Lesbar - Eigene Stories

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Mein altes MacBook als Schreibwerkzeug

Ich habe mein altes MacBook Pro von 2012 als Schreibwerkzeug wiederentdeckt. Da es keine Sicherheitsupdates mehr für das Betriebssystem gibt, lasse ich ihn nicht mehr ins Internet und WLAN. Lange war er eine Art Musik-Server für mich, das iPad hat auch einige Arbeiten übernommen – dabei liebe ich das Schreiben auf dem MacBook sehr, es ist für mich besser als das Tippen auf dem iPad.

Außerdem: Man hat beim Schreiben Ruhe. Kein Internet, keine Ablenkung, kein Mal-eben-Schauen. Dafür müsste ich auf den Nachfolger des MacBooks ausweichen, ein Mac Mini, den ich mit einer geliebten mechanischen Tastatur benutze.

Nun steht es also wieder häufig auf meinem Schreibtisch, mein altes MacBook, und ich freue mich darüber. Ein Gerät nur zum Schreiben und sonst nichts – das ist so gesehen Luxus in einer Zeit der All-in-One-Geräte.

Wie beim Schreiben mit der Hand bin ich beim Schreiben auf dem MacBook ganz für mich, das hat Charme. Natürlich könnte ich beim Mac Mini oder anderen Geräten einfach das WLAN deaktivieren und wäre auch ganz für mich – aber ein eigenes Gerät nur zum Schreiben zu haben hat etwas Charmantes an sich. 

Ja, Texte speichere ich auf einem Stick, damit sie auf den neuen kommen – ja, ein Umweg, aber ein kleiner. Und einer, der sich lohnt, wie finde.

Ich liebe seine Tastatur, weil sie sich anfühlt, als sei sie nur für mich gemacht worden. Genau der richtige Anschlag, die richtige Höhe, die richtige Größe. Inzwischen schreibe ich viel auf dem alten Gerät, und es fühlt sich wunderbar an.

Schön.

Über meinen Abschied von Twitter oder X

Twitter und ich: Das war anfangs eine erfolgreiche Liebesgeschichte. Als es damals losging herrschte Aufbruchsstimmung. Man wollte Neues entdecken, Menschen kennenlernen, neue Möglichkeiten erkunden. Twitter war zum Start ein toller Ort. Mir brachte er viele Follower und ich glaubte eine Zeitlang, dass es meine Berufung werden könnte, das zu werden, was man heute Influencer nennt.

Das ist lange her. Inzwischen heißt Twitter X und hat einen Besitzer, den man nicht hassen sollte, weil Hass dumpf ist, und man sollte sich selbst sagen, dass man sich für Hass zu schade sei. Aber man kann ihn verachten.

Ein schrecklicher digitaler Ort war Twitter allerdings schon vor ihm. Nur: Er ist schrecklicher geworden. Und auch wenn ich schon seit Jahren meinen Bezug zu dem, was aus Twitter wurde, verloren hatte, hielt ich es lange Zeit für richtig, nicht klein beizugeben.

Ich verglich Twitter mit einem realen Ort in einer Stadt, der nach und nach weiter zur Müllhalde wurde. Lange Zeit meinte ich, es sei besser, dem Ort nicht ganz den Rücken zu kehren, denn wenn man Orte den falschen Menschen überlässt, verliert man diese Orte auf ewig.

Gegangen bin ich letztlich dennoch. Damit habe ich gegen meinen Ansatz verstoßen, Orte nicht freiwillig zu räumen, aber ich musste erkennen, dass es längst zu spät war. Noch immer tummeln sich dort gute Menschen, halten dagegen, zeigen Präsenz, bemühen sich. Letztlich aber diente mir das selbst auch als Ausrede, nicht klein beigeben zu müssen. Mein Beharren war bequemer als der entscheidende Schritt fort von dort.

Nun, da ich keinen Account mehr auf X, wie Twitter nun heißt, besitze, fühle ich mich tatsächlich besser und befreit. Ich ließ mich immer wieder dazu verleiten, dem Hass und Stumpfsinn zu folgen, der dort normaler Alltag geworden ist – und es regte mich auf, diesen Hass und Stumpfsinn zu sehen.

Womit ich wieder beim Hass bin, und warum ich der Ansicht bin, man solle sich für Hass zu schade sein: Hass ist keine Auszeichnung. Hass ist dumm, weil er allen die ominöse Erlaubnis gibt, die guten Sitten fahren zu lassen, die fadenscheinige Ausrede, warum man nun ein anderer Mensch wird, der alles Gute, alles Vernünftige fahren lässt, in der Annahme, Hass sei das einzige Mittel.

Denn ich bleibe dabei: Nein, das ist er nicht. Hass ist nicht die Lösung, Hass ist nie die Lösung. Hass ist das Ende der Zivilisiertheit, und je mehr wir uns selbst an Hass gewöhnen, umso mehr Zivilisiertheit geben wir von uns selbst ab. Wir verlieren sie nicht, sondern geben sie bereitwillig selbst ab, und als Mensch sollten wir uns sagen: Nein, ich lasse mich nicht dazu verleiten, nein, ich behalte meinen Charakter, bleibe zivilisiert.

Twitter aka X ist für mich nun also Geschichte, und siehe da: Abgesehen davon, dass ich mit meinen Posts dort ohnehin nichts und niemand mehr erreichte, weil meine Karawane längst weitergezogen war und ich wie in eine leere Halle hineinrief, findet in meinem Leben weniger Hass statt.
Der Ort in der Stadt, den ich mir stets vorgestellt habe, ist eine Müllhalde geworden, die krank macht. Und trotz all jener, die dort noch immer ernsthaft und vernünftig publizieren, ist dieser Ort genau der heruntergekommene, kaputte Ort, den man in Städten meidet, weil man weiß, dass man dort nichts Gutes mehr findet.

Twitter aka X ist für mich Geschichte und verachte den Eigentümer, verachte die dumpfen, lärmenden Pausenhofschläger, die dieses einstmals so schöne und blühende Stadtviertel für ihre Prügeleien, Streitereien und Auseinandersetzungen nutzen und damit zerstört haben.

Ich habe lange gehadert, und so stolz ich immer darauf war, mich nicht vertreiben lassen zu wollen, bin ich heilfroh darüber, es hinter mir gelassen zu haben.

Fluch und Segen der 1000-Seiten-Bücher

Da liegt wieder einer dieser Romane, die man schon wegen ihres Umfangs als Epos bezeichnen muss: 1000 Seiten und mehr sind eine Hausnummer für sich. So begeistert ich mich ihnen auch zuwende, so abgeschreckt bin ich von ihnen. Ich kann mich auf kein einziges von ihnen freuen und freue mich dann letztlich doch über sie, wenn sie mir gefallen. Manchmal ärgern sie mich auch.

Das zeigt: Zu 1000-Seitern habe ich eine innige Hassliebe. Je nach Buch überwiegt das eine oder das andere. Diese Ambivalnz hat verschiedene Gründe.

Gerade die US-amerikanischen Autorinnen und Autoren haben vielen erzählen. Das sollte man ihnen im deutschen Literaturbetrieb oft neiden: Hierzulande ist man lieber karg unterwegs, einen Roman aus Deutschland von mehr als 400, sogar 500 Seiten bekommt man selten zu Gesicht. 

In den USA hingegen kann man offenbar kaum genug von diesen dicken Werken bekommen.

Das hat zahlreiche beeindruckende Roman hervorgebracht, was man von Deutschland nicht behaupten kann.

In den USA herrscht Freude am Erzählen

In Amerika wird gerne mit beiden Händen in den Erzähltopf gegriffen und reichlich Wort auf überlebensgroße Leinwände geschleudert. Das ist eine Freude am Erzählen, die ich in deutschsprachigen Werken vermisse, und das fast ohne Ausnahme. In Amerika scheint man gern immer noch Neues, noch Weiteres hinzufügen zu wollen. Hierzulande hingegen ist man hauptsächlich damit beschäftigt, nicht absolut zwingende Worte zu streichen, um das Ganze so knapp wie möglich zu halten. 

Nun liegt also wieder eines dieser US-amerikanischen Ungetüme auf meinem Tisch. Mehr als 1000 Seiten recht dünn bedruckte Fabulierkunst, nah am und im Leben, wundervoll, beeindruckend. Und es kommt wieder einmal, wie bei mir kommen muss:

1000 Seiten, auch die wundervollsten, haben für mich einen Haken. Sie binden mich wochenlang. Wer Bücher in sich hineinfrisst und 300 Seiten in einer Nacht und 1000 locker nach Feierabend in einer Woche inklusive Wochenende schafft, ist da mir gegenüber im Vorteil.

Ich bin für dieses Netflixen von Romanen nicht geschaffen. Dafür lese zu langsam und lege zu häufig das Buch an die Seite. 200 Seiten am Tag sind für mich zwar nichts Besonderes, aber alltäglich ist es für mich auch nicht.

