr als religiöse Tradition, sondern auch Verankerung inmitten unserer Gesellschaft. Die Kirche hat den Anspruch, Mittelpunkt und moralische Richtschnur zu sein, Orientierung zu geben, verloren und verdient ihn nicht mehr, da sie sich verhält wie eine Partition.
Die Kirche: Wie eine Festplatten-Partition?
Die Missbrauchsfälle der letzten Jahre erschüttern diesen Glauben und die Legitimation seiner Ansprüche. Denn es sind nicht lediglich die Ungeheuerlichkeiten, die an Missbauch und Misshandlung, Demütigung und Qual geschehen sind: Das System des Schweigens und Vertuschens ist es, das die Rechtmäßigkeit auf Gesellschaftsmitte infrage stellt. Die Kaltblütigkeit und Normalität, die offensichtliche Straftaten zu Verwaltungsakten des Verheimlichens machte. Die Menschen, die wussten und schwiegen – all das lässt die Kirche eher wie eine Partition auf einer Festplatte erscheinen: Während die Festplatte die Gesellschaft darstellt, die öffentliche Ordnung mit ihren Regeln und Gesetzen, Normen und Tabus, lebte es sich in einer bei näherer Betrachtung doch eher abgeschotteten Partition der Kirche prächtig. Denn dort galten die Regeln der Gesellschaft nicht im geforderten Maße. Fast schon erschütternd ist, dass sich erst jetzt die katholische Kirche ernsthaft mit ihrem eigenen Verhalten in Missbrauchsfällen auseinandersetzt und dabei immer noch so tut, als stehe sie über den bestehenden Gesellschaftsordnungen.
Der Weg in die Gesellschaft kann nur durch ihre Kontrolle erfolgen
Dieses Denken steht ihr nicht zu. Denn sie hat ihre Existenz als Partition nicht verdient. Ihre Programme gehören kompromisslos auf das reguläre Laufwerk. Man muss der Kirche, gleich welcher, die Macht nehmen, mit der sie zu einer Art Parallelgesellschaft werden konnte. Sie hat sich den Regeln zu fügen, nach der die Gesellschaft funktioniert. Sie muss sich nach ihrem eher laxen und hilflosen Versuch der Entschuldigung künftig rechtfertigen und aus sicher heraus ändern. Nur so kann sie den Anspruch erheben, in der Mitte der Gesellschaft zu sein.
Aus der sie sich mit ihrer Offenbarung, eher außerhalb der Gesellschaft zu stehen, ohnehin für die nächste Zeit verabschiedet hat.
Die Folgen von systematischer Misshandlung und systematischem Verschweigen
Was geschieht in der Institution Kirche? Was geschah? Wer versagte?
Misslich ist, dass durch die systematische Misshandlung und das systematische Verschweigen gewisser Kreise die Anständigen in der Kirche gleich mit in Misskredit geraten wie auch ihre Projekte. Fortan muss sich jeder, der sich in der Jugendarbeit engagiert, kritisch beäugen lassen, selbst wenn er es in der Tat nur gut meint.
Der Schaden, der der Kirche aus ihren eigenen Reihen zugefügt wurde, ist nicht nur einer der Institution Kirche, sondern gleich des Glaubens schlechthin. Der nämlich wird nun dem Kritikpunkt nahezu krimineller Energie auf der einen und unglaublicher Naivität auf der anderen Seite unterstellt.
Kriminell, weil die Misshandlungen stattfanden. Kriminell, weil jene, die an den Vertuschungen beteiligt waren, sich nicht nur moralisch, ethisch und christlich vergangen haben. Naiv, weil sie auf die Treue „ihrer Schäfchen“ bauen konnte, die niemals Derartiges in ihrer Kirche erwartet hatten, die Misstrauen für unangemessen, gar schändlich hielten.
Bequem machen in der Leugnung des Offensichtlichen
Doch auch Ignoranz kommt hinzu. Ignoranz vor dem nicht selten Offensichtlichen, dem man sich verschloss, um es sich weiterhin in seinem Glaubens- und Sozialkonstrukt gemütlich zu machen, um nicht den Halt zu verlieren. Der Verlust an Vertrauen ist schrecklich, der Verlust an Glauben katastrophal.
Dies haben die Schuldigen gewusst – dies haben die Schuldigen ausgenutzt.
Sie bauten auf Getreue, die jeden Ansatz von Zweifel und Kritik sofort von sich wiesen, die sofort abwehrend die Hände hoben. Sie nährten ein System der Rede- und Denkverbote, das Menschen mit Glauben sedierte.
Dafür gehören sie bestraft mit allen Gesetzesmitteln. Wenn sie nur dann in der Lage sind, Reue und Schuld zu erkennen, wenn man ihnen durch Verurteilungen menschlich ächtet, verdienen sie nichts anderes als gesetzliche Sanktionen und Einschränkungen, dass sich dergleichen niemals wiederholt.
Skandalöse Reaktionen der Kirche: Stimmen aus einer anderen Welt
Weit schlimmer sind zahllose Reaktionen auf die Missbrauchsfälle. Das breite, ehrliche Entsetzen wird immer wieder unterminiert von Attacken wüster Weltfremdheit, die in Schuldzuweisungen gipfeln. Hätte es die sexuelle Befreiung der 68er nicht gegeben, wäre all das nicht passiert. Wäre die Gesellschaft nicht so verlottert, wäre all das nicht passiert.
Hohn in doppelter Weise.
Denn nicht nur ist die Dreistigkeit, die Schuld einfach weiterzuleiten auf gesellschaftliche Zustände oder gar Gesellschaftsgruppen, ist unerhört.
Die Kirche ohne Rezepte
Die Kirche schießt sich argumentativ selbst in Knie, denn sie gibt damit zu, dass sie für die heutige Gesellschaft mit ihren Brüchen und Herausforderungen keine Rezepte hat. Dass sie hilflos ist. Dass sie den Anschluss verpasst hat.
Wie war das noch mit den Kirchtürmen als Symbol des gesellschaftlichen Mittelpunkts? Die Wüter machen deutlich, dass sie einer Institution angehören, die der Welt von heute nicht gewachsen ist und nur in der eigenen Partition überleben kann. In einem Subsystem, das selbst entscheidet, welchen Teilen der Gesellschaft gegenüber sie offen gegenübertreten will. Die selbst entscheidet, was „Störprogramme“ sind, um die eigene Ordnung aufrechtzuerhalten.
