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Der Wind von Irgendwo – Kapitel 9: Am Feuer komplett lesen

Mystery-Roman von Oliver Koch

Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 8 lesen

Der Abend brach mit einem blutroten Sonnenuntergang an. Die untergehende Sonne ließ die Zwischenwesen aus den Schatten erschienen, die immer größer wurden, je tiefer die Sonne sank. Sie zündeten ein Feuer an und es war in der hereinbrechenden Nacht wie eine Insel in allumfassender Verlorenheit, um die sie saßen wie und nicht mehr weiter wussten.
»Ich habe meine Frau, meine Kinder, und eigentlich bin ich glücklich«, sagte ein Mann am Feuer, und alle lauschten seinen Worten, die das Knacken des Holzes übertönten, und alle, wirklich alle hatten sich versammelt. Dieses Feuer war zu wichtig, um ignoriert zu werden. Der Mann sprach weiter, während alle wie betäubt ins Feuer blickten: »Ich bestelle meine Felder wie alle anderen auch. Ich mache all das, was alle anderen auch tun, und das Zeit meines Lebens. Hat es mir geschadet? Nein. Ich bin glücklich. Ich habe alles, was man zum Leben braucht. Wir haben gefüllte Speicher, wir haben Scheunenböden mit Räucherfleisch, dass wir lange Zeit davon essen können. Wir haben nichts zu befürchten.«
In der einkehrenden Pause flüsterte nur das Feuer. »Und doch bin ich nun nicht mehr so glücklich wie sonst«, sprach er weiter, und seine Worte fraßen sich durch das Menschenrund.. »Wir bestellen noch immer die Felder, versorgen noch immer die Tiere und tun noch immer genau das, was wir schon immer taten, und was unsere Eltern und deren Eltern taten. Und doch ist es nun anders.«
»Wir sind nicht mehr glücklich«, meinte jemand.
»Und warum sind wir nicht mehr glücklich? Weil etwas auf uns zukommt. Weil sich etwas nähert.«
»Ich spüre etwas von Irgendwo.«
»Und was ist es?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
»Aber ich weiß es«, ertönte da plötzlich eine Stimme, und alle schraken auf. Aus der Dunkelheit schälte sich die Figur Tiratas aus der Dunkelheit wie aus einem Vorhang auf die Bühne des Geschehens, und die Herzen aller Anwesenden – einschließlich Jessicas – blieben kurz stehen.
Tirata gesellte sich zu ihnen, und man rückte aus Angst näher zusammen, um ihr Platz zu machen. Sie setzte sich wie alle anderen auf den Boden und reihte sich ein in das Menschenrund. Alle Augen waren auf sie gerichtet und niemand wagte es zu fassen, dass Tirata, die Wahrsagerin, in ihrem Kreise saß wie alle anderen. 
»Neue Zeiten brechen an, in der Tat«, begann Tirata mit erhobener Stimme, auf dass jeder sie verstand. »Warum sie nun gerade kommen, vermag ich nicht zu deuten, aber dass sie kommen, das ist sicher.«
»Aber was ist es?«, fragte Morkus. »Ist es der Mann aus der Höhle, der in meinem Buch ist?«
Tirata blickte in die Runde und sah die betäubten Blicke, die versteinerten Gesichter und die ins Leere laufenden Gedanken und sprach: »Das Neue ist immer wie der Wind, der über das Land zieht. Unvermittelt setzt er ein, und niemand weiß genau, aus welcher Richtung er genau kommt. Ein Wind kann unterschiedlich sei: er kann leicht über das Land gleiten und Erfrischung bringen. Er kann Kälte bringen, er kann stark sein und Bäume entwurzeln. Die Gräser machen es uns vor: sie neigen sich mit dem Wind, die bieten ihm nicht die Stirn. Sie lassen sich beugen.«
»Aber warum will uns der Wind beugen?«
»Weil es wohl an der Zeit ist. Er kommt einfach und geht wieder. Er sucht sich keinen bestimmten Zeitpunkt aus.«
»Aber warum verschont er uns nicht?«
»Warum sollte er? Warum sollte uns dieser Wind verschonen?«
»Warum nicht? Bisher hat uns dieser seltsame Wind doch auch verschont.«
»Ich sagte doch, dass er kommt, wann er will, und nun ist es an der Zeit. Und wir sollten wie die Gräser sein.«
»Ich will mich nicht beugen. Und vor was? Was bringt uns dieser Wind?«
»Auch das sagte ich schon.« Tiratas Worte ließen das Menschenrund zusammenrücken. »Veränderung. Neues. Es muss einfach so sein. Es kommt einfach grundlegend Neues.«
»Woher kommt dieser Wind?«, fragte der alter Mann.
