Mystery-Roman von Oliver Koch
Der Wind von Irgendwo von Anfang an lesen
Erst Kapitel 13 lesen
Der nasse Boden unter ihren Füßen gab schmatzende Geräusche von sich, als Jessica neben Tirata Richtung Berge ging. »Wo gehen wir denn hin?«, hatte Jessica wissen wollen, als Tirata ihr morgens eröffnet hatte, dass sie heute etwas Außergewöhnliches sehen sollte. »Was du sehen wirst wird dich klarer sehen lassen«, hatte Tirata gemeint. »Und es ist ein Geheimnis. Du wirst es sehen.«
»Wo ist denn dieses Geheimnis?«, hatte Jessica gefragt.
»Es ist ein weiter Gang, ein Gang in die Vergangenheit.«
»In die Vergangenheit? Wo liegt die?«
Tirata hatte sie lange und seltsam angesehen. »Weit fort von uns. Hinter den Bergen, da, wo wir nicht mehr hinsehen.«
»Gehen wir in die Corrin-Höhle?« Jessica wurde bei dieser Frage ganz heiß, obgleich sie ihre Neugier, gegen die Tirata so Vieles hatte, versuchte zu verbergen. Aber das hätte sie nicht tun müssen, denn Tirata schien selbst aufgeregt. »Darüber hinaus. Weiter noch. Wir werden den ganzen Tag gehen.«
Daraufhin hatten sie sich etwas zu essen bereitet, das Tirata in einen Beutel verstaute, den sie schulterte. »Komm, Kind. Du wirst in ein paar Stunden deinen Augen nicht mehr trauen.«
So also gingen sie zu den Bergen, zu denen auch die Männer des Dorfs aufbrechen würden. Es war noch so früh am Morgen, dass noch niemand außer Tirata und Jessica zum Aufbrechen bereit war. Das Dorf war erstarrt vor Angst und Wut und Willensstärke. Sie wollten alle endlich ihrer Angst ins Auge blicken und sie vernichten, wenn sie konnten. Bald würden auch sie losziehen.
»Der Wind vor Irgendwo reißt euch mit«, hatte Tirata gestern am Feuer zu den Menschen noch gesagt, als sie, gelähmt vor Schock, in ihrem Rund gesessen hatten, die Gesichter orangefarben und flackernd. »Der Wind ist der Lauf der Dinge auf der Welt. Wenn er kommt, verändert er die Dinge. Er erneuert, er reinigt.«
»Aber«, war es leise aus dem Rund gekommen, aus einem Mund, der in dem dazugehörigen orangefarbenen Gesicht wie die Corrin-Höhle wirkte, »wohin wird er uns treiben?«
»In eine neue Richtung.«
»Und wird sie gut sein?«
»Das kommt darauf an, wie ihr eure Situation meistert.«
Tirata hatte lange mit im Rund gesessen und Worte zu Tsams Tod gesprochen. Mark hatte in Gedanken versunken dagesessen und sich vorgestellt, auf diese Levitation in der Corrin-Höhle zu treffen und sie zu töten. Ja, man würde am nächsten Morgen aufbrechen und dem Unbekannten in die Augen blicken, was oder wer immer es sei.
»Dieser Ort ist kein guter Ort mehr«, hatte Morkus gesagt, und jeder im Dorf hatte schweigend genickt. Das Feuer hatte geknackt und Funken in den Himmel geschossen, denen die nachsahen und sich wünschten, sie zu sein.
»Wir müssen fort von diesem Ort.« Jeder hatte genickt. Dieser Ort war ihnen nicht mehr wohlgesonnen. »Wenn es etwas Böses gibt, dann ist es hier. Wir versuchen es zu töten und gehen dann fort von hier.«
Alle nickten einhellig, stumm und so langsam, als wären ihre Köpfe riesige Steine, die auf einer Klippe stehen und, vom Wind in Schwingung versetzt, einen Berg hinunterzurollen drohten.
Tirata hatte Triumph verspürt und sich in ihr Haus zurückgezogen.
Nun schritt sie neben Jessica, die es kaum erwarten konnte, das Unbekannte, das Andere zu sehen, das ihren Horizont erweitern sollte. Sie konnte es kaum erwarten, in die Vergangenheit zu gehen.