Und dennoch erhebt sie den Anspruch, Maßgeblich zu sagen zu haben ohne die Möglichkeit, angemessen zu urteilen?
Zukunftsblick
Welchen Weg die traurige Geschichte um Missbräuche in der Kirche nehmen wird, ist offen. Fakt ist, dass Systeme geduldet wurden, die sich moralische Werturteile anmaßen, die sie selbst in weiten Strecken nicht erfüllen.
Bei allen Hinweis auf all die guten Taten und die Tausenden rechtschaffenen Mitglieder, deren soziales Engagement den wirklichen religiösen Werten entspingen (aus denen sich die Grundwerte unserer westlichen Gesellschaft ableiten) kann der Appell, dass sich Derartiges nie wiederholen darf, nicht kleingeredet werden.
Die Fälle systematischen Missbrauchs und Misshandelns, Erniedrigens und Schweigens, Erpressens und Verhöhnens haben deutlich gezeigt, dass es an der Zeit ist, die Kirchtürme, die innmitten unserer Orte stehen, mit noch etwas anderem zu füllen: Wachsamkeit, Aufmerksamkeit – und knallharter politischer wie rechtsstaatlicher Kontrolle.
Ein Glaubenssystem, gar wegen seiner unbestreitbaren Vorteile und Segnungen, darf nicht abgegrenzt von dem Sozial- und Gesellschaftsgefüge agieren, in dessen Mitte es ganz selbstverständlich operiert.
Die Kirche – gleich welche Religion – hat endgültig ihre Unantastbarkeit verloren.
Sie muss anerkennen und dulden, dass sie sich zu fügen hat. Nur so kann sie auch Vertrauen zurückg gewinnen, Trost spenden, Glauben vertreten.
Die Kirche muss sich ändern und öffnen. Schuldzuweisungen reichen nicht, Scham und Schuld reichen nicht.
Die Partition muss aufgegeben werden, damit die Programme darauf Teil des großen Ganzen werden. So wie übrigens auch hingehören.
Warum es mich seit 2006 fast jedes Jahr zur Berlinale zieht, obwohl ich sie stets zu anstrengend finde? Weil sie für mich eine Inspirationsquelle sondergleichen für mein eigenes Schreiben ist.
Das Erweitern und Aufbrechen des eigenen Mindsets ist mir wichtig, und so kehre ich zwar immer völlig erschöpft, manchmal gar entnervt nach Hause zurück, aber auch vollgetankt mit Ideen und Eindrücken, die ich sonst in dieser Dichte und diesem Reichtum nicht bekommen hätte, und von denen ich anschließend noch lange profitiere.
Denn Stoffe, Motive, neue Erzählweisen und Perspektiven: Mehr Unterschiedliches auf engstem Raum als Inspiration und Schulung des eigenen Schreibens ist kaum möglich als auf einem Filmfestival wie die Berlinale. Vor allem ist es eine ungemein abwechslungsreiche Schule der eigenen Wahrnehmung: Was sieht man, was löst ws aus und wie geht man damit um? Gwrade hinsichtlich des bereits erwähnten eigenen Mindsets bin ich immer sehr dankbar für die zahlreichen Erweiterungen, die ich hier erleben darf:
Hier bekommt man zu sehen, was in den meisten Fällen nirgendwo sonst zu sehen sein wird. Mit über 400 Filmen aus aller Herren Länder in zahlreichen Sektionen, die auch wagemutig und experimentell Stoffe entwickeln und ohne finanziellen Druck ganz besondere Geschichten erzählen, kann man innerhalb einer Woche von Ideen und Herangehensweisen förmlich überrollt werden – aber es lohnt sich. Denn die meisten Produktionen erreichen den regulären Kinobetrieb erst gar nicht.
Für mich sind Filme seit jeher hervorragende Schreibschulen. Schnitt, Motiv, Beleuchtung, all diese Handwerkskünste wecken Assoziationen. Häufig geht es mir gar nicht so sehr um die Story an sich, sondern vielmehr um ihre Montage und das, was Bild und Ton bewirken.
Es kommt vor, dass ich mich frage, wie man die Szene imitiert Worten erzählen könnte, und dabei erlebe ich häufig positive Überraschungen.
Ebenso häufig erlebe ich, dass eine bestimmte Einstellung des Grundstein zu einer eigenen Geschichte legt – die mit der Story des Films nichts zu tun hat, sondern mit dem, was mir plötzlich dabei einfällt: Eine Assoziation, ein Charakter, eine Stimmung, ein Gefühl. Und da die Filme eines Filmfestivals häufig den Mainstream verlassen, ihn variieren oder biegen, bin ich mir sicher, sie sonst nicht und vor allem nicht in dieser Konzentration bekommen hätte.
Die Folge: Ein überreicher Fundus an Szenen und Ideen, die sich im Laufe der Zeit zu Erzählung formen und verdichten müssen. Manchmal entsteht daraus ein eigener Text, manchmal reichern sie andere Texte an, schleichen sich ein.
Kehre ich von der Berlinale heim, bin ich so erledigt wie voll. Aber ich zehre lang davon. Weswegen auch die kommenden Berlinalen mit mir rechnen können.
Es ist ein besonderes Gefühl, sich einmal mit seinen diversen digitalen Accounts zu befassen und sich zu fragen: Welche Daten von mir und über mich liegen wo und wozu eigentlich herum? Da kommt es zu interessanten Überlegungen:
Wir kämen nie auf die Idee, in jedem stationären Ladengeschäft schon beim Betreten oder bei der Mitnahme eines Flyers eine Visitenkarte abzugeben, auf der zudem Zahlungsarten und Zutrittsdaten stehen, geschweige denn kommen wir auf die Idee, diese bereitwillig auch in der Innenstadt zu verteilen. Wir sagen niemandem, in welchem Laden ich schon vorher war und in welche ich gleich noch gehen will. Wir legen weder Ausdrucke von persönlichen Fotos auf Bartresen oder an Supermarktkassen, spielen keinem Berater in einem Bekleidungsgeschäft unser neuestes Urlaubsvideo vor und zeigen auch keinem Fremden, was auf der Party am Wochenende nach der dritten Runde alles so gelaufen ist. Und wer unsere Familie und Freunde sind, wissen die netten Leute in der Bäckerei auch nicht.