Beschäftigung für Wochen

Damit wird ein derartiger Ziegelstein eines 1000-Seiten-Romans für mich eine Beschäftigung für Wochen. So gerne ich auch in diese Welten eintauche, fühle ich mich dabei jedoch zu sehr von einem Roman in Beschlag genommen. Und so sehr ich Erzählung, Geschichte und Sprache auch genießen mag, wird es mir zwischen Seite 300 und 400 für gewöhnlich zu viel. Ich mache dann eine Pause, um auch andere Dinge zu lesen: Sachbücher aus verschiedenen Themengebieten vor allem, aber manchmal mogelt sich auch ein kleiner, leichter Roman dazwischen.

Anschließend kann ich wieder entspannt und interessiert zum 1000-Seite zurückkehren und ihn mit Genuss zu Ende lesen.

Natürlich gibt es Ausreißer, sowohl zum Guten wie zum Schlechten.

Es gibt die 1000-Seiten-Schmöker, die ich nicht pausieren kann oder will. Das ist für mich jedes Mal ein Glücksfall, den ich sehr zu schätzen weiß.

Und es gibt die Monumentalbücher, bei denen ich mich schon ab Seite 100 langweile und bereits bei 50 Seiten weiß, dass wir keine Freunde werden. Das sind dann solche Bücher, in denen mir alles nur künstlich aufgeblasen scheint, um auf möglichst viel Umfang zu kommen. Sie lesen sich für mich zäh und interessieren mich schnell nicht mehr. Da fallen mir leider viele Bücher aus dem phantastischen Genre ein …

Der Distelfink von Donna Tart

Von meinem aktuellen 1000-Seiten-Wälzer kann ich das glücklicherweise nicht behaupten: „Der Distelfink“ von Donna Tart ist einfach wundervoll – obwohl ich mich erst einlesen musste. Sprachlich auf höchstem Niveau, erzählt es so literarisch wie unterhaltsam eine Geschichte, die mich begeistert und eine Story, die mich wirklich interessiert.

Die Pause zwischen Seite 300 und 400 schlug bei mir aber auch hier zu. Ich las drei Wochen mehrere Bücher über Sachthemen und eine japanische Novelle. Nun bin ich aber wieder bereit, in die Welt des Distelfinks zurückzukehren. Und wenn es läuft wie immer, lese ich es von nun an auch ohne weitere Unterbrechungen zu Ende. 

Warum ich viele Texte mit der Hand schreibe

Was aussieht wie Abfall, waren einmal Originale meiner Texte. Viele meiner Texte schreibe ich zunächst per Hand mit Füller oder Bleistift auf Papier. Erst anschließend tippe ich sie ab. Dabei übernehme ich sie meist ohne Änderungen. Das Schreiben mit der Hand ist für mich etwas Besonderes. Es ist ein langsameres Schreiben. Tempo und Verwertbarkeit spielen dabei keine Rolle. Dafür konzentriere ich mich auf die Schrift selbst. Jahrzehntelang habe ich sie immer weiter verlernt,  bis mir der Verlust aufgefallen war, den es bedeutete.  Eine eigene Handschrift nicht mehr lesen zu können, kam mir seltsam vor, schließlich kam sie doch von mir. Ich hatte das Gefühl, dass da eine Verbindung unterbrochen war.

Seit Jahren schreibe ich wieder viel mit der Hand. Einerseits ist sie lesbar geworden, andererseits sogar richtig gut – wenn ich mich besonders anstrenge.

Das ist ein nennenswerter Fortschritt, den ich nie erlangt hätte, wenn ich wie all die Jahre zuvor ausschließlich auf der Tastatur geschrieben hätte.

Schrift im Allgemeinen und Handschrift im Besonderen ist vor allem eine Kulturtechnik – in einer Welt voller Technik ist die Gewichtung auf Kultur allein schon ein Wert an sich, den ich pflegen möchte.

Aber das Schreiben per Hand hat für mich noch eine andere Dimension, die sich im geschriebenen Text selbst zeigt:

Ich schreibe anders. Beim Tippen bin ich automatisch schneller mit Gedanken; und bereits schon im nächsten, während ich den vorherigen noch tippe. 

Wenn ich mit einem Stift in der Hand über einem Blatt Papier am Schreibtisch sitze, arbeite ich insgesamt langsamer. Das ist eine gute Eigenschaft, wie ich finde. Ich gehe so weit zu sagen, dass sich meine Texte unterscheiden, wenn ich sie per Hand und auf der Tastatur geschrieben habe. 

Das Handschreiben ist ein ganz besonderer Fokus. Es gibt besondere Themen, die ich in einer besonderen Stimmung nur mit der Hand schreiben möchte. Es fühlt sich anders an, es ist anders, es kommt manchmal etwas anderes dabei heraus. Das ist gut so.

Dass ich die handgeschriebenen Originale nicht aufbewahre, tut der Sache keinen Abbruch.

Die Verbindung vom Schreiben und dem Geschriebenen bleibt erhalten. Und darauf kommt es an.