Der Morgen war wundervoll. Der Himmel wurde immer strahlender, und es würde ein heißer Tag werden. Dieser Sonnenaufgang hatte etwas ganz Besonderes. Jessica hatte die Welt noch nie so früh in diesem Licht gesehen. Ein Sonnenaufgang wie dieser war ein Ereignis, das sie noch nie bemerkt hatte. In diesem Licht nun schien ihr die Welt wie ungeboren.
Etwas regte sich in ihr, das sie zum Nachdenken brachte: so lange sie zurückdenken konnte, war es immer so gewesen, dass morgens der Tag und abends die Nacht kam. Dunkelheit folgte Helligkeit, Helligkeit folgte Dunkelheit. Kälte folgte Hitze, Hitze folgte Kälte, Trockenheit folgte Nässe und Nässe folgte Trockenheit – ein einziger riesiger ewiger Zyklus. Was kam, das kam, und was ging, das ging, ganz so, als sei alles diesen Dingen selbst überlassen, und als sei der Mensch dem unterworfen, was ihn umgab.
Nun jedoch kam Jessica der Einfall, dass all diese Annahmen falsch sein konnten. Wenn das ging, was ging, weil etwas anderes kam, dann musste dies aufgrund der Regelmäßigkeit, mit der dies geschah, einen Grund haben. Und so fragte sie Tirata danach, während sie weitergingen, immer weiter auf die Berge zu, immer weiter in Richtung dessen, woher alles gekommen war, wo alles begonnen hatte.
Als Lorn in Marks Zimmer trat, war dieser schon wach. Mit offenen Augen starrte er an die im frühen Tageslicht noch düstere Decke über ihm, die ihm den Blick auf die Sterne verwehrte. Die ganze Nacht über hatte er seine Gedanken kreisen lassen, und er hatte sich in die Corrin-Höhle geträumt. Wenn man von der Corrin-Höhle träumte, dann waren dies schreckliche Alpträume. Dann erwachte man schweißgebadet aus dem Schlaf, weil man gefangen gewesen war in einer sinistren Grotte mit fürchterlichen Kreaturen jenseits aller Begriffe. Man wurde von ihnen zerhackt, gefoltert auf eine Weise, die sich der Phantasie entzog. Man wurde von ihnen nicht einfach gefressen, wie dies Tiere mit anderen Tieren taten, sondern man wurde ausgesogen, entleert, einer Sache beraubt, die den Menschen des Dorfs sehr wichtig war; gleichwohl sie sie nicht in Worte fassen konnten.
Ausgesogen …
… auf dass man zurückblieb wie eine alte, abgestreifte Haut einer gewachsenen Schlange.
Aber in dieser Nacht hatte Mark sich im Traum in der von allen in allen Zeiten so gefürchteten Corrin-Höhle befunden und war mit Entschlossenheit, mit Stolz und mit Rache hineingegangen, um Rechenschaft von denen zu verlangen, die Tsam auf dem Gewissen hatten. Um Rechenschaft dafür zu verlangen, warum man wollte, dass die Menschen das Dorf verließen.
Wem oder was sie gegenübertreten sollten, wusste er nicht, denn er hatte in seinem Traum mit offenen Augen nichts sehen können. Aber er hatte keine Todesangst gehabt, die ihn davon abgehalten hatte, in die Höhle zu steigen.
Lorns Stimme kam gedämpft leise zu ihm herüber, als hätte Mark die Worte mehr gedacht als gehört: »Mark, wach auf. Wir brechen gleich auf.« Er klang wie das Rauschen des Windes um Tiratas Haus, nicht so entschlossen wie von einem Mann, der sich voller Überzeugung aufmacht. »Hast du deine Sachen auf den Wagen geladen?«
»Ja«, erwiderte Mark mit auf die Decke gerichtetem Blick, und im diffusen Licht des jungen Morgens sah Lorn Marks Augen von Tränen aufblitzen. »Unser Leben ist zu kurz, viel zu kurz. Und wie haben es es in gewisser Hinsicht vergeudet.«
Mark war der selben Meinung. Er wusste, dass dies die letzte Nacht in diesem Haus gewesen war. Wenn sie aus der Höhle zurückkehren sollten, dann wurden sie von den Zurückgebliebenen des Dorfes erwartet, auf dass sie sich aufmachen konnten, um dem Dorf mit allen Tieren und Geräten den Rücken zu kehren.
