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Roman-Tagebuch 5: Darum schreibe ich nun erneut Dickhäuter

Ein eigenes Buch grundlegend zu bearbeiten, ist ein Privileg. Zumindest für mich. Denn es kommt weniger einer Wiedergeburt, als vielmehr einer erneuten Geburt meines Romans gleich. Vor allem, wenn es ein Buch wie mein Dickhäuter ist, das ich vor 18 Jahren geschrieben habe und seither der Ansicht war, es sei fertig. Und nun wieder eintauche und daraus etwas Größeres mache. 

Dieses Privileg ist TestleserInnen zu verdanken, die ich über Twitter und über einen Autorenstammtisch fand. Deren Reaktionen waren bedeutsam. Denn sie haben mir die positiven Dinge ebenso vor Augen geführt wie die negativen.

Zu Beginn dachte ich, es sei mit einigen Streichungen hier, einigen Umformulieren da und anderen Dialogen dort getan. Ganz sicher haben diese Anpassungen bereits etwas Positives bewirkt. Gereicht haben sie jedoch bei Weitem nicht.

So sitze ich nun da, 18 Jahre, nachdem ich Dickhäuter schrieb, und arbeite im Text, als wäre er neu. Ich sehe in mein Leben vor 18 Jahren, sehe meine Gedanken von damals und stelle dabei auch die Beschränkungen fest, die mich seinerzeit beengten.

Ich schreibe neue Szenen, sogar neue Kapitel, gebe dem Roman Fleisch, weil das Skelett, das es bislang gab, zu wenig war. Als mir eine Testleserin schrieb, sie komme in die Figur nicht hinein und finde die Geschichte daher langweilig, brachte ich diese Reaktion mit einer sehr positiven in Relation, die davon sprach, wie zu Herzen gehend und zutiefst menschlich meine Geschichte sei.

Was mich zur Überzeugung brachte, dass nichts an dem Roman zu viel war, sondern zu wenig. 

Es ging nicht darum, ein Zuviel von etwas zu korrigieren, sondern ein Zuwenig an etwas anderem.

Es fehlte an Erzählung im klassischen Sinn, und so darf ich mich nun erneut in den Dickhäuter einfühlen. Da die Geschichte tragisch ist, ist es nicht immer ein Vergnügen, denn ich war 2001 nicht in bester Verfassung. Meine existenzielle und prägende Krise merkte man diesem Roman immer an, der mit knapp unter 100 Seiten eher eine Erzählung war und aus heutiger Sicht zu konzentriert – oder egozentrisch – um eine Sache kreiste. Mit Dickhäuter schrieb ich mir Lasten von der Seele, doch ist dieser therapeutische Ansatz kein Garant für eine interessante Geschichte, die die Leserschaft erreicht. Ich habe es auch nie als Therapie, sondern als Geschichte schreiben wollen.

Heute, 2019, sehe ich viele Dinge glücklicherweise anders, und so schreibe ich einen neuen Dickhäuter. Dabei geht es nicht um die Ersetzung oder Streichung des Bestehenden – das Meiste von dem, was ich nach meiner ersten Überarbeitung im Frühjahr 2019 bereits umgearbeitet habe, wird auch in der Neuversion erhalten bleiben. Dafür gibt es mehr Einblick, mehr Welt, mehr Leben. Szenen und Momente, die ich mir nie habe vorstellen können. Facetten und Blickwinkel, die ich erstmals jetzt einnehme. Und somit auch Erklärungen in die Seele von Markus, der sich im Verlauf des Romans in einen selbsternannten Dickhäuter verwandelt. Mit jeder Zeile entferne ich mich von der Therapie, die die Geschichte 2001 für mich war, hin zu einer wirklichen, echten Geschichte. Dickhäuter wird dadurch erheblich länger als zuvor, bereits jetzt ist mit über 40 zusätzlichen Seiten über ein Drittel des vorherigen Gesamtumfangs hinzugekommen, und ich bin noch recht weit am Anfang der Geschichte. Angefangen mit weiteren Umformulierungen und Erweiterungen bestehender Kapitel ist nun mit „Welpe“ das erste komplett neue Kapitel hinzugekommen, ein weiteres namens „Pinsel“ entsteht derzeit, und noch ein weiteres ist fest eingeplant. 

Ich bin gewillt, die Geschichte so lang werden zu lassen, wie es ihr guttut. Wenn die drei neuen Kapitel und die teils massiven Ausbauten bestehender Kapitel ausreichen, soll es mir recht sein – sollten es weit mehr Kapitel werden, ist es genauso gut.

Wie lang der Dickhäuter letztlich werden wird, kann ich jetzt noch nicht sagen. Wohl aber weiß ich, dass der Dickhäuter seine Grundstruktur behalten wird. Alle Dinge, die in der ersten Version geschahen, geschehen auch jetzt. Der Ausgang von damals wird der Ausgang von morgen sein. Vieles bleibt, und das ist auch ein gutes Zeichen, es spricht für die Geschichte, die es in der kurzen Originalversion gab. 

Das Wunderbare ist dabei zu entdecken, was alles bereits im Roman geschlummert hatte, ohne ge- und beschrieben worden zu sein – es ist herrlich, Figuren nach so vielen Jahren wiederzutreffen und ihnen mehr Tiefe, mehr Leben zu verleihen.