Erzählung „Mach schon“ komplett im Blog lesen

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Die Welt unter ihm ist klein. Ängstlich sieht er hinab, wo sie stehen und zu ihm hinauf rufen: „Mach schon!“ 
Er will nicht, er kann nicht, aber es nicht zu tun wäre zu peinlich.
Sie blicken zu ihm hoch, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier oben friert, und der nur eines will: umkehren.
„Nun mach schon!“ rufen sie wieder. Es ist doch nicht schwer. Sagen sie da unten. 
Für ihn aber schon. Und er schämt sich dafür.
„Los jetzt! Nun mach endlich!“ 
Warum sind sie nicht einfach still, seine Freunde, die ihm dabei zusehen, wie er ängstlich am Rand des 10-Meter-Bretts steht, wo der Wind pfeift und die Welt schrecklich überschaubar ist. Um ihnen zu beweisen, kein Feigling zu sein, ist er entschlossen den Sprungturm hinauf geklettert, um eigentlich vom 5-Meter-Bett zu springen – doch es war voll, hinter ihm hat ihn die ungeduldige Schlange weiter hinaufgedrängt, am geschlossenen 7-Meter-Brett vorbei, als ihm immer schwindelig wurde und der Beton am Fuße der nassen Stahlleiter  mit jedem Zentimeter an Härte gewann.
Nun blickt er auf das Becken herab – eine Unendlichkeit unter ihm, nichts weiter als ein kleines blaues Quadrat, um das die Massen tosen und Neugierige darauf warten, wie die Mutigen sich aus großer Höhe hinabstürzen. Augen wie Speere sind auf ihn gerichtet. Jenseits des Kreises der Neugierigen macht jeder, was er will. Da wird geplantscht und gebadet, getaucht und vom Beckenrand geplumpst, und über die Wiesen ringsum liegen sie in der Sonne, tollen, lesen, schlafen, kuscheln und knutschen.
Die Welt ist klein und unwirklich von hier oben, er kann das Dach des Supermarktes sehen, in dem sie immer einkaufen. Wie gern würde er jetzt aus dem Ford steigen, in dem ihm so oft schlecht wird und sich so schnell übergeben muss, weshalb seine Eltern immer Plastiktüten dabei haben, und sein Vater sagt „Ich versteh das nicht, du bist der einzige Junge, der Autofahren nicht verträgt“, doch jetzt würde er lieber gegen den Würgereiz kämpfen oder mit flauem Gefühl auf dem Parkplatz des Supermarktes stehen statt mit seiner Angst.
Jemand nimmt Anlauf, jagt an ihm vorbei und springt hinab, als würde ihn einen halben Meter tiefer ein großes weiches Kissen auffangen.
Staunend sieht er seinem endlosen Fallen zu und wartet Ewigkeiten auf das erlösende Klatschen des Wassers. Gischt und Jubel branden herauf.
„Jetzt mach doch endlich!“ ruft Martin. „Es ist doch nichts dabei!“
Nichts dabei wie Fußball spielen. Das kann jeder Junge, das macht jedem normalen Jungen Spaß. Den Vätern und deren Vätern hat es Spaß gemacht, sie sitzen vorm Fernseher und rufen, wie schön der Pass oder wie schlecht die Vorgabe war. „Gib ab! Gib ab!“ brüllen sie, nur er weiß nicht, an wen und warum, obwohl er es wissen soll, und hin und wieder zieht sein Vater oder ein Nachbar ihn bei einem Fußballspiel im Fernsehen aufs Sofa und sagt: „Guck doch zu, das ist ein tolles Spiel!“
Dabei wäre er lieber in seinem Zimmer oder auf einem anderen Planeten oder sonst wo.
„Du Pfeife, geh an die Seite“, ruft jemand hinter ihm, und er erschrickt. Der blonde Junge ist riesig, größer als sein Vater, und das 2 Meter breite Betonbrett erzittert unter jedem seiner donnernden Schritte. 
Im Taumel ergreift er das Geländer an der Seite, das nass und kalt ist trotz der Sonne, die Vibration der Schritte erfasst seine Hände, es ist, als sei das Geländer nur aus Draht und wird gleich nachgeben, aus dem Brett brechen und er hinterher fallen und schließlich auf den Betonplatten des Bodens aufschlagen, auf dem Spritzwasser und nasse Fußabdrücke verdampfen, das Zittern geht ihm durch Mark und Bein, dann stürzt sich der Blonde die hundert Meter tiefen zehn Meter hinunter. 
Er weicht zurück. Ganz hinten kann er die Schule sehen, deren graue Wände in der Hitze flirren, das Fenster des Chemieraums blitzt aus der Ferne. Er braucht fast eine halbe Stunde dorthin von daheim, es ist ein weiter Weg, jetzt scheint sie nur ein Steinwurf entfernt.
Ihm ist kalt, seine Haare richten sich auf, dass seine Arme und Beine aussehen wie mit Hühnerhaut bezogen. Es ist ihm egal, was die anderen sagen, er muss fort, als wäre er im Wohnzimmer bei einem Fußballspiel oder säße hinten im Auto, während seine Übelkeit hinaufgurgelt.
Sollen Martin und die anderen doch lachen und morgen in der Schule erzählen, wie feige er hier war – er würde das Gefühl, ein Idiot zu sein, hinunterschlucken, die grinsenden Gesichter ertragen und hoffen, dass in zwei Tagen niemand mehr darüber spricht.
Sie reden ohnehin genug: darüber, dass er so lange kein Fahrrad fahren konnte, sie haben dabei gestanden und gelacht, als er mit seinem Gleichgewicht rang, sein Vater „Mach schon, fahr einfach!“ rief und auch, als er letztlich doch wieder daran gescheitert war, sich auf dem Rad zu halten. Martin und Frederik standen da schon mit ihren neuen Rädern, und sein Vater schaute ihn einfach nur an. „Wovor hast du eigentlich immer Angst?“
Er wusste es nicht.
Die Radfahrübungen sind noch heute einen Lacher wert, obwohl es schon Jahre her ist – er kann also nicht anders, er muss springen, allen Mut zusammennehmen. 
Doch alles scheint zu wackeln, denn da jagt erneut jemand an ihm vorbei und stürzt ins blaue Wasserquadrat, nur er selbst kann es noch immer nicht, er ist nicht wie die Großen, die sich ohnehin wundern, warum so ein kleiner  Knirps hier oben steht, der noch weit davon entfernt ist, eine Freundin zu haben und der den Großen in der Schlange am Kiosk nur Platz und Zeit raubt.
Er geht zur Leiter – und sieht mit Schrecken viele Jungen und Männer, die nach oben wollen, die sich an dem nassen Metall festhalten und ihn zweifelnd ansehen. „Was soll das denn?“ ruft einer. „Hier geht’s nicht runter!“
„Ich muss runter“, wimmert er. „Ich muss hier runter.“
„Nein, das geht nicht! Glaubst du etwa, wir gehen jetzt alle wegen dir zurück?“
„Hast du Schiss oder was?“ höhnt ein anderer.
Er nickt nur.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, meint der andere. „Jetzt ist es zu spät. Mach, dass du runterspringst.“
Ihm steigen Tränen in die Augen. „Lasst mich runter“, die Silben brechen hervor wie aus Eis, und der Wind greift nach ihnen und trägt sie fort, ehe sie jemand richtig hört. 
Alle sehen zu ihm hinauf, klammern sich an der Stiege fest, weiter unten rumort Gerede, was denn da oben los sei, und unterhalb der Treppe stehen sie auch schon Schlange.
Niemand wird ihn gehen lassen. „Man kann sich nicht immer alles aussuchen“, das sind diese Sprüche, für die man Väter hasst, wegen denen man Vätern aus dem Weg geht, die einfach immer nur Dinge sagen, um einem ein schlechtes Gefühl zu geben. Mütter sind da anders. Die sagen „Ist schon gut“, die führen einen fort oder lassen einen gehen, aber Väter stehen immer nur da wie eine Mauer, Blick und Tonfall fordernd. „Mach schon.“ Feigling. Versager. Spring gefälligst. Jeder Tag ist ein Sprung ins kalte Wasser, man darf sich nicht so anstellen.
Heute Abend wird gegrillt, und da wird Martin verraten, dass er sich nicht getraut habe. Wieder einmal. Seine Mutter wird sagen, dass das auch vernünftig war – aber seltsam ist es schon: Oft wenn die Mütter sagen, man sei vernünftig gewesen oder „es ist schon gut“, schwingt da eine Frequenz mit, legt sich ein Schatten in die Gesichter, gibt es einen kurzen Blick zu den Vätern, wenn es heißt „Er ist halt so“.
Er muss springen. Er will den Triumph genießen, dem Blick seines Vaters standzuhalten, oder gar ein „Gut gemacht“ von ihm zu hören – mit ähnlichem Ernst, wie es Mütter sagen, man ein schönes Bild gemalt oder zu Weihnachten eine tolle Papierlaterne gebastelt.
Die Welt unter ihm ist nicht mehr klein, sie versinkt im Grau. Er dreht sich einfach um und geht an den Rand. Er sieht Martin, Frederik und die anderen, schickt ihnen allein mit dem Blick ein „Na wartet!“ nach unten, denn er wird sich trauen im Gegensatz zu ihnen, und während er das Bewusstsein genießt, besser und mutiger zu sein als sie je sein werden – denn sie hatten nicht den Mut hinaufzugehen – folgt er seinem Körper hinab, der einfach gesprungen ist. 
Die Verblüffung lässt ihn sofort in seinen Körper zurückkehren. Sein Atem wird aus seiner Brust gepresst, seine Lider flattern. Er kann nichts sehen, obwohl er die Augen geöffnet hat. Der Wind zerrt an ihm, er pfeift brennend zwischen seinen Pobacken, bringt seine Badehose zum Flattern, als wolle er sie zerreißen, die Gedanken sind abgeschaltet, zu unwirklich ist der Sturz.
Er dauert ewig. Fünfzig Meter, hundert Meter. Da ist kein Vater, kein Martin und kein Benedikt, kein Rufen und kein Schreien. Da ist nur Fallen und die Gewissheit, zu fallen. Endlos. 
Dann explodiert die Welt.
Ein Schlagen löst das Pfeifen ab, dann ein Rauschen, als bräche die Erdkruste auseinander. Rauschen und Gurgeln, überall, ohrenbetäubend.
Er wird verschlungen, taucht immer weiter, und dann, als das pfeilschnelle Sinken ein Ende hat, trudelt er in einem Kosmos von Luftblasen, die in jeden Winkel seines Körpers krabbeln, zwischen seinen Haaren ebenso kitzeln wie in seiner Hose. Es sind Millionen kleiner Tierchen, die seine Haut bevölkern, für Sekundenbruchteile Kolonien gründen und sich blitzartig wieder auflösen, um in wahllosen Gruppen oder einzeln an die Oberfläche zu trudeln und ihn mit nach oben tragen, ohne dass er etwas tun muss. 
Schließlich speit die Tiefe ihn aus und die Sonne hat ihn wieder. Das Wasser um ihn schäumt und brodelt, es drängt über den Beckenrand zu den Füßen der Neugierigen. Da hört er Jubel. Er wischt sich das Wasser aus den Augen, während der Schmerz seiner Fußsohlen in ihm hinaufklettert, und sieht alle Augen auf sich gerichtet. Auch Martin und Frederik stehen da, daneben Julia und Christine, die zum Beckenrand kommen, und er weiß, dass niemand von ihnen sich das getraut hätte, was er soeben gewagt hat. 
Er und Feigling? Er und unentschlossen? Während er zum Beckenrand schwimmt, sieht er seinen Vater vor sich, einen „Gut gemacht“-Blick, aber auch das Erstaunen, dass sein Sohn sich Erstaunliches getraut hat. Angst? Er? Vor was? Ich bin gut. Ich bin klasse! Ich bin der einzige in der Klasse, der je vom 10-Meter-Brett gesprungen ist, das machen immer nur die Großen. Und bei jeder passenden Gelegenheit kann er sagen – oder sagen lassen! – dass er es wirklich getan hat.
Ab sofort ist er nicht mehr der komische Junge, der sich in sein Zimmer zurückzieht und irgendwas Seltsames macht, sondern er ist der Junge, der sich ENTSCHLOSSEN hat, in sein Zimmer zu gehen, weil er es WILL.
Er greift nach dem Beckenrand und sieht den Sprungturm hinauf. Unglaublich, diese Höhe! Da oben hat er eben gestanden.
Beseelt steigt er aus dem Wasser, er sieht die verdutzten Blicke der Leute, die sich nicht vorstellen können, dass ein Junge mit elf Jahren von so weit oben gesprungen ist. Schließlich stehen Martin und die anderen neben ihm. Martin sieht ihn an, für eine Sekunde ist Schweigen. Zwei Sekunden, drei. Je länger das Schweigen dauert, umso größer wird der Erfolg. „Hat ja lang genug gedauert“, sagt Martin da. „Hattest du Schiss oder was?“
Er kann nicht antworten.
„Mann“, beginnt Frederik, „da raufgehen und runterspringen ist doch wirklich kein Ding. Du hast den ganzen Verkehr aufgehalten.“
Tonlos starrt er Christine an, die keine Mine verzieht. „Warst du feige, oder was?“ fragt sie.
„Das ist echt hoch“, rieselt wie Kies aus seinem Mund. „Und rutschig.“
„Die haben voll rumgemault, weil du da oben nur rumgestanden hast“, sagt Martin. „Das ist doch voll peinlich.“
„Die waren echt total sauer“, meint Christine. 
Schlagartig sieht er seinen Vater vor sich, eine Mauer der Enttäuschung, der ihn heute Abend beim Grillen fragen wird, warum er nicht an die anderen Leute gedacht hat. Dass er immer nur in der Gegend herumträumt. Und warum er überhaupt hochgeklettert sei. Er kann ihn regelrecht hören, wie er sagen wird „Hast du es so nötig, vor anderen Leuten anzugeben?“ Warum wird dir im Auto immer schlecht, warum sitzt du immer in deinem Zimmer, warum kannst du nicht so gut rechnen oder Ballwerfen wie malen, warum kletterst du da hoch und machst dich zum Affen? Wann fängst du endlich an, über dich hinauszuwachsen?
Die vier sehen ihn an, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier unten friert, und der nur eines will: umkehren. Nach Hause, in sein Zimmer. Oder einfach auf dem Weg nach Hause mit dem Fahrrad rechts abbiegen und durch die Gegend fahren, allein. Ganz egal. 
„Wir wollen uns ein Eis holen“, sagt Martin. „Los, lasst uns gehen.“
„Aber“, meint Frederik grinsend, „mach schneller als da oben.“
Auf Eis hat er eigentlich keine Lust mehr. Aber jetzt nach Hause zu fahren wäre noch viel peinlicher als nicht von oben zu springen. So setzt er sich in Bewegung.
Und folgt.