Geht ja niemanden etwas an.
Erst recht fiele uns nicht ein, all dies anzugeben, nur um dafür Werbung von unseren Favoriten in den Postkasten zu bekommen und es als Service anzusehen, dass wir dadurch wenigstens keine ungewollte Werbung mehr erhalten.
Da ist es doch verwunderlich, wie liederlich wir hinsichtlich unserer Daten-Hoheit sind, wenn es um digitale Dienste und Anbieter geht – offenbar ist es für uns leichter, Misstrauen gegenüber realen Personen zu empfinden, die uns mit ihren echten Augen ansehen und deren Reaktionen wir sofort sehen können; wie es auch leichter ist, einem realen Menschen gegenüber Scham zu empfinden angesichts der Dinge, die wir preisgeben. Die Menschen, die all das nichts angeht, sehen wir im Digitalen nicht, und die Unsichtbarkeit und Automatisierung vieler Prozesse machen es uns leicht zu glauben, niemandes Interesse zu erregen.
Die Sache ist nur: Darum geht es ja gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass ich die Hoheit über meine Daten und Dateien abgebe. Solange ich sie für mich aufbewahre, kann ich ermessen, was mit ihnen geschieht. Verteile ich sie jedoch auf anderen Diensten, gebe ich die Verantwortung über sie ab und verliere meine Hoheit über sie. Mir kommt es so vor, als sind wir uns dessen entweder gar nicht bewusst, weil wir aus Bequemlichkeit vertrauensselig sind, oder wir geben die Hoheit absichtlich ab, um damit die Sorge für ihren Verbleib auf andere abzuwälzen, die ich im Falle einer Panne verantwortlich machen kann – aus meiner Sicht erst recht ein Bequemlichkeitsargument.
„Meins“ im Sinne von „gehören“ verwässert sich immer mehr zu „immer verfügbar“. Das ist jedoch ein Unterschied, der uns gar nicht mehr auffällt, weil hier der Nutzen an sich mit Eigentum gleichgesetzt wird – die eigentlichen Güter, um die es hier geht wie Daten, Dateien, Inhalte, erkennen wir gar nicht mehr als Eigentum, sondern nur noch die Bequemlichkeit, sie allseits nutzen zu können.
Das wäre in etwa so, als stellten wir unsere Besitztümer öffentlich in Schränke und Regale, damit wir bequem etwas herausholen können, ohne extra nach Hause zu fahren.
Das Problem ist meiner Ansicht nach, dass wir von Eigentum nur noch dann sprechen, wenn wir die Dinge konkret sehen und anfassen können.
Mir ist das unheimlich. Dabei geht es mir überhaupt nicht um Missbrauch, Hacks, Spionage – sondern einfach nur darum, dass ich über Daten und Dateien von mir die Hoheit abgegeben habe: Fotos bei Flickr: Wozu? Es spielt keine Rolle, ob es dafür ohnehin „bessere Dienste“ gibt. Der springende Punkt ist, dass ich nicht mehr das alleinige Zugriffsrecht mehr habe. Wir sagen gern „Daten-Sicherung“ dazu. Wenn mal zu Hause etwas schief geht, sind sie einfach noch woanders, praktisch! Warum sollte ich meine Videos nicht bei YouTube bunkern, damit ich sie noch habe, wenn die Festplatte abraucht?
Das leugne ich nicht.
Nur: So viele abrauchende Festplatten kann die Welt gar nicht hervorbringen, wie wir uns einreden, das sei unser Grund.
Ebenso Logindaten für welche Dienste auch immer: Natürlich kann man gewitzt genug sein und fiktive Daten angeben – allerdings funktioniert das gerade dann nicht, wenn es um wirklich sensible Daten geht, wie z.B. Bankdaten, Adressen für Bestellungen und so weiter.
Wir haben uns einfach angewöhnt, unseren Besitz gegen Verfügbarkeit einzutauschen. Der Preis dafür ist Vertrauen in Anbieter, Dienste und Services, die wir nur deshalb so nennen, damit wir uns einreden können, sie seien für uns da und sie stünden in unserer Pflicht. Wir reden uns ein, ihre Produkte zu nutzen, um die Tatsache ignorieren zu können, dass wir mit unseren Daten Produkte für sie sind.
Wir wissen all das, und wir kommen trotzdem nicht auf die Idee, etwas dagegen zu unternehmen. Wir lassen uns von einfachen Logins verführen und wundern uns, dass dabei unsere Privatsphäre verletzt wird wie im Fall Facebook und Google Analytica. Wundern wir uns wirklich? Oder haben wir uns eher die ganze Zeit wider besseres Wissen einfach darauf verlassen, dass schon alles gut gehen wird, weil es so schön einfach für uns ist?
Wir argumentieren gern mit dem Begriff der Freiheit, unserer Freiheit – und meinen damit nichts weiter, als uneingeschränkt immer und überall auf alles Zugriff zu haben; die technische Verfügbarkeit ist Grund und Ursache, ist alles und alleinig das Erstrebenswerte, weil es technisch machbar ist. Es ist eine schöne, verführerische Illusion von Freiheit, die mit der Unfreiheit einhergeht, nicht mehr Herr über unsere Daten und Dateien zu sein.
Das kann man achselzuckend hinnehmen oder sich einschränken, denn auch das gehört zur individuellen Freiheit dazu: Sich zu entscheiden, manche Dinge einfach nicht mehr einfach deshalb zu tun, weil sie technisch möglich sind, sondern es zu unterlassen, um damit wieder unabhängiger zu werden und nicht dem Gefühl zu erliegen, mich ausgeliefert zu haben. Es ist eine Art von Datenhygiene, die ich in letzter Zeit sehr gerne betrieben habe. Zahlreiche Accounts habe ich stillgelegt, zahlreiche Dienste nutze ich nicht mehr. Es fühlt sich an, als habe ich die Liebsten nach Hause geholt. Und habe endlich wieder mehr Hoheit über meine Daten.