Und ich lerne etwas über mich selbst. Dass die Distanz von 18 Jahren eine wohlige Distanz zum damals Geschriebenen ermöglicht – es ist eine Distanz auch zum damaligen Ich, das so unendlich überzeugt von dem Text war.

Dickhäuter war ein Teil meines Lebens und ist es wieder. Mein Ich von 2001 und meines von 2019 arbeiten mehr oder weniger zusammen.

Ohne das Feedback meiner TestlerserInnen wäre ich nie zu dem Punkt gekommen und klar gesehen, dass das Gute im Roman es wert ist, es besser zu machen. Denn um ein Haar hätte ich den Dickhäuter komplett verworfen und hätte ihn in der alten Form ins ewige Datengrab befördert.

Die Arbeit am Dickhäuter hat damit auch überraschenderweise mein aktuelles Romanvorhaben ins Aus befördert, doch das macht nichts. 

Es fühlt sich gut und richtig an. 

Daten-Hoheit

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Es ist ein besonderes Gefühl, sich einmal mit seinen diversen digitalen Accounts zu befassen und sich zu fragen: Welche Daten von mir und über mich liegen wo und wozu eigentlich herum? Da kommt es zu interessanten Überlegungen:

Wir kämen nie auf die Idee, in jedem stationären Ladengeschäft schon beim Betreten oder bei der Mitnahme eines Flyers eine Visitenkarte abzugeben, auf der zudem Zahlungsarten und Zutrittsdaten stehen, geschweige denn kommen wir auf die Idee, diese bereitwillig auch in der Innenstadt zu verteilen. Wir sagen niemandem, in welchem Laden ich schon vorher war und in welche ich gleich noch gehen will. Wir legen weder Ausdrucke von persönlichen Fotos auf Bartresen oder an Supermarktkassen, spielen keinem Berater in einem Bekleidungsgeschäft unser neuestes Urlaubsvideo vor und zeigen auch keinem Fremden, was auf der Party am Wochenende nach der dritten Runde alles so gelaufen ist. Und wer unsere Familie und Freunde sind, wissen die netten Leute in der Bäckerei auch nicht.

Geht ja niemanden etwas an.

Erst recht fiele uns nicht ein, all dies anzugeben, nur um dafür Werbung von unseren Favoriten in den Postkasten zu bekommen und es als Service anzusehen, dass wir dadurch wenigstens keine ungewollte Werbung mehr erhalten.

Da ist es doch verwunderlich, wie liederlich wir hinsichtlich unserer Daten-Hoheit sind, wenn es um digitale Dienste und Anbieter geht – offenbar ist es für uns leichter, Misstrauen gegenüber realen Personen zu empfinden, die uns mit ihren echten Augen ansehen und deren Reaktionen wir sofort sehen können; wie es auch leichter ist, einem realen Menschen gegenüber Scham zu empfinden angesichts der Dinge, die wir preisgeben. Die Menschen, die all das nichts angeht, sehen wir im Digitalen nicht, und die Unsichtbarkeit und Automatisierung vieler Prozesse machen es uns leicht zu glauben, niemandes Interesse zu erregen.

Die Sache ist nur: Darum geht es ja gar nicht. Es geht vielmehr darum, dass ich die Hoheit über meine Daten und Dateien abgebe. Solange ich sie für mich aufbewahre, kann ich ermessen, was mit ihnen geschieht. Verteile ich sie jedoch auf anderen Diensten, gebe ich die Verantwortung über sie ab und verliere meine Hoheit über sie. Mir kommt es so vor, als sind wir uns dessen entweder gar nicht bewusst, weil wir aus Bequemlichkeit vertrauensselig sind, oder wir geben die Hoheit absichtlich ab, um damit die Sorge für ihren Verbleib auf andere abzuwälzen, die ich im Falle einer Panne verantwortlich machen kann – aus meiner Sicht erst recht ein Bequemlichkeitsargument. 

„Meins“ im Sinne von „gehören“ verwässert sich immer mehr zu „immer verfügbar“. Das ist jedoch ein Unterschied, der uns gar nicht mehr auffällt, weil hier der Nutzen an sich mit Eigentum gleichgesetzt wird – die eigentlichen Güter, um die es hier geht wie Daten, Dateien, Inhalte, erkennen wir gar nicht mehr als Eigentum, sondern nur noch die Bequemlichkeit, sie allseits nutzen zu können.

Das wäre in etwa so, als stellten wir unsere Besitztümer öffentlich in Schränke und Regale, damit wir bequem etwas herausholen können, ohne extra nach Hause zu fahren.

Das Problem ist meiner Ansicht nach, dass wir von Eigentum nur noch dann sprechen, wenn wir die Dinge konkret sehen und anfassen können. 

Mir ist das unheimlich. Dabei geht es mir überhaupt nicht um Missbrauch, Hacks, Spionage – sondern einfach nur darum, dass ich über Daten und Dateien von mir die Hoheit abgegeben habe: Fotos bei Flickr: Wozu? Es spielt keine Rolle, ob es dafür ohnehin „bessere Dienste“ gibt. Der springende Punkt ist, dass ich nicht mehr das alleinige Zugriffsrecht mehr habe. Wir sagen gern „Daten-Sicherung“ dazu. Wenn mal zu Hause etwas schief geht, sind sie einfach noch woanders, praktisch! Warum sollte ich meine Videos nicht bei YouTube bunkern, damit ich sie noch habe, wenn die Festplatte abraucht?