„Der Hund“ – mysteriöse Erzählung

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Müde hebt der Hund den Kopf, sonst wäre er ihm nie aufgefallen. Er wäre einfach auf die Straße gegangen, deren eigentümlicher Geruch ihn gefangen nahm wie die fremden Laute dieser fremden Stadt. Nicht nur die Stadt ist ihm fremd, auch das Land, die Sprache, all das, was man Kultur nennt. Da ist diese Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, hinter jeder Straßenecke Neues zu entdecken, und der Furcht, vor dem Neuen zu erschrecken. Er fürchtet, hier viel Abstoßendes zu finden und sofort sagt er sich, so nicht denken zu dürfen. Es ist eines gebildeten Westlers nicht würdig, auf diese Gegend herabzublicken, wie auch auf all die anderen Gegenden der Erde, die sich ähnlich zeigen wie dieser lärmende, von ungewohnten Gerüchen getragene Fleck. Nichts, was er an Sprache hört, ist ihm vertraut. Dabei klingt sie harmonisch, doch kann er wissen, ob jemand über Eheprobleme redet oder über den Sex von gestern oder über die Freude auf das Kino heute Abend?

All dies rumort und wimmelt schon länger, als er selbst auf der Erde ist, und es wird, so ist zu vermuten, noch so weitergehen, wenn er nicht mehr leben wird.

Er weiß genau, was er in Restaurants bestellen möchte, um das Besondere dieses Weltteils kennenzulernen und weiß auch, auf was er lieber verzichten möchte.

Wohin er seine Augen richten soll, erschließt sich ihm nicht, da ihm jedes Staubkorn fremd ist, wäre da nicht eben dieser Hund gewesen, der den Kopf hob. So beiläufig die Bewegung ist und so viele Köpfe ausgemergelter Straßenhunde sich hier auch in die Höhe recken mögen, so bedeutsam ist diese Bewegung für ihn. Es ist, als hebe das Monster von Loch Ness eines Morgens im Frühling, an dem der Tau noch an den kühlen Gräsern zittert, mit einem Mal den Kopf aus dem Wasser, einfach, um sich umzusehen und ihn die Frage stellen zu lassen: „Warum ich? Warum passiert es ausgerechnet mir, dass es sich zeigt und das Geheimnis seiner Existenz lüftet?“

So blickt er also hinüber zu dem Hund, der dort im Staub der Straße liegt und nichts weiter tut, als seinen Kopf gehoben zu haben und ihn anzublicken. Anders als die anderen Tiere hechelt er nicht, liegt einfach in der Sonne, als sei die Hitze und das Brennen nichts, was ihn belasten könnte. Auch aus der Entfernung von gut zwanzig Metern ist ersichtlich, dass der Hund nur Augen für ihn hat. Unter normalen Umständen hätte er den Glauben gehabt, der Hund habe zufällig seinen Kopf erhoben und ihn sind Auge gefasst. Oder dass der Hund lediglich in seine Richtung blickte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen – doch er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Hund, der keine Anstalten macht, sich aus dem Staub der Straße zu erheben, ihn, genau ihn und nur ihn anblickt, und dass er wegen ihm und nur wegen ihm den Kopf gehoben hat, als habe er gespürt, dass er auf die Straße tritt und es nun an der Zeit sei, Kontakt aufzunehmen.

Der Hund interessiert ihn. Kurz bleibt er stehen, um den Verkehr an sich vorbeiziehen zu lassen, lautes Geknatter eines Motorrades, so fremd und hell und laut und dröhnend, wie sie nur in Ländern wie diesen zu klingen scheinen, als seien sie hier aus anderen Dingen gemacht oder führen mit anderen Mitteln. Er hält sich das linke Ohr zu und merkt, wie er unter dem Lärm sein Gesicht verzieht, ohne den Hund auch nur für einen Moment aus dem Blick zu nehmen.

Der Hund ist der hässlichste Hund, den er jemals gesehen hat. Doch gleichzeitig ist da etwas anderes. Die Unterernährung, die die Körper aller Hunde hier ins Erschreckende auszehrt, verleiht dem Hund dort drüben Anmut, Würde, Ebenmaß. Das Fell, so schmutzig und verschlissen wie ein alter Sattel nach einem Reiterleben voller entbehrungsreicher Schlachten, wirkt wie angepasst an die dünnen Knochen der beiden Beine, die der Hund nach vorne streckt, in Majestät der Sphinx überlegen. Was einst Farbe war, ist nun ein Hort von Schmutz und Narben, die der Hund in stoischem Stolz wie Abzeichen trägt. 

Er springt erschrocken einen Schritt zurück, als ein Fahrrad an ihm so nah vorbeischießt, dass er den Fahrtwind spürt und riecht, begleitet vom Fluchen des Fahrers, der sich nicht umdreht. So ist er froh, als er den Blick des Hundes wiederfindet, der seine Ohren nach vorn stellt wie eine Krone. Dann steht er vor ihm. Kaum, dass er zum Tier herunterblickt, geht er in die Knie. Der Blick von oben scheint ihm nicht adäquat, und so folgt der Blick des Hundes seinen Augen hinab, ohne dass der Schwanz sich regt.

Von Nahem sind die Augen ganz besonders. Ich habe auf dich gewartet, scheinen sie zu sagen, getragen von dem Wissen, dass es eines Tages so hat kommen müssen. Geduld liegt in ihnen wie in der ungefragten Frage, die sie stellen. Fast hört er eine Stimme in sich, so geschlechtslos wie deutlich, die dem Tier erwidert: Ich weiß.

Er hat nie einen Hund besessen und weiß nichts von der Ebene, die sich entfaltet zwischen Tier und Mensch, doch nun ist es ihm, als habe er diese Ebene nie verlassen und beuge sich zu einem alten Vertrauten nieder, der auf ihn gewartet hat.

Er kennt den Namen des Hundes nicht, doch das spielt keine Rolle. Der Blick in die Augen des Tiers genügt, die von außen betrachtet nichts anderes sind als die Augen eines beliebigen Hundes, dunkelbraun, fast schwarz, in ihren Spiegelungen kann er sich selbst erkennen, doch da ist mehr, und sie beide wissen es.

„Kommst du mit?“, fragt er den Hund, und der erhebt sich augenblicklich. War es der Tonfall, den der Hund verstanden hat, denn wer sollte hier seine Sprache sprechen, zudem zu einem Hund, den hier die meisten Köter nennen, weil er in ihren Augen nichts anderes tut als Essen zu stehlen, zu betteln und zu belästigen?