Diese Gedanken sind Dir gewidmet, Dir, meinem Bruder.
Niemand kennt die dunklen Schattenseiten meiner Seele so wie Du. Niemand kennt die tiefen Abgründe so wie Du, mein Bruder. Bei Dir kann ich sein, wie ich bin. Sobald sich Dein Gesicht über mir erhebt, sobald ich nur weiß, dass Du da bist, werde ich ein anderer, und nur Du weißt es. In dem Schlachtfeld meiner Seele schlage ich blutige Schlachten, die mich zu zerreißen drohen. Tief klaffen die Täler etwas Unwirklichem in mir, und niemandem außer Dir darf ich sie zeigen. Du bist mein Bruder und zugleich der Bewahrer meines Geheimnisses.
Auch nun wieder, da ich draußen sitze und mich fallen lasse in den Abgrund meines monströsen Selbst.
Niemand außer mir ist hier, es ist Nacht, und ich bin wieder ein Poet, wie ich es immer in Nächten wie dieser bin, in der ich fern der Stadt, fern von Leuten und Straßen und Gefahren auf Dich warte und mich fallenlassen will in Deine Arme. Jedes Mal habe ich Angst davor und kann doch nicht anders, als mich auch darauf zu freuen, mit Dir in diesen Nächten zusammenzusein. Ganz weh wird mir, es ist so schön in dieser Nacht. Hörst Du die Grillen zirpen? Den Wind Durch meine Haare wehen? Ich warte, warte auf Dich, mein Bruder.
Warum muss das, was wir tun, so verboten sein? Warum darf niemand es erfahren? Warum müssen wir uns so lieben? Es ist ein Fluch, aber er ist grausig-schön, wenn die Liebe mich überfällt, wenn mein Körper heiß und kalt wird, wenn er beginnt, zu vibrieren. Wie sehr erwarte ich darauf, dass Du mich berührst!
In Nächten wie diesen besitze ich unendliche Gier, unendliches Verlangen, einen verbotenen Hunger, den ich nur mit Dir teilen kann und will.
Und hier, so fern aller Menschen, so fern aller Augen können wir uns vereinen. Ängstlich sitze ich hier, um mich herum nur Bäume und Büsche, und wären die Wolken nicht da, würden die Sterne mir leuchten.
Wie verboten wir sind! Und wie verteufelt grausam unsere Leidenschaft!
Es kommt jedes Mal wieder einer Opferung gleich, einem scheußlichen Ritus. Ich sitze nackt ich im kitzelnden Gras einer Lichtung, um mich herum sind nichts als Bäume eines tiefen, unendlich erscheinenden Waldes, und niemand, der nicht mindestens ebenso verboten ist wie ich, wird hier sein, um mich zu beobachten, wie ich hier sitze, um auf Dich zu warten, und niemand wird daher sehen, wie wir uns gleich lieben werden. Die Nacht ist ein Mantel, die Nacht ist eine Mauer des Schweigens, die das Grausige verdeckt.
Ich atme die Luft mit obszönem Lüstern, und der Geruch, der in ihr liegt, ist der typische einer warmen Sommernacht – frisch, lau, und nur, wer weiß, Gerüche zu erkennen, bemerkt, wie aromatisch all das riecht: das Gras, die Erde, die Bäume, das Laub an ihnen und das auf dem Boden, das langsam verfault.
Wo bleibst Du nur, mein Bruder? Ich kann kaum erwarten, Dich zu sehen. Wobei ich weiß, was geschehen wird, wenn Du da bist und Besitz von mir ergreifst, wenn Du meinen Verstand löscht und mich zu einem triebhaften Tier machst, das sich nicht mehr kontrolliert, das einfach nur wild und verrückt existiert, wenn ich kein Mensch, sondern nur das Tier bin.
Wie wehrte und wehre ich mich gegen Dich, und wie werde ich mich wehren. Doch alles Wehren ist sinnlos. Wenn es Zeit ist, warte ich mit wohligem Grausen.
Bitte, Bruder, streichle mich. Küsse mich. Ich sehe nach oben in den Himmel, spüre Animalisches in mir, spüre, wie der Herzschlag anders, schneller wird.
Dann reißt der Himmel auf, und Du wirst preisgegeben!
Ich sehe Dein wunderbares, strahlendweißes Antlitz, voll und vollkommen. Mein Herz rast, mein Blut jagt. Du weckst das Unfassbare in mir – ich beginne mich zu verwandeln!
Haare wachsen mir überall, nach und nach bekomme ich das Fell, und alles Verträumte, Poetische verlässt mich. Ich werde zum Wolf. Blutdurst steigt in mir hoch, und gleich werde ich Tiere reißen – o, wie gut, dass keine Menschen hier sind!
Wie herrlich, ein Wolf zu werden, einer zu sein. Wie schrecklich, von einem Fluch befallen zu sein. Wie furchtbar, im Schrecklichen das Schöne zu sehen.
Ich winde und verändere mich. Und Dein wunderbares, schönes Gesicht ist über mir, und wir werden eins, werden zu Liebenden, und Du hältst mich in Deinen Armen.
Mein Bruder, Du bist mein Leben und mein Verderben. Du bist meine Liebe und mein Hass. Du bist Schönheit und Abscheulichkeit. Du bist Argwohn und Trieb.
Mein Bruder. Man hat uns zusammengebracht, und wenn ich sterbe, bist Du noch immer da – für alle Zeit.
© Copyright by Oliver Koch
Ich weiß nicht, ob man sie Geschichten nennen kann, Story, Erzählung – die Streiflichter beschreiben eher Ideen anhand eigenartiger Szenen und Begebenheiten. Da ist das Streiflicht von der plötzlich eingegangenen Pflanze, völlig unspektakulär, ohne Handlungsbogen und Plot – da starrt ein Forscher auf eine Petrischale und ahnt, was er da geschaffen hat, und obwohl er es nicht beweisen kann, weiß er es einfach – da ist der Junge, der mit einer Gruppe Freunde durch den Wald fährt und sich von einer unscheinbaren Stelle im Wald magisch abgestoßen fühlt, weil er dort ein unbestimmtes Grauen vermutet – und was ist mit dem Mann, der in der Bahnhofshalle steht und erlebt, wie um ihn herum Menschen kommen und verschwinden?