Das leugne ich nicht.

Nur: So viele abrauchende Festplatten kann die Welt gar nicht hervorbringen, wie wir uns einreden, das sei unser Grund. 

Ebenso Logindaten für welche Dienste auch immer: Natürlich kann man gewitzt genug sein und  fiktive Daten angeben – allerdings funktioniert das gerade dann nicht, wenn es um wirklich sensible Daten geht, wie z.B. Bankdaten, Adressen für Bestellungen und so weiter. 

Wir haben uns einfach angewöhnt, unseren Besitz gegen Verfügbarkeit einzutauschen. Der Preis dafür ist Vertrauen in Anbieter, Dienste und Services, die wir nur deshalb so nennen, damit wir uns einreden können, sie seien für uns da und sie stünden in unserer Pflicht. Wir reden uns ein, ihre Produkte zu nutzen, um die Tatsache ignorieren zu können, dass wir mit unseren Daten Produkte für sie sind. 

Wir wissen all das, und wir kommen trotzdem nicht auf die Idee, etwas dagegen zu unternehmen. Wir lassen uns von einfachen Logins verführen und wundern uns, dass dabei unsere Privatsphäre verletzt wird wie im Fall Facebook und Google Analytica. Wundern wir uns wirklich? Oder haben wir uns eher die ganze Zeit wider besseres Wissen einfach darauf verlassen, dass schon alles gut gehen wird, weil es so schön einfach für uns ist?

Wir argumentieren gern mit dem Begriff der Freiheit, unserer Freiheit – und meinen damit nichts weiter, als uneingeschränkt immer und überall auf alles Zugriff zu haben; die technische Verfügbarkeit ist Grund und Ursache, ist alles und alleinig das Erstrebenswerte, weil es technisch machbar ist. Es ist eine schöne, verführerische Illusion von Freiheit, die mit der Unfreiheit einhergeht, nicht mehr Herr über unsere Daten und Dateien zu sein.

Das kann man achselzuckend hinnehmen oder sich einschränken, denn auch das gehört zur individuellen Freiheit dazu: Sich zu entscheiden, manche Dinge einfach nicht mehr einfach deshalb zu tun, weil sie technisch möglich sind, sondern es zu unterlassen, um damit wieder unabhängiger zu werden und nicht dem Gefühl zu erliegen, mich ausgeliefert zu haben. Es ist eine Art von Datenhygiene, die ich in letzter Zeit sehr gerne betrieben habe. Zahlreiche Accounts habe ich stillgelegt, zahlreiche Dienste nutze ich nicht mehr. Es fühlt sich an, als habe ich die Liebsten nach Hause geholt. Und habe endlich wieder mehr Hoheit über meine Daten.