»Wie du es schon eben gesagt hast. Von Irgendwo. Von Ich-weiß-es-nicht. Aber von irgendwo kommt er.«
»Wer schickt ihn?«
»Jemand. Etwas. Vielleicht erfahren wir es, wenn er kommt oder über uns hinweggegangen ist.«
»Kommt er aus der Corrin-Höhle?«
»Vielleicht kommt der Wind, um euch hereinzublasen.« Das blanke Entsetzen jagte durch den Kreis. »Ich habe von Morkus‘ Buch gehört. Und ich weiß auch von dem Gedanken, in die Corrin-Höhle gehen zu wollen. Vielleicht will das der Wind.«
»Warum sollte er das wollen?«
»Damit ihr es selbst herausfindet, was in ihr ist.«
»Es kann doch sein, dass dort dieser Mann ist, der uns Gutes tun will«, meinte Morkus schnell. »Und wenn nicht der Mann, dann Etwas, das so ist wie der Mann.«
»Aber das ist eine heikle Sache«, widersprach der alte Mann. »Seit ich zurückdenken kann, hat sich niemand von uns auch nur in die Nähe der Höhle getraut. Und ich habe nie gehört, dass irgend jemand es außer den Wahrsagerinnen versucht hat.«
Tirata ergriff das Wort. »Und warum hat es niemals jemand gewagt? Was meint ihr, dort zu finden, ginget ihr hinein?«
»Böses«, antwortete der Mann aus tiefster Überzeugung.
»Und dieses Böse«, meinte Tirata, während sie ihn mit funkelnden Augen anblickte, »hat welche Gestalt deiner Meinung nach?«
»Ich bin nie dort gewesen und habe es deshalb nie gesehen, und bei allen Mächten, ich möchte verdammt sein, wenn ich es sehen wollte.«
»Verdammt seid ihr ohnehin schon, sonst wäret ihr nicht dort, wo ihr jetzt seid: kauernd und ängstlich um ein Feuer sitzend und sich den Kopf darüber zerbrechend, was Furchtbares und Unaussprechliches in diesem tiefen Loch im Berg ist. Wäret ihr nicht verdammt, wüsstest ihr schon längst, woran ihr wäret.«
»Willst du uns etwa vorwerfen, dass wir feige sind?«, wollte der alte Mann von Tirata wissen. »Dass wir all die Jahre über zu feige gewesen sind, um in die Corrin-Höhle zu gehen?«
Tirata sah in die Runde und sah die fragenden Blicke. »Nun, jeder ist für sich selbst verantwortlich, nicht? Warum seid ihr nicht gegangen? Habe ich jemals gesagt, dass ihr es nicht dürftet? Habe ich euch jemals gesagt, dass euch Schlimmes darin erwartet? Ich habe nur gesagt, dass dort viele Geheimnisse lauern. Wenn ihr meint, den Geheimnissen entkommen zu wollen, so ist das eure Entscheidung und die Konsequenzen euer Problem. Ich bin nur zur Erklärung der Bilder hier, die ihr seht. Ginget ihr in die Höhle, sähet ihr Fremdes, und es dürfte euch fürchten, weil es euch zeigen wird, wer ihr seid und was ihr seid.«
»Willst du uns jetzt locken? Willst du, dass wir darin sterben? Dass wir aufgefressen werden von den Monstern, die darin lauern, und mit denen du einen Bund geschlossen hast?«
»Ihr werdet dort nicht gefressen werden, und von Monstren weiß ich nichts. Ich weiß nur, dass etwas kommen wird, und ich weiß auch, was einst gekommen war. Ihr – ihr seid nichts. Ihr kennt eure Namen und die aller im Dorf, und ihr kennt eure Furcht, aber vor was ihr euch fürchtet, das wisst ihr nicht. Und ich stehe mit niemandem im Bunde, ihr Verrückten. Wahrscheinlich war es bisher immer besser, dass euch das vorenthalten geblieben ist, was sich um euch befindet, aber nun, da es wohl an der Zeit zu sein scheint, dass es sich euch offenbart, meine ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, es würde sich nicht zeigen, es würde nicht kommen. Ihr verdient vielleicht keinen Wind. So bleibt nur sitzen und fürchtet euch weiter. Aber nehmt euch ein Beispiel an dem Kind Jessica, die mutig ist, die wissbegierig ist, und die, wenn ihr so weiter bleibt, meine Nachfolgerin sein wird.«
Lorn schnürte es die Kehle zu, wie auch seiner Frau, die beide sich beide vorstellen wie ihre Tochter erst in Scherben fiel, um dann von einer Dämonin zu etwas Fremdartigen wieder zusammengesetzt zu werden, das nichts mehr mit dem gemein hatte, was sie einmal gewesen war.