Als erstes Streiflicht habe ich bereits Mein Grabstein hier im Blog veröffentlicht und damit einen Text, der auch noch als Geschichte durchgeht. Auch bei Der Hund ist das so, den ich heute beendet habe und den ich eigentlich für die Streiflichter vorgesehen habe – nun ist es wirklich eine Story geworden mit Anfang, Mittelteil und Schluss, wenn auch einem reichlich rätselhaften. Ich überlege noch.
Streiflichter geht mir als Titel für eine Kurzgeschichtensammlung mindestens 25 Jahre lang im Kopf herum. Schon damals wollte ich Geschichten sammeln, die sich mit den Ereignissen befassen, die man seltsam, unerklärlich, kurios nennen könnte. Die uns in das aufscheinende Licht einer Parallelwelt, einer Zwischenwelt, einer Jenseitswelt blicken lässt und uns fragt: Ist das, was wir in unserer Welt sehen und glauben und meinen zu wissen, wirklich die ganze Wahrheit?
Anstatt mit Kurzgeschichten Antworten darauf zu geben, möchte ich mit den Streiflichtern experimentieren und auf die Sinne anspielen, die jedem von uns hin und wieder Dinge denken, glauben und fühlen lassen, die wir als Einbildung, Überreizung und „dumme Idee“ abtun.
Mal glauben wir, eine Präsenz zu fühlen, mal bemerken wir, dass wir beobachtet werden, drehen uns um und erkennen jemanden, der uns wirklich ansieht – Eingebung? 6. Sinn?
Mit den Streiflichtern möchte ich also keine Geschichten im herkömmlichen Sinn erzählen, sondern mit den Nerven, Sinnen und Wahrnehmungen spielen.
Deshalb nenne ich die Streiflichter selbst Nachrichten von nebenan, dazwischen und jenseits.: Ein Aufblitzen anderer möglicher Welten oder das Aufscheinen unserer Welt, die normalerweise außerhalb unserer Wahrnehmung liegen nach dem Motto „Ist alles, was wir sehen, wirklich alles, was wirklich ist?“
Ist es?
Ich habe meinen Grabstein aufgestellt. Nicht, dass ich jemals dort begraben läge – aber ich bin altmodisch. In den letzten Tagen meines Lebens mag es auch der Eifer sein, sich ein Denkmal zu setzen. Der Stein trägt meinen Namen und das Datum meiner Geburt. Beim Sterbedatum war ich weniger genau, so ist dort nur die Schätzung zu lesen „in den Tagen nach dem 25.9.2105“, dem Tag der Grabsteinstellung. Sie hat mich so viel Kraft gekostet, dass ich zwischendurch der Meinung war, dies könnte auch mein Sterbedatum werden, auch wenn man mich wahrscheinlich nie gefunden hätte, wenn ich direkt davor gestorben wäre. Die Winde des Mars sind heftig. Dies ist auch der Grund, aus dem der Stein selbst bald verweht sein wird. Aber egal. Ich hab mein Testament auf den Mars gepflanzt, und es wird der Menschheit ein Mysterium sein wie ich selbst und meine Motive, alles hinter mir zu lassen.
Wie gefühlig man doch wird in seinen letzten Tagen, wie sehr die Sehnsucht nach Gedenken und Ewigkeit selbst bei jenen steigen, die sich wie ich von allem entfernt haben, um für sich zu sein. Die Kolonisten waren mir zuwider. Sie strebten so nach Menschlichkeit, dass es mir zeigte, dass sie es ist, die mich vor Menschen flüchten ließ. All diese Worte, all dieses Mühen und Bestreben, immer dieses Wollen, Wünschen, Müssen, so dicht beieinander, dass sie sich verwoben zu einem Brei der Tat, der alles andere erstickte, grässlich.
Dass ich auf einmal fehlte, ist natürlich aufgefallen. Doch hat mich das nicht großartig gekümmert, was sie glaubten, meinten oder unternahmen, um mich zu finden. Ich bezweifle, dass sie die richtigen Schlüsse zogen: Dass ich mich dazu entschloss, ein Eremit zu werden, allein in den Winden des Mars, ausgezogen, um zu leben in aller Einsamkeit, die Menschenleere bietet.
Solchen Menschen ist die Sehnsucht nach Ruhe und Einkehr fremd, geschweige denn nach Einsiedelei – ich liebe dieses Wort und seine Bedeutung – die Suche nach Entfernung von allem Wollen, Willen, Streben: All das ist undenkbar für sie. Sie werden sich fragen, wohin ich wohl wollte und nach all den interessanten Stellen suchen. Dabei bin ich dort, wo es am ödesten ist. Nichts ist hier, was das Auge reizt, nichts, was den Verstand beschäftigt. Hier ist Platz für mich.
Sie werden vermuten, ich sei zum Sterben aufgebrochen, weil mich „die Umstände“ zu sehr belastet hätten. Sie werden sich fragen, was sie falsch gemacht haben, was sie übersahen, was sie nicht bemerkten, und wie ich sie kenne, wird ihr Forscherdrang in meiner Seele rückwirkend Makel oder Anzeichen für ihre Thesen und Ideen finden. Ich verüble es ihnen nicht. Das Wissen über etwas und jemanden ist das Gegenteil von Leere. Es war diese Leere, die die Menschen der Frühzeit und Antike in ihre Mythen trieb. Je schlauer sie wurden, desto mehr fragten sie sich und überlegten und mussten erklären, selbst wenn dabei nur Götter herauskamen.
Die Mythen und Götter unserer Zeit heißen Analyse und Methode – und wie damals sind sie stets davon besessen.
So werden sie vor Rätseln stehen, denn außer, dass ich ruhiger war als sie, habe ich keine Anzeichen meiner Sehnsucht gezeigt, allein zu sein.
Ich weiß, dass sie versuchen werden, mir meinen Selbstmord anzudichten. Was für Idioten! Statt zu sterben zog ich aus, um in Ruhe und Frieden fern von ihnen zu leben!
Natürlich war mir früh klar, dass ich ganz allein auf dem Mars nicht allzu lange leben würde, doch mir ging es nie ums lange Leben. Sondern um die Heimkehr an den Ort, von dem ich stamme – verrückt, dass man dazu erst seinen Planeten verlassen muss, denn streng genommen ist dieser Ort der Heimkehr überall dort, wo Ruhe und Stille ist. Schwierig in diesem Gewimmel der Erde.