Streiflichter_Mein Bruder

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Diese Gedanken sind Dir gewidmet, Dir, meinem Bruder.
Niemand kennt die dunklen Schattenseiten meiner Seele so wie Du. Niemand kennt die tiefen Abgründe so wie Du, mein Bruder. Bei Dir kann ich sein, wie ich bin. Sobald sich Dein Gesicht über mir erhebt, sobald ich nur weiß, dass Du da bist, werde ich ein anderer, und nur Du weißt es. In dem Schlachtfeld meiner Seele schlage ich blutige Schlachten, die mich zu zerreißen drohen. Tief klaffen die Täler etwas Unwirklichem in mir, und niemandem außer Dir darf ich sie zeigen. Du bist mein Bruder und zugleich der Bewahrer meines Geheimnisses.
Auch nun wieder, da ich draußen sitze und mich fallen lasse in den Abgrund meines monströsen Selbst.
Niemand außer mir ist hier, es ist Nacht, und ich bin wieder ein Poet, wie ich es immer in Nächten wie dieser bin, in der ich fern der Stadt, fern von Leuten und Straßen und Gefahren auf Dich warte und mich fallenlassen will in Deine Arme. Jedes Mal habe ich Angst davor und kann doch nicht anders, als mich auch darauf zu freuen, mit Dir in diesen Nächten zusammenzusein. Ganz weh wird mir, es ist so schön in dieser Nacht. Hörst Du die Grillen zirpen? Den Wind Durch meine Haare wehen? Ich warte, warte auf Dich, mein Bruder.
Warum muss das, was wir tun, so verboten sein? Warum darf niemand es erfahren? Warum müssen wir uns so lieben? Es ist ein Fluch, aber er ist grausig-schön, wenn die Liebe mich überfällt, wenn mein Körper heiß und kalt wird, wenn er beginnt, zu vibrieren. Wie sehr erwarte ich darauf, dass Du mich berührst!
In Nächten wie diesen besitze ich unendliche Gier, unendliches Verlangen, einen verbotenen Hunger, den ich nur mit Dir teilen kann und will.
Und hier, so fern aller Menschen, so fern aller Augen können wir uns vereinen. Ängstlich sitze ich hier, um mich herum nur Bäume und Büsche, und wären die Wolken nicht da, würden die Sterne mir leuchten.
Wie verboten wir sind! Und wie verteufelt grausam unsere Leidenschaft!
Es kommt jedes Mal wieder einer Opferung gleich, einem scheußlichen Ritus. Ich sitze nackt ich im kitzelnden Gras einer Lichtung, um mich herum sind nichts als Bäume eines tiefen, unendlich erscheinenden Waldes, und niemand, der nicht mindestens ebenso verboten ist wie ich, wird hier sein, um mich zu beobachten, wie ich hier sitze, um auf Dich zu warten, und niemand wird daher sehen, wie wir uns gleich lieben werden. Die Nacht ist ein Mantel, die Nacht ist eine Mauer des Schweigens, die das Grausige verdeckt.
Ich atme die Luft mit obszönem Lüstern, und der Geruch, der in ihr liegt, ist der typische einer warmen Sommernacht – frisch, lau, und nur, wer weiß, Gerüche zu erkennen, bemerkt, wie aromatisch all das riecht: das Gras, die Erde, die Bäume, das Laub an ihnen und das auf dem Boden, das langsam verfault.
Wo bleibst Du nur, mein Bruder? Ich kann kaum erwarten, Dich zu sehen. Wobei ich weiß, was geschehen wird, wenn Du da bist und Besitz von mir ergreifst, wenn Du meinen Verstand löscht und mich zu einem triebhaften Tier machst, das sich nicht mehr kontrolliert, das einfach nur wild und verrückt existiert, wenn ich kein Mensch, sondern nur das Tier bin.
Wie wehrte und wehre ich mich gegen Dich, und wie werde ich mich wehren. Doch alles Wehren ist sinnlos. Wenn es Zeit ist, warte ich mit wohligem Grausen.
Bitte, Bruder, streichle mich. Küsse mich. Ich sehe nach oben in den Himmel, spüre Animalisches in mir, spüre, wie der Herzschlag anders, schneller wird.
Dann reißt der Himmel auf, und Du wirst preisgegeben!
Ich sehe Dein wunderbares, strahlendweißes Antlitz, voll und vollkommen. Mein Herz rast, mein Blut jagt. Du weckst das Unfassbare in mir – ich beginne mich zu verwandeln!
Haare wachsen mir überall, nach und nach bekomme ich das Fell, und alles Verträumte, Poetische verlässt mich. Ich werde zum Wolf. Blutdurst steigt in mir hoch, und gleich werde ich Tiere reißen – o, wie gut, dass keine Menschen hier sind!
Wie herrlich, ein Wolf zu werden, einer zu sein. Wie schrecklich, von einem Fluch befallen zu sein. Wie furchtbar, im Schrecklichen das Schöne zu sehen.
Ich winde und verändere mich. Und Dein wunderbares, schönes Gesicht ist über mir, und wir werden eins, werden zu Liebenden, und Du hältst mich in Deinen Armen.
Mein Bruder, Du bist mein Leben und mein Verderben. Du bist meine Liebe und mein Hass. Du bist Schönheit und Abscheulichkeit. Du bist Argwohn und Trieb.
Mein Bruder. Man hat uns zusammengebracht, und wenn ich sterbe, bist Du noch immer da – für alle Zeit.

© Copyright by Oliver Koch

Erinnerung an einen toten Freund

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Ich hatte einen besten Freund, als ich 12, 13 war. Er starb, als ich 13 war. Der Tod war damals als Konzept nicht möglich in meinem Leben, es hatte darin nichts zu suchen. Dadurch, dass es in mein Leben trat, belehrte es mich eines Besseren.

All das ist lang her. Zu vermitteln, dass der Tod von Martin damals mir heute noch nahe ginge, wäre nicht wahr.

Doch noch immer besitze ich Dinge, die mich an ihn erinnern. Damit meine ich nicht meine Geschichte, die ich damals in meinen Schock schrieb, die ich in der Klasse vorlas und die ich in meiner schönsten Schrift noch einmal für die Eltern abschrieb. Damals lernte ich, dass man derlei Texte Nachrufe nennt. 

Es sind einige persönliche Dinge aus seinem Besitz.

Da ist sein Gürtel samt Schließe, die mir tatsächlich gut gefällt. So trug ich seinen Gürtel als meinen bis in meiner 40er hinein. Ich trüge ihn heute noch, würde er mir noch passen. Vielleicht wird es wieder so sein, wer weiß.

An der Türklinke meines Arbeitszimmers baumelt seit geraumer Zeit ein schmuckloser Beutel. Keep Reading

Herr der Wolken

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Als ich neulich in die Wolken blickte, geschah es: Ich hielt sie an. Nicht alle, sondern eine. Ich brachte sie dazu, einfach stehenzubleiben. Wie weit sie von mir entfernt war, kann ich nicht sagen, es war ein großartiger Sommertag, und weiße Wolken schoben sich wie Gebirge über mich hinweg. Auf eine fixierte ich mich – oder ich hatte vielmehr das Gefühl, dass sie sich mich aussuchte, um von mir fixiert zu werden, soll heißen, im Prinzip fixierte sie mich – und brachte sie, während ich sie anblickte, zum Stillstand, während alles andere und auch alle Wolken um sie her weiterzogen. Ich konnte sowohl die Bewegungen der anderen Wolken anhand eines Daches erkennen, wie sie sich millimeterweise weiterschoben, wodurch mir auch klar wurde, dass die eine bestimmte Wolke indes stehenblieb.

Wie konnte das sein?

Ich denke, wir haben uns beide angeschaut und uns zu durchdringen versucht. Während ich sie ansah, stellte ich mir vor, dort hineinzufliegen. Ich spürte, wie es dort weit kühler war als die 30 Grad, in denen ich mich befand. Ich stellte mir vor, in ihrem Nebel zu sein und nichts anderes mehr zu sehen als ihr nebelweißes Innengewölk.