So steht er auf und macht sich auf den Weg mit dem Gefährten, der nicht von seiner rechten Seite weicht. Die Straßen werden schmal und eng, sobald man einmal von der Hauptstraße abbiegt, Häuser schmiegen und ducken sich, Eingänge gähnen wie müde Mythengestalten, schnell wird das Gewirr zur Stille, dass er nun hören kann, wie die Pfoten des Hundes neben ihm auf den Steinen tappen. Eigentlich hat er dem Tier etwas zu essen kaufen wollen, in einem der zahlreichen Geschäfte, die sich bunte Höhlen durch die Mauern geschlagen haben. Früchte überall, in allen Farben, es ist so überraschend, was es hier alles gibt, wo er zu Beginn seiner Reise noch darüber staunte, dass es hier so viel Gewohntes nicht zu kaufen gibt, als habe man davon noch nie gehört, was bei ihm Zuhause heimisch, üblich, nötig ist. Ein Land des Mangels, so dachte er noch, als er das Hotel verließ, wie hat es ihn nur in diesen Teil der Welt verschlagen können, doch entrollt sich immer mehr eine Welt der Überflusses und des Reichtums. Die Gerüche werden stärker, je weiter er scheinbar der Nase nach schlendert, spaziert, flaniert. Er ist nicht mehr der Businessmann, der morgen im Auftrag seiner Firma Termine in einem dieser Glashochhäuser mit ihren klimatisierten Räumen wahrnehmen muss und sich darüber ärgern wird, dass es darin zu kalt ist. Es ist immer so. Draußen will die Sonne die Welt verbrühen, seit Jahrtausenden leben diese Menschen hier schon mit dieser Hitze und all der Sonne, die unweit von Flüssen und Seen die Böden verdorrt, doch kaum haben Menschen anderer Breiten Klimaanlagen erfunden, kühlen sie ihre Räume herunter, als gälte es, Pinguine zu züchten.

Hier lebst du also, sagt er ohne Stimme dem Tier neben sich, und wie zur Antwort blickt es auf und blinzelt.

Als es still wird, bleibt er stehen. Kurz keimt Angst auf, denn wo ist er bloß und warum ist er überhaupt hierher gekommen? An diesem Ort befindet sich nichts außer ein paar lang verlassener Häuser. Ein schmaler Gang führt in eine enge Schlucht, in die, da ist er sicher, noch nie das Licht des Tages fiel. Der Boden ist seit jeher festgestampfte Erde. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als habe sich eine Kuppel über sie gestülpt.

Hund und Mensch blicken sich an. Für den Hund ist es normal, hier zu sein. Nichts an seinem Auftreten zeugt von Wachsamkeit. Wo nur ist die ganze Stadt geblieben? Er schaut auf seine Schuhe herab, Lederschuhe, nicht gemacht für diese Gegend. Sie sind so staubig, dass er ihre Farbe nicht mehr erkennt. Staub besetzt seine Anzughose, die jede Eleganz verloren hat. „Sieh dir das an“, sagt er dem Tier, und es schaut ihn an, als wäre nichts dabei. 

Er fragt sich, wann zuletzt ein Mensch hier vorbeikam, denn auf dem Boden finden sich weder Spuren von Reifen noch von Sohlen. 

Der Hund legt sich nieder, erneut erscheint er wie eine Sphinx, den Blick in aller Ruhe auf die schmale Gasse vor ihnen gerichtet.

Er folgt dem Blick des Hundes und weiß: Keinen Fuß wird er in diese Gasse setzen. Vorstellungen beginnen zu gären, keine davon ist gut. „Ganz sicher nicht“, lässt er den Hund wissen. Es ist nicht gut, weiterzugehen, wenn sich der Weg vor einem so verengt. Außerdem macht es ihm Angst, wie dunkel dieser schnurgerade Gang ist, der irgendwo in Dunkelheit mündet.

Der Hund macht keine Anstalten, aufzustehen, und so setzt er sich im Schneidersitz zu dem Tier auf den Boden. In den Augen des Hundes funkelt Weisheit, die so alt ist wie die Menschen selbst. Das kann natürlich nicht sein, es ist ein Tier, sagt er sich. Doch er merkt, dass es die Wahrheit ist. Es ist kein Zufall, dass er den Hund traf – oder der Hund ihn, wer kann das sagen, und spielt das eine Rolle? Ab und zu huscht ein Lid über die Hundeaugen. Es ist das erste Mal, dass er das Gefühl hat, vollständig erkannt zu werden, jenseits aller Worte. Die Vertrautheit ist so absolut wie unhinterfragt. Er sitzt da im Wissen mit dem Tier im Staub, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Es ist anders als bei all den Menschen, denen er sich im Leben anvertraut hat oder sie sich ihm. Es ist kein Wollen, kein Treiben in diesem Blick. Stattdessen ruht da eine Harmonie im Blick, die nichts ausspricht und alles sagt. 

Er streckt die Hand nach dem Tier aus und berührt seinen Kopf. Das staubige Fell ist weicher als gedacht, und der Hund sieht ihn an, lässt es ohne Scheu geschehen.

Schließlich legt er seine Hand an die Wange des Tiers, das daraufhin die Augen schließt und den Kopf in die geöffnete Hand schmiegt, als habe es darauf gewartet. Tief holt er Luft und stößt sie langsam wieder aus. „Ach Hund“, sagt er gerührt, mehr von dem, was in ihm aufkommt als von dem, was gerade geschieht. „Warum kenne ich dich?“, flüstert er. „Kenne ich dich?“

Nichts daran erscheint ihm seltsam, und er nimmt es hin, dass bislang ungenutzte Seile etwas aus der Tiefe seiner Seele heben, das er selbst nie erlebt hat und doch weiß, dass es zu ihm gehört.

Er fragt sich nicht, wie kann das sein? Im Geschehen selbst weiß er, dass es so ist.

Wir kannten uns einmal sehr gut, denkt er. Und umfasst den Kopf des Hundes zärtlich mit beiden Händen.

Und dann sitzt er im Taxi. Ein frischer Anzug, saubere Schuhe, seine Tasche mit den Unterlagen neben sich, die der Klimaanlage besser trotzt als er.

Er sieht den Fahrer im Profil, sieht die Stadt an sich vorüberziehen, blickt auf seine Uhr. In einer Stunde ist sein Geschäftstermin. Durch das Treiben draußen auf den Straßen suchen Streuner etwas zu Essen, werden verjagt. Sie leben ein Leben auf der Flucht vor Schlägen und Tritten und kämpfen täglich gegen Hunger. Finden sie etwas zu fressen, verschlingen sie es, beißen sich um kleine Brocken. Und erst jetzt beginnt er, über gestern nachzudenken. 

Das Tier ist aufgestanden und ist wieder zurückgetrottet, ohne sich umzublicken, als wisse es, dass er ihm folgen wird. Es schien, als wollte ihn der Hund wieder zur Straße lotsen, auf der sie sich begegnet waren, und als die Autos und Räder zu hören und zu sehen waren, blieb der Hund stehen, blickte sich einmal kurz um, dann nahm er seinen Weg nach rechts in einen schmalen Gang und war verschwunden.

„Warte“, hat er dem Hund noch hinterhergerufen und nahm laufend einige Meter, um ihn noch einmal zu sehen – doch der Gang, in den das Tier verschwunden war, war nur ein Spalt in der Mauer, zu eng, um hindurchzupassen. Er sah nur Licht von der anderen Seite, unbestimmt und ohne Konturen. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Straße zu treten und in sein Hotel zu gehen. 

Als der Taxifahrer etwas ausruft, blickt er gedankenverloren hoch und muss sich ordnen. Er bittet um einen Moment, in dem er die Gedanken beiseite schieben und sich auf seinen Termin konzentrieren kann. Die Uhr tickt, und so greift er schließlich seine Tasche, zahlt und tritt in die Hitze hinaus. 

Das Intermezzo war vorbei, und er konnte nicht mehr sicher sein, es überhaupt erlebt zu haben. Doch die Augen dieses Hundes: Er könnte schwören, er habe sie erkannt und sie ihn, als ginge es um ein Wiedersehen oder etwas anderes, wer weiß das schon? Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Er konzentriert sich auf seine Aufgabe. Für alles andere hat er noch ein ganzes Leben Zeit. 

Meine SF-Story „Bleib bei mir“ komplett bei Spektrum der Wissenschaft online lesbar

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Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.

Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar. 

Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein. 

In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer  also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.

Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen. 

 

Sitzposition beim Schreiben für Perspektivwechsel ändern

Es mag banal klingen: Ich schöpfe viel Kreativität daraus, beim Schreiben nicht immer am gleichen Platz mit der gleichen Aussicht zu sitzen, sondern bewusst den Platz zu wechseln. Auch beim Denken und Überlegen kommen mir die neuen Sichtweisen zugute.

Warum, erkläre ich hier.

1. Ein anderer Blick für andere Stimmung

Der eigene Schreibtisch ist für uns Schreibenden die feste Burg, die Heimat – wie immer man selbst es nennen mag. Und das finde ich auch gut so. Doch immer wieder stelle ich fest, dass die immer gleiche Blickposition in den immer gleichen Raum auch wie eine lähmende Routine sein kann. Das merke ich immer dann, wenn ich z.B. etwas auf dem Pad in einem anderen Raum vorbereite oder bereits schreibe. Mehr unterbewusst als bewusst kommen da manchmal Ideen heraus, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Und so wichtig und wunderbar Routine oder der viel gerühmte »Flow« auch ist: Routine kann auch Denkmuster verfestigen, durch die mir Ideen verloren gehen. Das habe ich schon oft erlebt. In der Küche schreibe und denke ich oftmals ungezwungener, mehr ins Blaue und aufs Geratewohl – was meinen Geschichten häufig nützt. 