Kaum habe ich Stille gefunden, fielen sie wieder ein wie Ungeziefer und raubten mir den Raum, den ich brauchte, um für mich und bei mir zu sein.
Sie überlegten ständig und fragten sich alles, was nicht schnell genug vor ihrer Neugier in die Ferne floh. Nichts blieb Geheimnis, kein Schatten blieb dunkel, kein Stein ungewendet.
Hierher folgen sie mir nicht. Wozu an einen Ort folgen, der so lebenswert wie kein zweiter ist? Viel Platz habe ich nicht. Doch den Raum, den ich brauche, trage ich in mir, seit Wochen schon klappt er aus und weiter aus und weiter aus, es ist kein Ende abzusehen. Der Sonne zuzusehen, wie sie auf- und untergeht, den Sternen in der Nacht beim Funkeln zuzusehen, wie sie kein Mensch der Erde jemals sehen wird, den Wind an meinem Raumanzug zu spüren und irgendwo zu denken, es könne eines Tages klopfen, und da steht dann einer jener Marsianer vor mir, den sich jeder wünscht und niemand ausmalt.
Der Weg von meinem Grabstein zurück in meine Heimstatt ist weit genug, um all die Teams zu blenden, die nicht müde werden, mich zu suchen.
Ich hätte es auch einfach lassen können. Aber ich will ihnen den Triumph nicht gönnen, als erste Menschen auf dem Mars verschwunden zu sein: Das bin ich! Der erste, dessen Schicksal sie sich ausmalen und vergeblich nachzustellen versuchen. Es ist Einzige, was ich ihnen bieten kann: Fragen über Fragen. Und meinen Grabstein. Als Zeichen meiner Missachtung.
Dass ich lange Zeit mit meinem neuen Roman nicht vorwärts kam, lag an der Chronologie der Ereignisse. Das bereits in Teil 1 hinreichend besprochene „Besondere“ des Settings wollte ich stets chronologisch ausrollen. Sprich: Mit einem personalen Erzähler durch die Augen des Protagonisten, der staunend durch das Geschehen tappt und erst nach und nach das Ausmaß seiner Lage erlebt, erkennt, versteht. Das tragfähige Element war dabei immer das Setting an sich.
Das Problem jedoch liegt auf der Hand: Will der Leser Seiten über Seiten vor sich haben, wie sich ein Mensch umsieht und sich dabei Gedanken macht?
Eben.
Das machte nicht einmal als Schreibender richtige Freude. Da fehlt neben Spannung vor allem die Dynamik. Man kann sich kaum in die Hauptfigur hineinversetzen, weil man sie nicht kennt, doch warum sollte man ihr also überhaupt folgen?
Ich gestehe, zwei Fehler gemacht zu haben: Zunächst einen Fehler und dann den Fehler, den ersten nicht überwunden zu haben.
Dies war das „Klick“, das ich beim Konzert von Nils Frahm hatte, das von dem ich im 1. Teil berichtete: Die ausweglose Lage wird viel besser begreiflich, wenn der Roman viel später ansetzt, wenn bereits viele Dinge passiert sind. Der Protagonist ist entsetzt darüber, was aus ihm geworden ist, er sucht in seiner besonderen Lage ein Gegenüber, dem er sich anvertrauen kann. Er will seine Taten bekennen und bereuen, sich allerdings auch rechtfertigen.
Anstatt dass der Leser den Protagonisten Schritt für Schritt in den Konflikt hineinbegleitet, wird er in dessen Konflikte gleich zu Beginn hineingeschleudert.
Anstatt den Leser lange auf die Folter zu spannen, was denn dort alles noch geschehen mag, fragt er sich schon auf der ersten Seite: Was hat er denn überhaupt getan? Was ist denn so schlimm? Was ist denn seine besondere Lage, durch die er sich so verändert hat?
Nun ist die Idee eines Protagonisten, der an einem Schreibtisch sitzt und über seine Sünden berichtet, nicht neu – und verführt zur nächsten Gefahr: Der unendlichen Selbstbespiegelung eines Protagonisten.
Um das zu vermeiden, gibt es gleich zu Beginn eine zweite Zeit- und Handlungsebene, nämlich die des ursprünglich geplanten chronologischen Erzählens der Geschichte. Ich lasse beide Stränge parallel laufen und bekomme endlich genau das in die Geschichte hinein, die ich die ganze Zeit so schmerzlich vermisst habe: Dynamik. Ich habe einen personalen Erzähler, der in der Er-Form durch die Augen des Protagonisten erzählt, und einen Ich-Erzähler, der die Hauptfigur zu Wort kommen lässt – der eine weiß noch nicht, was auf ihn zukommt, der andere reflektiert bereits Vergangenes.
Für den Leser ergeben sich damit zwei Sichten, und obwohl er beiden Erzählern in seinem Kenntnisstand überlegen ist, kann er mit den beiden Erzählern mitbangen.
Beim Schreiben funktioniert das erstaunlich gut, ich bin sehr zufrieden. So kann es gerne weitergehen.
Am Ende wird Nils Frahm der Anfang gewesen sein, dass ich meinen langgehegten Roman letztlich doch wieder in Angriff nahm. Und seit Ende Dezember 2018 wieder schreibe mit dem Wunsch, ihn im Laufe des Jahres 2019 zu beenden.
Jahrelang habe ich ihn immer wieder in Angriff genommen, erste Kapitel geschrieben, habe mit dem Sujet gespielt und vor allem mit der Art und Weise, wie ich diesen Stoff, den ich da plante, transportieren könnte.
Weit gekommen bin ich bei all den Versuchen nie.
Dabei gibt es bereits seit Jahren Musikstücke auch von Frahm selbst – allen voran das sagenhafte „Says“ von seinem Album „Spaces“, die für mich wie ein Soundtrack für eine Verfilmung des Stoffes waren, und es war leicht, mir diese Szenen vorzustellen und sie womöglich recht präzise zu beschreiben.