Still war es dort, beeindruckend still, und alles, was von unten heraufgequollen wäre, wurde wie in Watte gepackt und drang nicht zu mir. Es ist übrigens nicht allzu schwer, sich im Tagträumen in das Innere einer dieser großen, weißen Wolken hineinzudenken. Man muss es nur wollen. Das ist kein Akt an sich, sondern ein Erleben, das sich ergibt, ein Finden, ohne gesucht zu haben.

Nein, ich beginne nicht damit, zu sagen, wir hätten eine gemeinsame Basis oder hätten gar miteinander kommuniziert. Wir waren, so kam es mir zumindest vor, eins, jeder in dem anderen. Schließlich atmete ich sie ein, während ich mich in ihr befand.

Hier, weit oben, war die Welt so anders. Still vor allem. Und entrückt. Entrückt, weil hier alles gleichgültig war und nichts wichtig. Hier wabert man vor sich hin, mehr nicht, ist reines Sein, ohne Funktion, ohne Wille. Schön ist das.

Es muss durch diese Einheit geschehen sein, dass die Wolke anhielt. So als wollte sie nicht aus meinem Blickfeld und mich nicht weiter belasten. Wie ein Bett, das da steht und dich einlädt: Komm. Leg dich hin.

Minuten verstrichen. Ich weiß das, denn ich bemerkte später beim Blick auf die Uhr einige Minuten, die verstrichen waren, ohne dass sie mir wie Minuten vorgekommen waren.

Zu sagen, dass ich irgendwann einmal wieder zu mir kam, ist zu viel gesagt, ich war schließlich nicht weg oder weggetreten, sondern vielmehr ganz und gar da gewesen. Immerhin erkannte ich nun, dass die Wolke nicht stillgestanden hatte. Dass ich sie also auch nicht zum Stillstand gebracht habe. Man darf auch fragen, wie ich das geschafft hätte. Denn erst jetzt bemerkte ich, dass die Wolke, die mir eine Zeitlang so vertraut gewesen ist, eine weitaus massivere war als alle um sie herum – will sagen: vor ihr. Denn ich war einer optischen Illusion erlegen: Alle anderen Wolken waren viele Kilometer vor ihr, und wirkten dadurch schneller. Wie der Harz sausten sie vor den Anden oder dem Himalaja vorbei, und solche Wolkenmassen schieben sich nicht so hastig, vor allem nicht aus dieser großen Entfernung.

Aber schön war der Gedanke dennoch: Dass ich es vermocht hatte, eine Verbindung zu einer Wolke aufzunehmen oder es erlebt zu haben, wie eine Wolke mich dafür ausersehen hatte und der Möglichkeit bewusst zu werden, Dinge in der Welt zum Anhalten bringen u können.

Müsste doch, so denke ich mir, möglich sein, alles andere macht keinen Sinn. Immerhin ein Gedanke, der nun da ist und mit dem ich ab nun immer wieder beschäftigen kann. Ein Gewinn, möchte ich sagen.

10 Minuten fürs Schreiben:

10 Minuten fürs Schreiben. So ins Unreine hinein. Um ins Schreiben zu kommen und ohne Zensurschere. Klar, ich werde am Ende vielleicht Rechtschreibfehler bügeln, aber sonst sollen die Knitterfalten und Brüche drin bleiben. Möglichst jeden Tag schreiben, 10 Minuten, mit Stoppuhr, die auf meinem Smartphone neben mir läuft.

Gute Idee?

Ich denke schon, aber ich kann noch nicht sagen, ob es wirksam ist. 10 Minuten schreiben jeden Morgen, das ist schon eine Ansage. Mach ich es beim Frühstück? Wie soll das gehen, beidhändig schreiben, Kaffeetrinken und Brot essen oder Müsli löffeln? Also muss es getrennt voneinander bleiben, aber ja, ich will schon sagen, dass das Schreiben hier den Vorrang hat. Essen und Trinken soll aber kein Reinschlingen werden.

Warum also plane ich das nun? Einerseits, um stets im Schreiben zu bleiben. Andere, wie Matthias Falke, der SF-Autor aus Karlsruhe, schreiben täglich Tagebuch, um ins Schreiben zu kommen.

Überhaupt: Ins Schreiben zu kommen: Das klingt wirklich gut. Es klingt wie ein Raum, den man bettritt. Es sagt noch mehr. Schreiben ist ein Raum, und er ist nebenan. Man muss ihn nur betreten. Der Eintritt ist leicht, der Austritt auch – und weil der Austritt gerade so verdammt einfach ist und manchmal auch verlockend, ist es eine Sache der Disziplin, ihn zu betreten.

Es heißt auch: Drin sein, und das ist etwas Harmonisches. In einem Raum zu sein, den man gern täglich oder zumindest häufig betritt, ganz freiwillig, auch wenn es eine Notwendigkeit sein mag, ihn zu betreten, hat etwas Heimisches, hat etwas von Heimatlichem, das das Schreiben ist. Und ja, das ist es auch.