Mark hatte sich noch nie so leer und ausgesogen gefühlt. Sein Freund war tot, das Dorf wurde verlassen. Und gleichzeitig machten sie sich auf, dem Unbekannten zu begegnen. Wenn sie dem Großen Schrecklichen persönlich begegnen sollten, so waren die bereit, ihm gegenüberzutreten. Mark fragte mit einer Stimme sanft wie rauschender Wind: »Tun wir es nur deshalb, weil wir hier nichts mehr haben?«
Wäre es heller gewesen und hätte Mark von seinem Vater mehr gesehen als nur einen dunklen Schatten in der Türöffnung, hätte er ihn nicken sehen können. »Es ist alles so endgültig. Wir neigen uns jetzt vor dem Wind von Irgendwo. In gewisser Weise sind wir tot. Wir haben unseren Frieden verloren, unser Dorf, und du deine Schwester und deinen Freund. Ich habe eine Tochter verloren. Der Wind von Irgendwo hat uns, jedem von uns, ein Loch in unser Leben geblasen. Und nun müssen wir versuchen, dorthin zu gehen, wo der Wind von Irgendwo das, was er uns aus dem Leben geblasen hat, fallengelassen hat.«
»Auf der Suche nach einem neuen Frieden?«
»Und auf der Suche nach einem neuen Leben.«
Viele Fragen stellten sich Jessica, und das Merkwürdigste an allem war, warum niemand schon vorher diese Fragen gestellt hatte. War sie denn neben Tirata die erste im Dorf, der diese Fragen kamen? Aber sie erinnerte sich an die Worte Tiratas, als sie ihr erklärt hatte, dass dies nicht so sein konnte. Jeder Mensch im Dorf hatte sich hin und wieder eine oder mehrere dieser Fragen gestellt, aber woher sollte man die Antwort nehmen? »Alles, was man nicht wusste, schrieb man mir zu, dass ich es wusste«, hatte Tirata ihr zur Antwort gegeben, als es dunkel geworden war und Jessica gebannt den Worten gelauscht hatte. »Und alles, was ich wusste und die anderen nicht, war für sie wie etwas Verbotenes. Man sagte einfach, dass es mit der Corrin-Höhle zu tun hätte und meinte, nur ich könnte darüber Bescheid wissen, weil die Geister in der Höhle nur mir all die Geheimnisse gesagt hätten.«
Jessica hatte nicht verstanden und gefragt: »Sind denn all diese Sachen und Fragen verboten? Sind denn Geister in der Corrin-Höhle? Und sprechen sie zu dir?«
»Diese Geheimnisse sind so selbstverständlich wie das Fragen nach dem Wohlbefinden. Nein, diese Fragen sind weder verboten noch sind die Geheimnisse.«
»Aber warum wird dann gesagt, dass sie es wären? Und warum sagst du es immer?«
»Ich sage es nicht. Ich habe es nie gesagt. Aber wie kann ich erklären, was die Menschen nicht begreifen können?«»Warum können sie nicht begreifen?«
»Weil sie den Mut und das Wissen vergessen haben, um begreifen zu können. Weil sie alles verdrängt haben.«
»Was haben sie verdrängt?«
»Du wirst es sehen.«
Auf dem Weg zu dem, was sie sehen sollte, waren sie nun.
Sie gingen schweigend nebeneinander her, von der weiten Landschaft umgeben, durch die der Wind strich. Jessica war ganz versunken in Fragen über Fragen. Tirata hatte so viel getan, was sie nicht hatte deuten können. Tirata hatte über so viele Dinge gesprochen, die Jessica nicht verstanden hatte. Wie oft hatte Tirata schon von den »anderen« gesprochen, von den »Augen«. Wie oft schon hatte Tirata Jessica das Fürchten gelehrt auf eine Weise, die keine echte Panik hatte gedeihen lassen, sondern Zweifel an den Dingen, von denen man der Überzeugung war, sie tun zu müssen?