Doch ein paar Szenen reichen nicht. Mir war zwar klar, was ich wollte, doch fehlte mir stets etwas Entscheidendes:
Das Problem an dem Stoff, an den ich mich nun wieder heranwage, ist das besondere Setting, das ich hier noch nicht näher beschreiben möchte – nur so viel: Es ist eigenwillig und eine erzählerische Herausforderung.
Den Plot einfach niederzuschreiben, ist dabei nicht das Problem, aber es wäre der falsche Ansatz für den Stoff. Die Story hat sich über all die Jahre nicht verändert, steht fest und wartet nur darauf, endlich geschrieben zu werden – aber es muss noch mehr an das Gerüst des Plots, und das sind das Fleisch und die Organe eines Romankörpers, der beweglich ist, anschmiegsam, ästhetisch und besonders. In dem Text muss etwas schweben, etwas klingen, etwas vibrieren, sprachlich wie gedanklich. Das Konzept des Wie ist also das Besondere, nicht das Was, und ich brauchte eine Art Soundtrack zur Gefühlswelt des Protagonisten, die der Roman zum Klingen bringen soll; ohne sie geht es nicht.
Für keinen Roman habe ich so viele vergebliche Anläufe unternommen, habe über Jahre so viele Szenen niedergeschrieben, Notizen gemacht. Das Verbindende war zwar immer in meinem Kopf und Bestandteil meiner Überlegungen, und doch konnte ich es nicht ausdrücken.
Dank Nils Frahm scheint dies nun anders zu sein:
Wäre ich am 30. November 2018 nicht bei seinem Konzert in Karlsruhe gewesen, hätte ich wohl nie mehr mit dem Schreiben des Romans begonnen.
Während ich in der Halle stand und Frahm mit seine Melodien immer weiter ausklappte, einen Klangteppich ausrollte, modifizierte, um Themen kreiste und und variierte, machte es plötzlich in mir „Klick“. Ich stand inmitten all dieser Menschen im Live-Konzert und das war’s. Ohne dass ich vorher an meinen Roman und den Stoff gedacht hatte und wie ein Tabula rasa die Musik auf mich wirken ließ, quoll der Stoff in mir hoch und steht noch immer da. Und wabert, pulsiert, pocht. Ein besonderes Gefühl.
Und es nimmt bereits Gestalt an: Die ersten Seiten des Neubeginns gibt es bereits. Wie es weitergeht, werde ich im Blog regelmäßig beschreiben.
Ich freue mich.
Kürzlich schrieb ich über meine neue SF-Story Der Gärtner von Eden und Lächeln anlässlich der Lesung „Future Monday“ zum Thema „Wir wissen, was du machst! Datenkraken & Sammelwut“ im Karlsruher KOHI.
Als ich mich erstmals mit dem Thema für eigene Geschichten befasste, machte ich die erstaunliche Entdeckung, dass sich Datenschutz und Datenmissbrauch noch besser für Dystopien eignen als die Angst vor Atomschlägen in Zeiten des Kalten Krieges – das sagte ich auch während meiner Lesung zu dem Publikum.
Zwar stand Der Gärtner von Eden sofort für mich fest, aber die Flut an möglichen Geschichten, die mir möglich und geeignet erschienen, geschrieben zu werden, hat mich dann doch beeindruckt. Gut ein Dutzend Ideen hatte ich nach kürzester Zeit im Kopf, und ich bezweifle, dass dies auf meine Phantasiebegabung zurückzuführen ist. So war auch schnell mein Entschluss klar, als zweite Story zum Thema Lächeln zu schreiben, die als zweite meiner Texte in der Lesung ihre Premiere gefeiert hat.
Stattdessen scheint dies ein reichhaltiges Angstthema zu sein, das sowohl aktuellen Zeitbezug hat, als auch eigene Erfahrung: Denn wir werden schließlich tagtäglich mit Daten und ihrem Umgang konfrontiert – als Anwender, als Kunde, privat und beruflich. Jeder hat etwas dazu zu sagen, weil in unser aller Leben Erfahrungen mit diesen Technologien und den damit verbundenen Organisationen und Systemen stecken. Wir teilen diese Erfahrungen alle.
Fast scheint es, als haben wir uns selbst in Daten verwandelt – was auch das unbestimmte Unbehagen erklären mag, das da unter der gesellschaftlichen Folie vibriert:
Ein Unbehagen davor, dass wir selbst zu nur noch auf Datenebene verwertbare Einheiten verkommen, deren Wert sich an verwendbaren Daten misst, die wir darstellen.
Ein Unbehagen davor, dass wir selbst zu Daten werden und darüber unser Menschsein verlieren. Aber auch ein Unbehagen davor, als Daten ausgebeutet zu werden – was in früheren Gesellschaften ausgebeutete Arbeiter darstellten, werden wir nun als ausgebeutete Datensammlungen. Schön kann das niemand finden.
Vor allem ist da aber das Unbehagen vor der Verletzlichkeit und des Kontrollverlusts: Der Privatsphäre, des Vertrauens, der Eigenständigkeit. Und auch wenn das Private eine ausgesprochen junge Erfindung der Menschheitsgeschichte ist, so ist es doch ein grundlegender Pfeiler.
Es war nicht so, dass ich lange über einzelne Themen nachdachte: Stattdessen drängten sie sich mir auf – und das, obwohl ich selbst Verfechter der Tatsache bin, dass es „gute“ Daten gibt und er Erkenntnisgewinn durch gewonnene Daten durchaus humane, menschliche und ethisch hoch stehende Ziele verfolgen kann.
Aber es stimmt natürlich: Geschichten schreibt man nie über Dinge, die gut laufen, wo bliebe da der Konflikt, die Spannung, ohne die keine Story auskommt?
Und doch hat es mich überrascht, wie viel Themen mir plötzlich im Kopf standen: Gesundheitsdaten, die missbraucht, aber auch fehlinterpretiert werden können, stets gepaart mit der Technologiehörigkeit, die seit Jahren in dem Maße stärker wird, in dem die Massen sich weniger als Mensch, sondern als bloße „Anwender“ begreifen (dieses Thema werde ich beizeiten übrigens in einem eigenen Text aufgreifen).
Ich musste mir die Frage stellen: Steht da wirklich derart Schlimmes vor unserer Tür, oder sind wir mittlerweile Menschen, denen Alarmismus zur Gewohnheit geworden ist?