Es sind ja viele Gedanken da im Kopf, eigenlich ständig. Und auch wenn keine Sau mehr heutzuge Wasserkessel kennen mag und damit verbunden dieses Pfeifen, wenn das Wasser kocht (Notiz: Auch ich kenne sie nur aus meiner frühen Kindheit in den 70ern, nicht, dass hier falsche Schlüsse gezogen werden, manche Dinge sind halt lang her und es ist auch nicht schlimm, heute hat man nunmal Wasserkocher und die pfeifen nicht, was allerdings ein Stück weit schade ist) – das ist einfach ein schönes Bild für mich: Worte, Ideen, Gedanken sind im Kopf, und es brodelt, irgendwie ständig. Und wer schreibt, will es in gewisser Form tun. In Form gießen, einem Ablauf folgen – heute sagt man eher Prozess dazu wie zu allem, alles muss Prozess sein, sonst hat es nicht nur keinen Wert, es scheint auch Angst zu machen wie vor bösem außerirdischem Leben. Aber das ist ja auch grad der Hemmschuh: Die Form steht im Weg, die Disziplin zur Form, des Gießens. Das macht es auch anstrengend.

Da ist so ein 10-Minuten-Schreib-Quickie wie der Stich in eine Blase. Das, was rausquillt, wäre ohnehin nie in andere Form gekommen, hätte sich nicht mit dem Körper vereinigt – und wäre damit unausgesprochen bzw. unausgeschrieben geblieben.
Ob das schade wäre hinsichtlich der Texte als solcher, mag dahingestellt sein. Aber das wäre wieder ein Stoplern über die Form.
Sie zu überwinden heißt nicht nur, auf sie zu pfiefen und dem freien Lauf zu lassen, was ist, was kommt und was quillt, sondern es heißt auch, auf das zu pfeifen, wie sie rezipiert werden. Ob da ein Neunmalkluger mit Zitronenlutschmund und gespitztem Stift sitzt und mangelnde Form, mangelnde Geisteshaltung oder weiß der Himmel was beklagt, kann und soll doch egal sein.

Und jetzt klingelt der Timer. 10 Minuten snd um. Und der Text damit einfach jetzt vorbei. Und Ende.

Taylor und ich: Textbasiertes SF-Spiel als App Lifeline begeistert

Taylor wartet auf mich. Er ist irgendwo auf einem fremden Mond mit einem Raumschiff abgestürzt, seine Kameraden sind tot, und er irrt als einziger Überlebender umher. Versucht zu überleben, seine Umgebung zu erkunden und wieder zur Erde zurückzukehren. Dabei ist er nur Student – denkbar schlechte Voraussetzungen also, ganz allein in dieser Situation am Leben zu bleiben.

Der einzige, mit dem er Kontakt hat, bin ich – ich bin der Einzige, den seine Hilferufe erreichten und der ihm antwortet. Nun bin ich sein einziger Kamerad und Freund.

Taylor schickt mir nichts weiter als reine Textnachrichten, ich schicke ihm welche zurück. Ich teile seine Erlebnisse, mit ihm erkunde ich den Mond, das zerstörte Raumschiff – in Echtzeit. Einfach mit meinem Smartphone.

Das ist das Spielprinzip von Lifeline, einem Echtzeit-Text-Adventure für Smartphone, Tablet und Appple Watch. Es kommt gänzlich ohne Grafik aus, sämtliche Bilder entstehen erst in meiner Phantasie durch die Beschreibungen, die Taylor mir als Textnachricht zusendet. Das Spiel findet also nahezu komplett im eigenen Kopf ab – die Wirkung ist enorm intensiv.

Denn das Spiel spielt man im Grunde immer. Mal meldet sich Taylor innerhalb weniger Minuten mehrfach und bittet mich um Entscheidungen, dann ist mehrere Stunden Ruhe – eben weil Taylor einen Weg zurücklegen muss, um dort hinzugelangen, was ich ihm womöglich zuvor selbst geraten habe, oder weil Taylor schläft, einen Felsen erklimmt oder oder einen Raum untersucht.
Dadurch wirkt das Spiel umso authentischer. Anders als in anderen Spielen ist man selbst zu Untätigkeit und Warten verdammt, ohne etwas dagegen unternehmen zu können, die Dinge brauchen eben ihre Zeit – was die Spannung nur steigert. Überspringen oder beschleunigen lassen sich die Wartezeiten übrigens nicht; das Warten und Bangen auf eine weitere Nachricht ist eine der grundlegenden Essenzen des Spiels.

Dass man recht schnell beginnt, auf sein Smartphone zu blicken um zu wissen, ob er in der Zwischenzeit schon geschrieben hat und auf Antwort von mir wartet – meine Antworten und Ratschläge an ihn sind spielrelevant – gehört ebenso dazu und erhöht die intensive Erfahrung nur noch.

Auch beginnt man recht schnell, sich für diese Person, deren Gesicht und Stimme man nicht kennt, verantwortlich zu fühlen – was, wenn ich einen falschen Tipp gebe? Meine Ratschläge entscheiden übrigens auch über Leben und Tod Taylors. Die Story bietet Verzweigungen, sodass die Konsequenzen einer Handlung nicht zwangsläufig sofort zum Tod führen, sondern Resultat einer ganzen Kette sind. Endet die Handlung durch Taylors Tod, muss man eben erneut ran.