So konnte Jessica ein gewisses Entsetzen nicht verleugnen, als Tirata sich eines nachts aufgemacht hatte, um einige Tiere auf den Weiden zu töten. Sie hatte Jessica davon berichtet und war gegangen, als sie schlief. Es war eine Sünde, ein Verbrechen an dem Dorf und an dem gesamten Leben, Tiere mutwillig zu töten, ohne sie zu essen oder ihre Felle benutzen zu müssen. Jessica hatte den Sinn nicht verstanden, den Tirata hinter der aus ihrer Sicht bösen Absicht gesehen hatte. Jessica hatte es nicht verstehen können, als Tirata gesagt hatte, es ginge darum, die allseits bestehende Angst im Dorf dahingehend zu schüren, dass Hass entstand, der der Neugierde diente. Jessica hatte es nicht verstanden, dass diese Tat dazu beitragen sollte, dass die Menschen gezwungen werden sollten, dem Unheimlichen in der Corrin-Höhle in die Augen blicken zu wollen. »Es wird mir keine Freude machen, die Tiere zu töten. Aber die Angst wird sie plagen, und sie werden sie überwinden wollen.« Hier hatten Jessica erstmals Zweifel geplagt, ob es richtig war, sich auf Tirata einzulassen. Wenn Tirata auch einen Sinn verfolgen mochte, so konnte Jessica ihn nicht verstehen »Du wirst es eines Tages begreifen«; hatte Tirata ihr gesagt. »Keine Sorge, du wirst es verstehen. Was ich nun tun muss, ist wichtig. Der Zeitpunkt ist gekommen.«
Das überzeugte Jessica zunächst. Doch als dann die Tiere tatsächlich am nächsten Morgen abgeschlachtet auf den Weiden gelegen hatten, hatte Tirata draußen gesessen und in den Wind hineingesagt: »Der Wind von Irgendwo ist da. Und er reißt sie mit. Niemand kann ihn jetzt noch aufhalten.« Und Jessica hatte sich gefürchtet.
Im Dorf war es still, denn sie standen schweigend vor ihren Häusern, die sie nun für immer verlassen würden, und warteten auf den Aufbruch.
Die Schatten warfen sich wie Sklaven zu Boden und verrenkten sich bis zur Unkenntlichkeit, alle Wagen und Fuhrwerke standen mit allen Habseligkeiten bepackt in einer langen Reihe. Kisten und Stoffrollen lagen darauf, mit Seilen und Tierdärmen zusammengehalten. In den Häusern gab es nichts mehr, was sie hier noch hielt, kein Ding, kein Traum, keine Vorstellung. Tirata hatte ihnen geraten, sich dem Wind von Irgendwo zu beugen, und genau das würden sie nun tun. Diese Endgültigkeit ängstigte nicht wenige – nicht jeder wollte in den Horizont blicken oder sich vorstellen, dass dort hinten etwas Neues auf sie warten mochte. Dass sie gehen würden, weit über die Grenze ihrer Felder und den alles umschließenden Wiesen und Weiden hinaus.
Auch wenn sie keine Vorstellung davon hatten, was kommen würde, so konnte es nicht mehr schlimmer kommen als das, was sie im Dorf erwarten würde, wenn sie blieben. Immerhin blieb ihnen nun die Hoffnung, dass Maraim oder das, was statt seiner bösartig darauf wartete, zuzuschlagen, besiegt werden könnte.
Es waren zwölf Männer, die zuvor in die Corrin-Höhle ziehen wollten, um sich dem Schrecken zu stellen. Sollten sie sterben, dann war dies der Preis, den zu zahlen sie bereit waren. Kämen sie nicht zurück, so würde man ohne sie weiter ziehen, hoffend, dass das Böse ihnen nicht folgen würde.
Diesen zwölf waren jetzt schon ewiges Andenken sicher – immerhin. Niemand würde ihre Namen vergessen und das, was sie zu tun bereit gewesen waren. Unter ihnen war auch Mark, in dessen Gesicht sich Entschlossenheit und Leere spiegelte. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, mitzugehen und notfalls sein Leben zu lassen. Er wollte allem ins Gesicht sehen, was immer sich ihm auch in den Weg stellen wollte, und niemand hasste das Dorf und die Weiden und die Bäume und die Berge so sehr wie er. Er wäre auch allein aufgebrochen, um alles hinter sich zu lassen. So war der Einzige gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Seitdem sahen ihn alle mit anderen Augen an. Sie näherten sich ihm anders, die Kinder blickten schweigend zu ihm auf, und als Morkus ihm entgegenkam, wollte der seine Hand auf Marks Schulter legen, doch hielt er inne und zog seine Hand wieder zurück.