2. Blickposition im Raum oder Raum wechseln

Der eigene Schreibtisch ist für uns Schreibenden die feste Burg, die Heimat – wie immer man selbst es nennen mag. Und das finde ich auch gut so. Doch immer wieder stelle ich fest, dass die immer gleiche Blickposition in den immer gleichen Raum auch wie eine lähmende Routine sein kann. Das merke ich immer dann, wenn ich z.B. etwas auf dem Pad in einem anderen Raum vorbereite oder bereits schreibe. Mehr unterbewusst als bewusst kommen da manchmal Ideen heraus, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Und so wichtig und wunderbar Routine oder der viel gerühmte »Flow« auch ist: Routine kann auch Denkmuster verfestigen, durch die mir Ideen verloren gehen. Das habe ich schon oft erlebt. In der Küche schreibe und denke ich oftmals ungezwungener, mehr ins Blaue und aufs Geratewohl – was meinen Geschichten häufig nützt. 

3. Andere Blickwinkel, andere Textsorten

Wenn ich in meiner Küche sitze und schreibe, kommt häufig gar keine Szene dabei heraus oder eine konkrete Textstelle. Vielmehr schreibe ich »für mich«. Ich nenne diese Texte eher »Artikel«. Ich habe gar nicht den Anspruch, sie zu veröffentlichen oder zu verwenden. Fakt ist, dass ich diese Artikel an meinem Schreibtisch so gut wie nie schreibe, sondern an anderen Orten. In der Küche, auf dem Balkon, auf Reisen. Ganz bewusst halte ich sie gar nicht literarisch oder journalistisch. Mir geht es eher darum, schreibend zu denken. Damit löse ich oft Fragen, die mir beim Schreiben selbst gekommen sind und nutze sie auch als Schreibübungen: Kann ich die Dinge überhaupt angemessen in Worte fassen? Ist der Gedanke oder die Idee überhaupt ins sich logisch und sinnvoll? Und welche Sprache brauche ich, um das niederzuschreiben?
Gerade in diesem Punkt ist die veränderte Blickrichtung, -position und der Blickwinkel für mich elementar. Ich schreibe ergebnisoffen einfach drauflos. Das hat mir viele Textstellen eingebracht, aber auch neue Ideen und Gedanken zu Geschichten und Erzählungen.

Natürlich: Diese angesprochenen Punkte können unmöglich für jede/n vollständig oder komplett zutreffend sein – das ist auch ganz in Ordnung so. Wir sind Individuen, wir haben unterschiedliche Bedürfnisse, reagieren anders, brauchen andere Dinge. Es sind vielmehr Denkanstöße, die ich zur Nachahmung dahingehend empfehle, als dass ich sage: Einfach mal ausprobieren. Vielleicht nützt es ja. 

Warum ich im Blog veröffentliche statt auf Plattformen

Wann ist eine Veröffentlichung eine »echte« Veröffentlichung? Diese Frage ist für Schreibende wie mich relevant. Wir, die wir schreiben, schreiben zwar in erster Linie, um zu schreiben – wir tun es für uns, wir tun es wegen uns – aber Publikum wäre dennoch schön. 

Da der Weg in Verlage oder Literaturzeitschriften steinig, langwierig und aus verständlichen Gründen auch oft unmöglich sein mag, bieten sich Plattformen an. Nach dem Motto: Account erstellen, einloggen, publizieren, Leserinnen und Leser finden.

Klingt einfach, verlockend und erfolgversprechend.

Aber ich will dennoch keine Plattform nutzen, sondern meinen eigenen Blog als Plattform verwenden. So sind Erzählungen wie Sag mir, wer du bist, Im Schweigen oder Das Ähm im M.’s Garten in der Nähe von Emsdetten sowie sogar mein kompletter Roman Der Wind von Irgendwo in meinem Blog Das hat verschiedene Gründe:

1. Ich kann enorm schnell veröffentlichen

Bei mir ist es WordPress-Blog, damit kenne ich mich aus. Da es mein eigener Blog ist, überlege ich gar nicht allzu lange, sondern konzentriere mich auf das, was ich tun will: Veröffentlichen – ich stelle online, was, wann und wie ich es möchte. Ich entscheide mich für ein Format selbst, eine Struktur, einen Termin. 

Bloggen mag manchen nicht gut genug sein, um als »veröffentlicht« zu gelten – dabei sehe ich viele Aspekte des »richtigen« Veröffentlichens eher als Ballast. Ich erziele schnell Ergebnisse, indem ich einfach selbst veröffentliche, was, wann und wie ich es möchte. 

Absolut großartig ist es für mich, gerade bei Kurzgeschichten und Erzählungen auf eine ganze Reihe von Texten zurückgreifen zu können, von denen viele bislang auch in Anthologien veröffentlich worden sind – aber ganz ehrlich: Auf meinem Blog erreiche mehr Leserinnen und Leser, denn er hat eine größere Reichweite als manche Plattformen, denn nur weil etwas auf einer Plattform veröffentlicht ist, heißt das nicht, dass die eigenen Texte auch gelesen werden. Wer in einem Genre schreibt, das untypisch für die Plattformen ist, kann unter Umständen mit einer Veröffentlichung dort wenig bis nichts erreichen, wenn die dort vernetzte Leserschaft solche Texte nunmal gar nicht mag. Da fühle ich mich auf meinem eigenen Blog wohler.

2. Die Freiheit, alle Inhalte unter einem Dach zu haben

Nein, ich habe weder vor Verlagen, noch vor Literaturzeitschriften kapituliert. Nein, ich habe mich nicht aufgrund einer oder mehrerer Absagen beleidigt zurückgezogen. Nein, ich reagiere mit meinem Vorgehen nicht auf »etwas«. 

Im Gegenteil:

Es geht mir um nichts anderes als meine persönlich Freiheit in allem, was ich tue. Wenn man das eigene Schreiben als »etwas Eigenes« betrachten kann und will, geht es in erster Linie einmal nur darum: Das Eigene. Und das hat zwei Dimensionen:

Denn ich möchte nicht nur meine Geschichten veröffentlichen, sondern diese auch bei Bedarf mit  zusätzlichen Inhalten anreichern wie begleitende Making-ofs, Hintergrundartikel und Blick in die Schreibstube, hätte ich diese gerne auf der gleichen Plattform wie die Geschichten selbst.

Geschichten wie Artikel sollen parallel laufen und untereinander verlinkt sein. Ein Plattformwechsel bringt aus meiner Sicht lediglich Unvollständigkeit. 

Ich möchte dies unter meinem eigenen Namen auf meinem eigenen Blog tun, der meinen Namen trägt, um so authentisch und persönlich wie möglich zu bleiben – was mir besser möglich ist, wenn ich alle Texte, Artikel und Bilder in meiner eigenen Blog-Plattform anbiete und verwalte.

Außerdem habe ich damit selbst in der Hand, mit welcher Art von Dateien ich meine Artikel und fiktionalen Texte anreichere, wie diese aussehen und welche Form sie haben. Diese Freiheit habe ich auf Plattformen nicht in diesem Maße, sondern muss mich an alle möglichen Regeln und Vorgaben halten, die nicht ich mache, sondern andere. Das ist nicht in meinem Sinne. 

3. Kontrolle über meine Dateien

Ich möchte selbst entscheiden, wem ich meine Texte anvertraue. Denn ich verstehe meine Texte nicht als »Content«, weder meine Artikel, und schon gar nicht mit meinen schriftstellerischen Texte.

Da ich von Texten spreche, die mir wichtig sind, ist es mir auch wichtig, wo ich sie platziere – und damit meine ich die Server und die Rechte, die ich habe bzw. abgebe.

Ganz klar: Die Server für meinen Blog werden in Deutschland betrieben und unterliegen den europäischen Datenschutzrichtlinien. Das war es dann auch schon.

Sie gehören mir, weil ich den digitalen Ort verwalte, an dem ich sie speichere.

Bei Plattformen ist das anders. Da wandern meine Texte auf Server, über die ich keine Kontrolle habe und unterliegen vielleicht Bestimmungen, die ich nicht möchte – und mit denen ich mich erst einmal befassen muss. Für mich ein Unding: Der Cloud Act, mit dem die USA automatisch Zugriff auf meine Daten haben, sobald ich meinen Blog etc. bei einem amerikanischen Unternehmen hoste – dabei spielt es keine Rolle, ob ich bei »der deutschen Tochter« eines US-Unternehmens bin. 