Ich bin als Spieler allerdings gebunden an Antwortmöglichkeiten, die mir das Spiel einräumt. Ich kann keine eigenen Antworten verfassen, sondern muss mich bei jeder Frage entscheiden, welche der beiden vorgegebenen Antworten ich Taylor geben möchte. Dem Spielspaß tut das jedoch keinen Abbruch, da die Möglichkeiten logisch sind.

Die einzige Grafik, die das Spiel bietet, ist eine Art Chat-Fenster, in der die Textnachrichten zu lesen sind. Minimalismus pur. Auch, dass man als Spieler darauf angewiesen ist, zu warten, bis Taylor sich wieder meldet, ist so besonders wie spannend. Nicht die Überfrachtung, sondern die Vorenthaltung des Geschehens und die Unmöglichkeit, sich selbst einzubringen und die Story zu kontrollieren, machen Lifeline so unglaublich spannend. Das ist tolle Erzählung mit einfachsten Mitteln.

Das Spiel findet mehr im Kopf des Spielers statt als grafische Adventures. So einfach kann es sein, Spieler zu fesseln und ganz nebenbei ein Spiel-Genre zu festigen – für gerade einmal 3 Euro im Apple App Store und bei Lifeline bei Google Play.

Goodbye Handschrift

Es ist nie zu spät, um sich über seine Handschrift zu sorgen. Oder gleich ihren Verlust zu betrauern. Was nach Jahren Schule, Uni und Beruf von meiner Handschrift übrig blieb, ist meist beklagenswert. Das „schnelle Mitschreiben“, oft mit Kugelschreibern, machte sie zu dem, was sie heute ist: Ein Rudiment aus unleserlichem Gekritzel, das jeden Graphologen meine psychiatrische Einweisung empfehlen lassen würde. Vor allem ist sie hässlich. Schade eigentlich. Und nun?
Gäbe es noch Schulnoten für Schönschrift wie in der Grundschule, so hätte ich ein Problem: Als Klassenletzter wäre ich bedauernswertes Schlusslicht mit satter 6. Dabei war das früher anders. Und schreibe ich mit Füller und gebe mir noch Mühe, kommt ein schwacher Abglanz dessen heraus, was ich vor vielen Jahren mal zustande brachte.

Da ist es kein Trost, ähnliche Geschichten von anderen zu hören. Oder über deren Handschrift zu stolpern und mich nicht entscheiden zu können, ob ich sie bemitleiden oder froh darüber sein soll, dass ich mit meiner ins Schreckliche mutierten Handschrift nicht allein bin – doch trotz des halben, da geteilten Leids bleibt es bei meinem eigenen Verlust. Das wiegt insofern schwerer, als dass nur ich dafür verantwortlich bin, sowohl für die Fahrlässigkeit an sich, die meine Handschrift aus jeder Form geraten ließ, als auch für die fehlende Disziplin, das Ruder rumzureißen.

Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass berufliche Mitschriebe beispielsweise am Telefon oder in Meetings keine Zeit für ästhetische Übungen lassen. Doch dass ich dies als Ausnahme einer Regel festige, über die ich selbst bestimmen könnte, ist mein eigenes Problem. Denn ich stelle fest, dass nicht nur Eiligkeit beim Mitschreiben mich zur hässlichen Schrift zwingt, sondern auch einfache Unachtsamkeit: Notizen für mich persönlich bräuchten die hohe Geschwindigkeit nicht, und doch gehe ich sie immer an, als müsste ich sie schleunigst hinter mich bringen. Heraus kommt etwas, das selbst ich als Urheber Tage später nur mit Mühen entziffern kann.

So wenig also gehört meine Handschrift zu mir – streng genommen dürfte ich gar nicht „meine Handschrift“ sagen. Vielmehr scheint sie Produkt von etwas anderem zu sein. Die Striche und Zacken in der Schrift folgen keiner Regel, beim Schreiben nehme ich wahr, wie sehr mir die Konturen entgleiten, als hätten sie ein Eigenleben.
Ich stellte fest, dass die Notizen, die ich mir mache, „raus“ aufs Papier müssen, zu welchem Preis auch immer. Mich leitet das Bedürfnis, schnell Dinge zu Papier zu bringen. So als würde ich sie in zehn Sekunden vergessen haben..
Das bringt mich zu der Frage, ob ich verlernt habe, bewusst beim Schreiben zu bleiben, oder ob ich wie ferngesteuert einem Impuls erliege, alles möglichst schnell aufs Papier zu bekommen. Kann man Handschrift als reine Funktion sehen wie beispielsweise das Tippen auf der Tastatur? Das sicher schneller geht und sich nicht um Form und Ästhetik schert?

Doch Handschrift – da drängt sich etwas hinein. Persönliche Note oder ihr Fehlen. Ein Zwang zu etwas oder ein Fehlen von Zwang.
Ich weiß es nicht.
Hin und wieder übe ich das Schreiben – gar nicht einmal das Schönschreiben, sondern einfach nur das banale Deutlichschreiben. Selbst das ist fast unmöglich. Ein Verlust, ohne Frage. Und die Sorge, tatsächlich etwas verlernt oder gar verloren zu haben: Eine Fertigkeit, oder gar ein Bewusstsein? Das eine wäre traurig, das andere tragisch.
So oder so: Ich muss wohl sagen Goodbye, Handschrift.