Sein Vater Lorn wollte nicht, dass er ging, hatte schließlich sich selbst angeboten, mitzugehen, doch Marks Entschluss stand fest. »Lass mich. Du kannst mitgehen, aber du kannst mich nicht abhalten.«
»Ich kann doch deine Mutter nicht allein lassen. Sie hat doch sonst niemanden mehr.«
»Dann bleib bei ihr.«
»Und wenn du nicht zurückkehrst?«
»Dann geht ohne mich.«
»Wie sollen wir dich einfach zurücklassen?«
»Und wie soll ich einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen? Ich muss und ich werde gehen, Pepe.«
Stumm hatten sie sich angeblickt, und selbst seine Mutter konnte nicht mehr tun als sagen: »Du musst zurückkommen. Und dann mit uns weiter ziehen. Töte, was du töten musst oder bring mit, was du mitbringen musst. Aber komm zu uns zurück. Sonst haben wir beide Kinder verloren.«
Mark erwiderte nicht mehr als ein stummes Nicken.
Die zwölf sammelten sich wie auf einen unsichtbaren Wink hin und bildeten eine Traube entschlossener Männer, von denen einzig Mark keine Furcht verspürte. Er hatte eine Mistgabel und eine starke Holzlatte bei sich, an seinem Gürtel hingen zwei Messer, und über seine linke Schulter trug er einen Beutel mit faustgroßen Steinen, den er schwingen konnte, wenn es nötig war.
Die zwölf sahen sich an, nickten einander zu. Die Zeit war nun gekommen, aufzubrechen, und so zogen die zwölf los und ließen die anderen hinter sich, die ihnen schweigend hinterher blickten und nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen würden.
Marks Augen fielen sofort auf die Corrin-Höhle dort hinten, diesem Loch in den Bergen. Er musste sich nicht vornehmen, sich nicht zu seinen Eltern umzublicken – er hatte nur noch Augen für die Höhle. Maraim spukte vor seinem inneren Auge, alle möglichen Geister ohne besondere Form spukten da, er stellte sich Maraims Stimme ebenso vor wie Tiratas Lachen und ein Brüllen, das wer bislang noch nicht gehört hatte. Ihm war all dies egal, ihm war das Dorf egal. Er hatte seine Waffen und seinen Mut und seine Wut. Mehr wollte er nicht und mehr gab es für ihn nicht mehr.
Nicht lange, und er führte die zwölf an, wurde immer schneller, dass die anderen kaum Möglichkeit hatten, mit ihm Schritt zu halten. Schon keuchten die ersten und murrten die anderen, die Waffen seien zu schwer für die Geschwindigkeit, und dass sie es nicht durchhalten würden bis zur Höhle. Als jemand seinen Namen aussprach, hörte er es nicht. Als jemand seinen Namen rief, um ihn zum Innehalten zu bewegen, hörte er es nicht. Als jemand zu laufen begann, um zu ihm aufzuschließen und ihm atemlos sagte »Mark! Mach langsam, wir kommen nicht alle hinterher, so wie du gehst«, reagierte er nicht. Auch die Hand, die ihm auf die Schulter gelegt wurde, schüttelte er sie einfach ab, ohne seinen Blick zu wenden oder etwas zu erwidern.
Derweil stieg die Sonne immer höher, und langsam wurde das Dorf hinter ihm kleiner. Die anderen elf kamen überein, dass es keinen Sinn machte, ihn aufzuhalten oder ihn zu einer langsameren Gangart zu bewegen. Stattdessen griffen sie ihre Sensen, Mistgabeln und sonstige Waffen fester und bemühten sich, nicht allzu weit zurückzufallen und das Tempo zu halten. Sie lamentierten leise untereinander, dass sie zu erschöpft sein würden, wenn sie endlich zur Höhle kamen, machten sich Mut, indem sie meinten, je früher sie dem Unbekannten ins Gesicht blickten, umso besser wäre es, flüsterten, dass sie doch lieber umkehren würden und schwiegen schließlich, während der Wind um sie herum in Wellen durch die Wiesen und Weiden blies.
Bald schon hatten sie den Punkt erreicht, den noch niemand von ihnen erreicht hatte. Die Welt sah fremd aus von hier. Sie warfen verstohlene Blicke über ihre Schultern und erschraken, als sie sahen, wie weit sie sich inzwischen vom Dorf entfernt hatten. Irgendwo hinten beugten sich die Bäume um Tiratas Haus, eine Ewigkeit entfernt, der Frauenbaum zeigte als Finger zum blauen Himmel. Ferne Punkte wuchsen zu wilden Hecken und Gruppen von Büschen. Sie entdeckten einen kleinen Tümpel, von Schilf umrahmt, unentdeckt bis zu diesem Moment, und sie staunten und fürchteten sich, während die aufsteigende Hitze des Tages ihnen den Schweiß auf die Stirnen und in die Kleidung trieb.