Auch ohne werten zu wollen ist klar: Da kommt etwas auf uns zu. Etwas, für das es noch kein Beispiel gibt und damit auch kein so sehr beliebtes Best-practise-Beispiel, das uns die Listen zum Abarbeiten zur Verfügung stellt. Etwas, dessen Funktionsweisen im Geheimen von Technologie wirken, die die meisten weder beherrschen, noch in den Grundzügen verstehen – gepaart mit krimineller Energie und wirtschaftlicher Rücksichtslosigkeit kommt beim Nachdenken erstaunlich schnell an den Rand einer Apokalypse.
Ich stehe nun da mit vielen Geschichten im Kopf und staune über die Vielzahl. Und erschrecke, wie real die meisten davon bereits heute sind.
Manchmal braucht es Gelegenheiten, die einen dazu bringen, eine Geschichte zu schreiben, die man ohne die Gelegenheit vielleicht nie geschrieben hätte – wie es mir jetzt mit meiner neuen SF-Story Der Gärtner von Eden ging.
Alles begann damit, dass mich die Lektorin und Autorin Simona Turini zu einer Lesung einlud, die die letzte in ihrer 4-teiligen Reihe „Future Monday“ im Karlsruher Kulturverein KOHI sein sollte. Thema: Datenschutz. Hier las ich gemeinsam mit Datenschützer und Autor Jens Glutsch von der Manufaktur für digitale Selbstverteidigung, der aus seinen Publikationen vortrug, zum Thema „Wir wissen, was du machst! Datenkraken & Sammelwut“.
Ob ich dazu nicht zufällig eine Geschichte oder zwei auf Lager hätte?
Hatte ich nicht.
Zusagen war dennoch Ehrensache, und so dauerte es keine fünf Sekunden, bis mir klar war, dass eine der beiden Geschichten, die ich für die Lesung schreiben würde, Der Gärtner von Eden sein musste.
Rückblickend war dies das Beste, was mir hat passieren können – zumal meine Bedenken, die zugegeben abstrakte Geschichte könnte die Zuhörer ratlos zurücklassen, unbegründet waren. Vielmehr konnte ich mich über äußerst positive Resonanz freuen – so ließ die Karlsruher Tageszeitung Badische Neueste Nachrichten (BNN) den Leser wissen, man habe „gebannt“ zugehört.
Nun, da Der Gärtner von Eden fertig und öffentlich vorgestellt wurde, bin ich froh, dass ich mich an der Lesung beteiligt habe.
Ich brauchte insgesamt drei Anläufe, bis ich die Geschichte letztlich auf der Schiene hatte. Den beiden ersten Anläufen fehlte etwas, und als ich es gefunden hatte, war der dritte Anlauf ein durchgängiges Vergnügen mit einem Text, der sich fast schon von selbst schrieb.
Die nächste Etappe ist natürlich: Vielleicht findet sich ja eine Veröffentlichungsmöglichkeit.
Mit meiner SF-Story Seine große Liebe bin ich in der aktuellen Anthologie mit deutschsprachigen Science-Fiction-Stories Wasserstoffbrennen aus dem Amrûn Verlag vertreten – diese ist pünktlich zum diesjährigen BuCon 2018 erschienen, wo ich gemeinsam mit Jacqueline Montemurri und Klaus N. Frick einige Exemplare signiert habe; eine neue Erfahrung für mich, muss ich gestehen.
Meine SF-Story Seine große Liebe erzählt die tragische Geschichte zweier Cyborgs auf dem Mond, die sich die Frage stellen, ob sie in ihrer neuen Existenz mit neuen, metallenen Körpern ihre Liebe zueinander fortführen können, die sie als Mensch miteinander verband.
Kürzlich verriet mir meine Mutter, dass diese Geschichte eine Freundin zu Tränen gerührt haben soll … – eine derartige Rückmeldung habe ich bislang von noch keiner meiner Geschichten erhalten.
Ich freue mich sehr, mit von der Partie zu sein, und ich bin der Ansicht, Wasserstoffbrennen ist wirklich ein rundes, unterhaltsames Buch mit so unterschiedlichen wie lesenswerten Texten geworden.
Mit dabei sind zudem die Autoren Uwe Post. Matthias Falke, Stefanie Bender, Nadine Boos, Tobias Bachmann, und Achim Mehnert.
Wasserstoffbrennen ist Band 1 der Reihe Nukleosynthese und wird 2019 mit Heliumbrennen fortgesetzt – dort kann man dann meine harte SF-Novelle Mit der Kraft des Hasses lesen.
Alles beginnt mit einem Treppensturz – oder geht zu Ende, wie man es sieht. Hier, an der Schwelle des Todes, tun sich neue Eindrücke auf. Die Welt, wie sie war, wird unwichtig, das was da kommen mag, ist ungewiss. Was nun geschieht, geschieht vielleicht oder geschieht vielleicht nicht – wer weiß das schon? Und wie schnell geschehen Dinge hier, wenn sie denn geschehen sollten?
„Die Schwelle“ ist eine Chronik des Verlöschens und daher weniger plotgetrieben als spekulativ.
Ich habe Sie mehrfach gelesen, und es macht mir tatsächlich Freude, diese Geschichte vorzutragen – denn sie lebt meiner Ansicht nach vom Vortrag.
Das Video gibt es natürlich auf meinem YouTube-Kanal.
Videolesung von Die Schwelle jetzt ansehen.
Hier gibt es „Die Schwelle“ zum kostenlosen Download als eBook für alle Reader:
Erzählung „Die Schwelle“ für Leser mit tolino, Kobo im EPUB-Format kostenlos downloaden:
Die Schwelle von Oliver Koch im EPUB-Format
Erzählung „Die Schwelle“ für Leser mit tolino, Kobo im MOBI-Format kostenlos downloaden:
„Die Schwelle“ von Oliver Koch im MOBI-Format
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Erzählung „Mach schon“ für Leser mit tolino, Kobo im EPUB-Format kostenlos downloaden:
Erzählung „Mach schon“ für Leser mit Kindle und anderen Geräten im MOBI-Format kostenlos downloaden:
Mach schon – Oliver Koch Mach schon – Oliver Koch
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