Ich finde das als Gängelung und sogar persönliche Frechheit. Natürlich kann jeder selbst für sich entscheiden, dass es keine Rolle spiele, da man »nichts zu verbergen hat«. Da schlägt in mir das europäische Revoluzzer-Herz in mir, das eine Allergie gegen diese untergeschobenen »Selbstverständlichkeiten« hat. 

Und ich möchte mich auch nicht erst mühsam durch endlose Bestimmungen von Plattformen lesen, um zu erfahren, wer da was mit meinen Daten machen kann – so ist es ja zudem möglich, dass Plattformen Inhalte sperren können, weil man gegen ihre Richtlinien verstößt. Da sträubt sich in mir alles.

4. Monitoring meines eigenen Handelns

Alles, was in meinem eigenen Blog passiert und angeboten wird, kann ich gut monitoren und aufeinander abstimmen. Es stimm natürlich, dass ich auch Inhalte auf anderen Plattformen monitoren kann, allerdings bin ich da auch limitiert. In meinem eigenen Blog unter meiner eigenen Domain profitiere ich selbst am meisten von meinen Artikel, Stories und Kapiteln – nun mag man völlig zu Recht einwenden, dass ein Text von mir auf einer gut gerankten Plattform eine größere Reichweite erzielen könnte, als lediglich als Post in meinem Blog.
Völlig richtig.
Allerdings ist es fraglich, ob diese Reichweite sich auch nennenswert in größerer Leserschaft niederschlägt. Aber das zu beobachten und selbst in der Hand zu haben, ist reizvoll.

Es gibt noch andere Punkte, die ich anführen möchte, spare mir die aber für einen eigenen Artikel auf, auch, um diesen nicht allzu lang werden zu lassen.