Sie durchquerten eine Senke, die sie noch nie gesehen hatten, sie gingen an einer Furche entlang, in die sich niedriges Gebüsch duckte. Irgendwo auf ihrem Weg lagen große Steine beisammen. Sie tranken beim Gehen aus ihren Schläuchen.
Mark schritt ihnen voran, ohne die Hitze zu spüren, ohne Durst zu bekommen, ohne den Dingen, an denen sie vorbei kamen, Bedeutung beizumessen. Weit hinter ihnen, im inzwischen klein gewordenen Dorf, standen sie, bereit, sofort loszuziehen und schwiegen und schauten ihnen noch immer hinterher.
Mark sah sich zu ihnen nicht ein einziges Mal um.
Der Tag reifte heran. Die Farben der Dinge wurden voller, die Linien klarer.
Jessica war neugierig auf das, was sie sehen sollte und befürchtete insgeheim, dass es nicht so aufregend ausfallen könnte wie sie es erwartete, obgleich sie nicht im Geringsten wusste, was sie erwartete. Sie wusste lediglich, dass Tirata ihr etwas anderes zeigen wollte die Corrin-Höhle, zu der die zwölf unterwegs waren.
»Was darin ist, ist nur für die anderen von Belang«, hatte Tirata gemeint, und Jessica hatte gebeten, dennoch hineingehen zu können, und Tirata hatte daraufhin verständnisvoll genickt und gesagt: »Du würdest enttäuscht sein.« Was Jessica nicht hatte begreifen können. Warum, war es für die anderen so wichtig, wenn sie davon enttäuscht sein sollte, und auch Tirata es offenkundig für unwichtig hielt? Warum sollte das, was darin lag, das Leben der anderen verändern, nicht aber das ihre?
Ihr kam der Verdacht, dass Tirata ihr möglicherweise etwas vorenthalten wollte. Oder war etwa das, was Jessica sehen sollte, nicht für die anderen bestimmt? »Der Wind von Irgendwo wird sie in die andere Richtung treiben, fort von den Bergen«, hatte Tirata gemeint, was immer das zu bedeuten hatte.
Während sie gingen, stellte Jessica fest, dass der Wind durch die Büsche und Bäume strich und Geschichten erzählte, die sie nicht verstand. Hier waren sie mittlerweile so weit vom Dorf entfernt, wie sich sonst niemand vorher in Richtung Berge gewagt hatte, mit Ausnahme Tiratas.
Hier sprach der Wind eine andere Sprache, hier wollte es Jessica scheinen, als wüchse hier etwas anderes als in der unmittelbaren Nähe den Dorfs. Sie gingen die Berge hinauf, und anfänglich machte es keine Schwierigkeiten, die Steigung zu überwinden, aber je weiter sie gingen, um so steiler wurde es an einigen Stellen. Jessica keuchte und unterdrückte sich jegliches Jammern, auch wenn ihre Beine manchmal nicht mehr wollten. Sie wollte Tirata um keinen Preis verärgern, dafür war ihr das, was sich anbahnte, viel zu wichtig.
Und je länger sie sich in der Ferne aufhielt, ja sogar immer weiter in dieser fortbewegte, erschienen ihr die Ferne und Fremde immer weniger fremd. Aber dass hier ein Land war, das hinter den Barrieren für derer im Dorf lag, das wusste sie; und das machte alles so spannend für sie.
Irgendwo links von ihnen lag die Corrin-Höhle, und jedes Mal, wenn Jessica in die Richtung spähte und versuchte, zu erraten, wo genau sie lag, klopfte ihr Herz stärker.
Sie war sehr dankbar, wenn der Weg abflachte und normales Gehen möglich war. Sie gingen an Baumreihen entlang, die sie nur aus weiter Ferne gesehen hatte, an Wiesen vorbei, auf denen sich die Insekten wie überall tummelten; und der Wind wehte ihr Summen zu ihr, wie auch das Rascheln von Laub und Geäst.
Plötzlich hielt Tirata unter einer Baumgruppe an. Jessica kannte solche Bäume, sie wuchsen auch unweit vom Dorf.