»Der Zahn der Zeit nagt an euch. Und der Wind von Irgendwo, er kommt, ob ihr wollt oder nicht. Er ist schon da, Ihr spürt schon seine Vorboten. Ihr könnt euch nicht dagegen wehren.« So ging Tirata wieder ins Dunkel und ließ die Menschen allein am Feuer, das immer kleiner wurde, je weiter sie sich von ihm entfernte. Die Dunkelheit um sie herum schien immer größer und allumfassender zu werden.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, und alle gingen in die selbe Richtung. Sie alle sahen einen Wind von Irgendwo auf sich zukommen, und die Gräser und Bäume neigten sich unter ihm. Dieser Wind war für sie so entsetzlich, dass er alles mitriss in diesen Gedankenbildern, auch ihre Kinder riss er mit, auf dass sie panisch schreiend für immer verschwanden. In ihren Gedanken wallte um ihre kleine Welt ein Ozean aus schwarzem Pech, der an die Rückseiten der Berge brandete und alles unter sich begrub, und den man erst sehen konnte, wenn man weit genug vom Dorf fortging. Sie sahen sich als Insassen auf einem schwankenden Floß, das auf einem unbeständigen, riesigen Wasser allen Stürmen und Gezeiten ausgesetzt war. Der Wind: würde er doch fortbleiben!
Würde dieser Wind doch im unbestimmten Irgendwo im seligen Nichts verlaufen!
Ihre Welt, ihre kleine Welt, die nun nichts war außer dem orangener Schein ihres Feuers: sie bot keinen Schutz mehr. Ein Wind konnte ihre Häuser niederreißen, ihre Tiere fortwehen, ihre Getreidespeicher zerstören und die Ernten vernichten. 
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, flüsterte einer.
»Und er wird hinter uns her rennen«, meinte ein anderer.
»Und er wird uns ein Loch in unser Leben blasen«, schloss ein Dritter.
Und sie alle wussten, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten.
»Vielleicht hat Tirata recht«, sagte Morkus. »Es kann doch nichts Schlimmes daran sein, in die Höhle zu gehen. Tirata hat nicht gesagt, dass dort tatsächlich etwas Schlimmes ist.«
»Und wenn doch?«
»Dann werden wir es sehen. Es kommt doch sowieso.«
Schweigen trat ein, und wieder flogen die Gedanken der Menschen wie die Funken des Feuers.
Hinauf in die Höhen, hinauf in die Sphären, in die selten ein Mensch sich vorgewagt hatte. Sie stiegen auf in Höhen, die sie nur von Erzählungen her kannten, und sie waren wie die Feuerfunken, die der Wind mit sich trug, mit sich trug zu fernen Dingen, und sie sahen vor ihren Augen Häuser, die es nicht gab oder doch irgendwann einmal gegeben hatte, und sie begannen sich zu fragen, wer wohl, was wohl diese Häuser errichtet haben mochte und wer wohl darin gewohnt hatte oder gar noch wohnte. Und wo dieses Irgendwo, sofern es existierte, wohl war; jedenfalls nicht bei ihnen im Dorf, das wussten sie alle. Sie wurden alle zu Funken, die der Mensch mit sich trug, und sie sahen auf die Corrin-Höhle hinab und taten so, als wären sie schon darin gewesen und stellten fest, wie stolz sie sich fühlten, wie gut und überlegen. Ja, vielleicht gab es Anderes, und sie stiegen höher und höher, hinauf in die Höhen, in die der Wind von Irgendwo sie trug, und sie alle blickten über die Berge hinweg und sahen den großen Wind von Irgendwo kommen, sie alle sahen ihn kommen.
»Der Wind von Irgendwo wird kommen«, meinte der alte Mann.
»Nein«, widersprach jemand, »er ist schon da. Er ist schon dabei, uns ein Loch in unser Leben zu blasen.«
»Ist es denn einfach ein Loch? Wird es nicht gestopft durch die Dinge, die der Wind mit sich trägt?«
»Wie auch immer. Wir können uns nicht wehren.«
»Werden wir also wie Gras.«
»Beugen wir uns.«
»Hinein in die Höhle.«
»Wer weiß, was uns Neues offenbart wird.«
»Denn ob wir wollen oder nicht – kommen wird er so oder so; gehen wir ihm entgegen.«

Ende des 9. Kapitels – Der Wind von Irgendwo geht weiter mit Kapitel 10: Beginn einer Odyssee

5 Comments

  1. Shakespear schrieb „Much adoe about Nothing“
    Hier ist es nicht das Nichts, um das sich im Dorf alles dreht. Nein, der Wind macht allen Sorgen.
    Während sich das Dorf ums Lagerfeuer versammelt, klärt Tirata die Menge auf. Sagt sie die Wahrheit? Welchen Plan verfolgt sie?
    Ihr Ziel wird sie erreichen, da bin ich sicher.
    Ob es so ist, erfahre ich erst nächsten Sonntag.

    Weiter so, Oliver. Ich mag Dein Buch.

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