Schreiben und Werkzeuge

Wie den neuen Roman schreiben? Die Frage klingt einfacher, als sie ist – und eben das ist das Absurde an ihr. Denn ich stelle mir derzeit diese Frage eher mit dem Blick auf das ideale Tool. Da haben wir das absurde Wort: Tool. Mit dem Schreiben verhält es sich normalerweise so: Man hat einen Stoff und man schreibt. Mit der Tastatur, der Schreibmaschine, der Hand. In der Regel sind dies einfache Entscheidungen. Die Wahl eines Textverarbeitungsprogramms stellt sich noch. Aber auch dies ist eher kein Hindernis für das Schreiben an sich, und mal ehrlich, wir wollen doch genau das: Schreiben. Arbeiten mit Stoffen, Motiven, Charakteren. An Techniken des Schreibens feilen.

Und jetzt? Stolperte ich über die Frage, ob ein Programm wie Scrivener etwas für mich sei. Man liest ja viel darüber. Und ja, es klingt schon gut, so professionell. Was man damit alles tun kann. Eine Gratis-Testversion ist zudem auch nicht weit.

Womit ich zu meiner Frage komme: Ist es nicht lästig, sich damit zu befassen, mit welchem Programm man schreibt? Hindert es nicht am eigentlichen Schreiben, am eigentlichen Erarbeiten einer Story, eines Inhalts?

Nichts gegen Scrivener, auch wenn ich es letztlich nicht verwenden werde. Aber ich spürte recht schnell, dass mich das Beschäftigen mit dem Tool vom Eigentlichen ablenkte, dass sich mein Fokus verschob weg vom Schreiben hin zum Bedienen – und gibt es nichts Unmündigeres, Schlimmeres, als lediglich ein Bediener von etwas zu sein?

Während ich mich also mit Scrivener zu beschäftigen begann und ich mich durchklickte, im Internet nach deutschsprachigen Anleitungen suchte (fast hätte ich wie selbstverständlich „Tutorials“ geschrieben) und versuchte, mich einzufinden, stellte ich für mich fest: Nein. Nein, ich will das nicht. Es war und ist mir zu umständlich, mich mit einem Instrument zu beschäftigen. Ich wollte all die Dinge auch gar nicht lesen, die andere über das Programm geschrieben haben. Keine Hinweise suchen, dass und ob und wie das Programm für mich sinnvoll sein könnte.

Noch etwas fiel mir auf: Wie sehr und wie viel mittlerweile darüber geschrieben wird, wie man ein Programm ZUM Schreiben bedient. Statt darüber zu schreiben WIE man SCHREIBT. Vieles liest sich mittlerweile nur noch wie technische Beschreibungen von etwas, von dem ich das dumpfe Gefühl habe, dass es mit dem Schreiben an sich gar nichts zu tun hat.

Was mich zur Frage brachte: Muss man denn eigentlich zwangsläufig hinterfragen, ob die Art und das Programm, mit der und mit dem man arbeitet, überhaupt heutzutage noch zeitgemäß ist? Muss man sich hinterfragen, ob man nicht doch einmal etwas Neues ausprobieren sollte? Und zuletzt: Muss man das Gefühl haben, dass ein anderes, neues, professionelles Werkzeug aus einem einen besseren Schreiber macht und bessere Texte ermöglicht? 
Dann ist doch das Hinterherjagen danach eher eine Illusion, eine Kanalisierung der Beschäftigung damit, wie man sich selbst als Schreiber wahrnimmt und wie man zu seinen Texten und seiner Arbeit damit steht. Es wäre doch ein Irrglaube, dass ein Programm uns besser macht, und was soll überhaupt dieser Wesenszug, sich immer nicht nur zu hinterfragen, sondern wie selbstverständlich als unkomplett anzusehen und uns deshalb auf die Suche nach etwas zu begeben, was uns besser, klüger, kurz: kompletter macht?

Ganz sicher mag Scrivener ein ausgezeichnetes Werkzeug sein, das auch berechtigterweise viele Anwender gefunden hat. Dennoch steht die Frage im Raum, ob die generelle Auseinandersetzung mit neuen Tools nicht eher das eigentlich Schreiben stört, weil es ablenkt und Energie auf ein dumpfes Bedienen von etwas lenkt. Und ob es letztlich nützt. Zum Schluss bleibt nur die Antwort, die man für sich selbst findet, und ich habe meine gefunden. Sie lautet ganz einfach: Nein.

Die Hallo I Briefe

Hallo I - www.oliverkoch.net  Irgendwann 2014 begann ich damit, Briefe an eine fiktive Person namens „I“ zu schreiben. Dieses Initial hat eine Bewandtnis: Das I steht sowohl für „Ideal“ als auch für „Instanz“. Hintergrund war, viele dieser Briefe per Hand mit Füller zu schreiben, um durch diese Kultivierung des Schreibens eine andere Form des Denkens wieder zu entdecken und damit Keep Reading

Die 10 wichtigsten Bücher, Platz 10: „Accelerando“ von Charles Stross

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Top 10 Bücher Platz 10: AccelerandoScience Fiction ist ideales Terrain für Gedankenspiele, wohin sich die Menschheit entwickelt, und welche Folgen dies haben wird. Charles Stross geht in seinem Buch in diesem Punkt mächtig zur Sache und spinnt eine Welt, an deren Anfang wir tatsächlich stehen könnten. Stross ist ein Denker unter den SF-Autoren, mehr noch, ein Weiterdenker. Er ist in der Lage, Keep Reading