»Es ist nicht mehr so weit«, meinte Tirata, als sie sich ins Gras setzte. »Aber machen wir eine kleine Pause, du musst ziemlich erschöpft sein.«
Jessica nickte dankbar und setzte sich ebenfalls, breitete ihre Beine aus und sah in den blauen Himmel. Sie sah Vögel daran vorbeiziehen, und sie blickte ihnen nach – wohin mochten sie fliegen? Was sollten sie sehen, wenn sie weiter dorthin flogen, wo noch kein Mensch gewesen war? Die Vögel überlegten sich nicht, warum sie so weit fort flogen, sie flogen einfach weit, weit über die Grenzen hinaus, die sich den Menschen stellten. Die Vögel konnten ihren Blick über die Berge hinaus richten, so als wäre das, was sich auch dahinter immer verbergen mochte, ihnen vertraut. Sie konnten auch über die Wälder blicken, den Fluß entlang, und nichts hielt sie auf, sie ließen sich vom Wind einfach treiben oder stemmten sich ihm spielend entgegen.
»Warum ist noch nie jemand so weit gegangen wie die Vögel fliegen?«, fragte Jessica schließlich. »Hat es uns jemand verboten?« Dabei sah sie weiter in den Himmel.
»Nein, verboten hat es ihnen niemand«, hörte sie Tirata links neben sich sagen. »Aber sie gingen trotzdem nicht.«
»Das verstehe ich nicht. Warum tun es die Vögel und nicht wir?«
»Weil die Menschen keine Vögel sind.«
»Das weiß ich. Aber warum tun sie das, was wir nicht tun? Ist es für uns gefährlich? Werden wir gefressen? Und wenn, warum dann nicht die Vögel?«
»Das einzige, das uns fressen kann, sind wir selbst. Wir gingen nicht, weil wir uns selbst fraßen. Die Vögel fliegen, weil sie es tun müssen. Weil sie nicht überlegen. Wir aber zweifeln, fürchten und zögern, und daher gingen wir nicht.«
»Was haben wir uns denn gedacht, dass wir nicht gingen?«
»Dass alles um uns gefährlich ist.«
»Ist es das denn?«
Tirata holte Luft. »Es kommt darauf an, wie du Gefährlichkeit siehst. Es gibt verschiedene Arten von Gefährlichkeiten. Wenn ein Tier aus Instinkt heraus nicht auf einen Baum klettert, dann unterlässt es das deswegen, weil es weiß, dass es hinunterfallen und sterben kann. Sein Leben ist gefährdet, also ist der Baum für das Tier in dieser Beziehung eine Gefahr für sein Leben. Wenn wir uns nicht trauen, irgendwo hinzugehen und etwas zu ergründen, dann deshalb, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie Tiere auch. Sie lernen, etwas nicht noch einmal zu versuchen, wenn es schlecht oder gefährlich für sie ist. Auch die Menschen lernen, dass wir Dinge tun sollten und andere nicht. Aber vieles von dem, was wir nicht mehr tun, gefährdet aber längst nicht unser Leben. Wir lassen es aus Bequemlichkeit, aus Furcht vor Schmerz oder Anstrengung. Wir lassen es, obwohl unser Leben nicht gefährdet ist. Die einzige Gefährdung liegt in einem Schaden, den wir nicht erleiden wollen.«
»Was hat das alles mit uns zu tun?«
»Wenn wir da bleiben, wo wir wohnen und uns nicht wagen, uns davon zu entfernen, muss etwas geschehen sein, das uns davon abhält, es zu tun, nicht wahr?«
Jessica versuchte zu folgen, überlegte eine Weile und nickte schließlich.
Tirata fuhr fort: »Das, was uns davon abhält, fortzugehen, kommt von mir und meinen Vorgängerinnen.«
Jessica sah überrascht auf. »Was habt ihr damit zu tun?«
Tirata seufzte. »Die Menschen haben Angst vor der Erkenntnis. Und manchmal ist es besser, sie in dieser Angst zu belassen und dafür auch etwas zu … – lügen. Dann nämlich, wenn man weiß, dass sich die Leute so an ihre Angst gewöhnt haben, dass sie mit der Wahrheit nicht umgehen können. Für die Wahrheit muss erst die Zeit reif sein.«
Wind strich über sie rauschend hinweg. »Und jetzt ist sie endlich gekommen. Jetzt hat alles Lügen endlich ein Ende.«
[…] einer OdysseeKapitel 11: Die Geißel der AngstKapitel 12: GewitternachtKapitel 13: Der FrauenbaumKapitel 14: Der Mut der VerzweiflungKapitel 15: Der Wind von […]