Erzählung „Das Ähm in M.’s Garten in der Nähe von Emsdetten“

Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Die Schneise in der Gartenerde, die es geschlagen hat, die ist offensichtlich: Erst hat es sich beim Eintritt schräg vom Himmel in die Gemüseparzellen gebohrt und ab dort eine Furche geschlagen, zu deren Rändern sich die Erde auftürmt. Je weiter es sich in Richtung Rasenfläche vorgearbeitet hat, hat es sich weiter in die Tiefe gebohrt, sodass die Furche tiefer und die Ränder höher werden. Erdklumpen rieseln herab, überall liegen Pflanzenreste, es sieht aus, als wolle jemand ein Rohr verlegen. Die drapierte Buschgruppe hat es zerlegt, es ist fraglich, ob das einst so hübsche Arrangement, das sorgsam ausgesucht das ganze Jahr über blüht und im Winter mit Immergrün erfreut, den wüsten Schneisenschlag überleben wird. Derzeit sieht es nicht danach aus. Möglich, dass die äußersten Triebe sich noch retten lassen, sorgsam getrennt, liebevoll in Erholung gepflegt – wer weiß.
Ja, all das, was sie hier sehen, ist irgendwie klar, auch wenn es an sich unfassbar ist, wie etwas aus heiterem Himmel – im wahrsten Wortsinn – kometenhaft in spitzem Winkel in den Garten eintreten konnte. Überdies hat es beim Sturz den Zaun ruiniert. Wie den eine Versicherung ersetzen soll, ist fraglich, denn da stehen sie, alle anwesenden Parteien des Hauses, in dessen Garten nun die Schneise schneist, und sie starren auf das, was bis zur Terrasse durchgedrungen ist, dass es die ersten Bodenplatten anhebt.
„Ähm“, sagt M. Er sagt es nun zum dritten oder vierten Mal. Aber mehr fällt ihm nicht ein.
„Ja“, pflichtet S. von der Etage drunter bei. „Das ist wirklich … ähm.“
„Sauerei“, zischt R., der im Parterre wohnt und das Haus so lange kennt wie niemand sonst. R. begrüßte alle bei ihren Einzügen und hat schon manchen beim Auszug verabschiedet. R. ist es auch, der gerade im Frühjahr für neue Bodenplatten auf seiner Terrasse gesorgt hat, die neben der Terrasse für die Allgemeinheit von einer stirnhohen Hecke umgeben ist, damit er blickdicht seine Ruhe hat. „Das ist eine Sauerei. Für so was haben die Geld. Und dann fällt es ihnen auch noch runter in unsere Gärten. Sauerei.“
Im Gegensatz zu L. und T. hat Frau W. noch kein Wort gesagt. Ihr ist das alles einfach zu viel, und so sagt sie nichts. Denken übrigens auch nichts. Sie steht einfach da, reines Betrachten – oder möchte man Gaffen sagen – völlig ohne Staunen und Wundern, sondern einfach nur bloßer Blick, der die Schneise bis zum Endpunkt verfolgt, immer und immer wieder.
„Ähm“, sagt M. schon wieder. „Was soll denn das sein?“
Es ist nicht das erste Mal, dass diese Frage gestellt wird. Vielmehr wird sie weiter gereicht oder reicht sich selbst weiter von Mund zu Mund, und wen soll es wundern, denn schließlich ist dies das einzig Logische, das dazu gesagt werden kann.
Da liegt es vor ihnen und man weiß nicht weiter. Wenigstens um die Ausmaße gibt es keine Unklarheit. Größer als einen Meter ist es keinesfalls. M. schätzt es eher kleiner. 80 Zentimeter vielleicht.
Doch ob es rund ist oder eckig, da hört es dann schon auf. Ob das ovale Teil, das sich in den Boden gebohrt hat, nun die Spitze oder das Ende, eine Seite oder das Oben oder Unten sein mag, weiß schon wieder niemand. Überhaupt, diese Form.
„Keine Ahnung“, erwidert L., ebenfalls nicht zum ersten Mal. „Echt. Echt keine Ahnung.“
„Tja.“
L. geht in die Hocke, so weit, dass seine Knie die Erde berühren, die sich am Rand der Schneise aufgetürmt hat, und seine Frau holt zischend Luft und fährt ihren rechten Arm zu seiner Schulter aus, doch es ist zu spät, da hockt er schon und reckt den Kopf. „Tja. Ein Satellit vielleicht?“
„Glaub ich nicht. Wo soll denn ein Satellit herkommen?“
„Von oben. Von wo denn sonst?“
Dass ausgerechnet jetzt Max heimkommt, ist eher unpassend. Er war mit Freunden Gott weiß wo und ist normalerweise den Tag über nicht da, aber ausgerechnet jetzt kommt er doch heim und ist allein. „Was machst du denn hier?“ fragt seine Mutter verstört, und er schaut sie an und gibt zurück „Sorry, ich wohne hier?“ Dann blickt er auf das, worauf alle starren. „Was ist das denn?“
„Ähm“ sagt M.
Und ja: Was ist es nur?
Das beginnt nicht nur mit der Form und Größe, sondern auch mit der Farbe. „Irgendwie grau?“ hat L. eben gefragt, und obwohl jeder aus der Hausgemeinschaft „irgendwie schon“ formuliert hat, sträubt sich dagegen die Erkenntnis, denn es ist gleichzeitig ein „irgendwie nein“. Grau: Was heißt das schon? Ein wie auch immer geartetes Dazwischen von Weiß und Schwarz, eine Schattierung dieser Mischung beider Töne ist nicht erkennbar. Denn da ist keine Schattierung zu erkennen, keine Ahnung von Schwarz, keine Andeutung von Weiß. Überhaupt ein Farbton – ist da einer? Niemand weiß es, L. nicht, wie auch die anderen nicht. Im Gegenlicht, je nach Blickwinkel macht es den Anschein, als reflektiere es die Sonne, andererseits auch wieder nicht. Nein, es glänzt nicht. Und weil es nicht glänzt, reflektiert es auch das Sonnenlicht nicht. Andererseits hat es je nach Sonneneinfall und Blickwinkel hellere und dunklere Partien.
M. hat weder Begriff noch Vorstellung dafür außer einer Sache: Er hat dergleichen noch nie gesehen und sich nie vorgestellt. Was er sicher weiß ist, dass es seinen Garten ruiniert hat, und so bricht sein Blick immer von der Unbekanntheit vor ihm ab in den Garten, den er pflegt, den er plant, den er umsorgt. Er zahlt mehr Geld als alle für die Nutzung dieses Raums, den Rasen, die Beete, und die Tomaten, die dort wachsen und die noch neben der Schneise im Sonnenlicht leuchten, erst gestern hat er einige von ihnen im selbst gemachten Salat verputzt. Dieses Ding, was immer es sein mag und wo immer es auch herkommen mag, hat seinen Garten ruiniert, so viel steht fest. Fest steht auch, dass es nicht damit getan ist, die Zerstörung zu fotografieren – er wird das Chaos so lange bestehen lassen müssen, bis Sachverständige da gewesen sind, Polizei ganz sicher, aber auch Versicherungsmenschen, die prüfen müssen, ob und in wie weit sie für den entstandenen Schaden geradestehen werden. Ärgerlich.
Niemand hat mitbekommen, dass sich Max auf den Boden gelegt hat und mit dem Oberkörper nah über dem Ding schwebt. Seine Mutter ruft „Max“, doch es ist zu spät. Er reckt seine Hand danach aus. „Mach dir nicht ins Hemd“, sagt er, ohne den Blick von dem Ding zu nehmen, „ich fass es nicht sofort an, ich bin doch nicht bescheuert.“
M. mag Max. Ihm gefällt diese Rotzigkeit, mit der der Junge mit seinen 16 Jahren  auftritt. 
Jeder hält den Atem an, während Max Hand kurz über dem Ding schwebt. „Also heiß scheint es nicht zu sein“, meint der Junge. Er streckt den Zeigefinger aus, und jeder spürt, dass Max fast das Herz stehen bleibt, doch er kann nicht anders: Trotz aller eigener Bedenken tippt er daran, nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Ne. Ist nicht warm.“
„Pass wegen der Radioaktivität auf“, stöhnt seine Mutter durch die Hände, die sie vor ihren Mund geschlagen hat. 
M. schaut sie verstört an. „Wieso Radioaktivität?“
„Naja“, beginnt sie, ihre Hände noch immer vor den Mund gepresst, die Augen tellergroß, „sind diese Dinger nicht immer radioaktiv?“
„Wieso sollten sie das sein?“
„Naja. Es kommt ja von …“
Der Rest ist Schweigen.
Frau W. schreitet die Schneise ab und ist inzwischen an den Gemüsebeeten angelangt. Sie sucht zwar nichts, aber sie schaut trotzdem über das, was ihr Nachbar M. so züchtet und sich regelmäßig in die Töpfe und Salatschüsseln schnippelt.
Max pult in der Erde, die auf das Ding rieselt ohne Geräusch. Nichts deutet darauf hin, dass das Ding sich tiefer in die Erde gebohrt hat und damit einen Teil von sich verbirgt. „Komisch, hat keine Delle oder so.“
„Ja, es sieht unbeschädigt aus“, meint M. 
„Aber aus was ist es dann gemacht?“
Metall ist es nicht, und wenn, dann eines, das noch niemand gesehen hat. Und überhaupt: Das Material ist jedem fremd.
„Ähm“, sagt diesmal L., der noch immer kniet und sich der Hand seiner Frau auf seiner linken Schulter sicher weiß.
„Was ist denn da bei Ihnen passiert?“ ruft es da von jenseits des Zauns, und als sie sich alle umdrehen, bemerken sie die zahllosen Gesichter, die über Zäune und aus Fenstern und von Balkonen rund um das Grundstück zu ihnen und ihrer Misere herüberschauen.
„Etwas ist abgestürzt“, ruft L. pflichtschuldig, so laut es geht, „wir wissen auch nicht, was es ist!“
„Um Gottes Willen, jemand muss die Polizei rufen!“
„Eine Bombe! Eine Bombe! Passen Sie bloß auf!“
Sie wenden sich wieder dem Ding in der Erde zu, das Max, der noch immer auf dem Boden liegt, inzwischen mit beiden Händen berührt. Fasziniert streicht er darüber, betrachtet es, und es scheint, als habe es ihn ganz in den Bann geschlagen. „Max, nicht!“ ruft seine Mutter ungehört, und Max stellt fest, dass er keine Ahnung hat, wie es sich anfühlt, was da vor ihm liegt. „Nicht warm, nicht kalt. Nix.“
„Wie, nix?“, will M. wissen und bückt sich seinerseits, um es zu berühren. Die anderen Gesichter recken sich synchron herab und sehen M.’s Händen bei der Berührung zu. 
„Er hat recht“, meint M. „Nix.“
„Was soll das heißen? Wie fühlt es sich an?“
„Das ist es ja: Es fühlt sich gar nicht an.“
Jedes Material bietet ein Gefühl, doch dieses hier sendet Signale ins Leere. M. weiß nur, Derartiges nie gefühlt zu haben.
Ungläubig streicht er über die Fläche, und es gibt keinen Ton der Reibung. Er spürt keine Kante, keine Unebenheit, aber auch nichts, was auf eine gänzlich glatte Oberfläche hindeutet. Er spürt nur Fremdheit.
„Hm.“
„Ja hallo, ich möchte den Absturz eines Dings melden.“
Alles dreht sich um, denn die Stimme gehört zu Frau W., die mit der Polizei telefoniert. Sie steht ein wenig abseits, ihr linker Arm um den Oberkörper geschlungen, ihr Telefon am rechten Ohr, und ohne jede Regung schaut sie in Richtung Ding, ohne es anzusehen. „Wir wissen es nicht. Es ist vom Himmel gefallen. Ja, runter. Natürlich runter, es kam ja vom Himmel. Es hat den Garten verwüstet. Nein, ich kann Ihnen nicht sagen … – kommen Sie doch her und sehen es sich selbst an. Nein, ich kann es nicht beschreiben, nein. … – warten Sie.“ Sie schaut in die Runde. „Die wollen wissen, was es ist.“
„Sollen sie es sich doch selbst ansehen“, grollt M. „Woher sollen wir das denn wissen?“
Frau W. spricht weiter: „Maschine? Keine Ahnung. Nein, ich kann nicht beschreiben, wie es aussieht. Bombe? Moment.“ Sie sieht sie an: „Kann es eine Bombe sein?“
Niemand hat bislang von ihnen eine Bombe leibhaftig gesehen. Aber niemand kann sich eine Bombe wie diese vorstellen.
Frau W. schürzt die Lippen. „Eher nicht. Warum kommen Sie nicht selbst, dann sehen Sie es doch? Warten Sie.“ Sie fragt wieder in die Runde: „Er will das Material wissen. Ob es ein Meteorit oder ein Ding ist.“
„Was unterscheidet denn einen Meteoriten von einem Ding?“, kläfft L. „Keine Ahnung. Sieht nicht nach einem Stein aus. Oder?“
Max und M. befühlen das Fremde weiter und finden nicht, dass es aus Stein ist. Oder Holz. Aus Plastik aber auch nicht.
„Sie kommen nicht“, sagt Frau W. „Sie halten es für einen Scherz. Sie meinen, sie können nicht kommen, wenn nichts passiert ist.“
L.’s Frau wedelt mit beiden Händen in Richtung Ding. „Ist da etwa nichts passiert?“ Sie weist weit ausholend auf die Schneise im Garten. „Ist DAS etwa nicht passiert? Was wollen die denn noch?“
„Er meinte, verarschen kann er sich selber.“
„Ich glaub’s nicht! Muss die Polizei nicht kommen, wenn man sie ruft?“
„Er meint, wir müssten angeben können, was passiert ist.“
„Ich fass es nicht.“
„Ja aber …“ M. richtet sich wieder auf. „Was ist denn passiert, frage ich Sie? Was können wir sagen, was passiert ist? Da ist dieses … – dieses … ähm …“
„Es ist vom Himmel in unseren Garten gekracht!“ empört sich L.
„In meinen Garten“, sagt M. „Es ist mein Garten.“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, dürfen wir weiter in Ihrem Garten stehen und Anteil nehmen? Also wirklich! Immerhin liegt es direkt an UNSEREM Haus und UNSEREN Wohnungen!“
„Ja aber er hat recht“, sagt L.’s Frau. „Was ist passiert? Was ist das da?“
Alle Blicke wandern wieder auf das fremde Ding ohne Nähte, ohne Ösen und Schrauben, ohne jeden erkennbaren Hinweis darauf, gemacht zu sein.
Da reißt Frau W. ihre Augen auf, lässt das Telefon in den Rasen fallen und springt mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen entsetzt zurück. „Oh Gott!“
Kaum liegen die Worte in der Luft, ergreift jeden die Panik, denn jedem ist nun klar, auf was Frau W. zu sprechen kommen will. Auch wenn niemand recht daran selbst gedacht hat, steht nun eine Möglichkeit im Raum, die der Instinkt jedem von ihnen in den Geist gelegt hat.
„Es LEBT!“ ruft sie aus, und jeder weicht zurück. Max ist schneller auf den Beinen, als irgend jemand sehen kann, und M. wird schlagartig heiß. Da krabbelt etwas seine Hände hinauf, mit denen er eben noch das Ding berührt hat, ein scheußliches Kribbeln, als werde sein Körper geentert. 
Es ist, als habe jemand alle Atemluft aus der Welt gesogen, und voller Grauen starren sie alle auf das Ding da, das … – vielleicht LEBT?
Wie lange sie starren und schweigen, wissen sie nicht, als Max die Stille durchbricht: „Also wenn das so ist, dann ist es jetzt sicher tot.“
M. kann wieder Sauerstoff in seine Lunge ziehen. 
„Naja, das überlebt doch keiner“, schließt Max. „Fallt ihr mal vom Himmel und kracht in den Garten. Das will ich sehen, was das überlebt.“
„Und wenn es ein Panzer ist wie bei einer Schildkröte?“
Sie nähern sich schrittweise und beugen sich zaghaft herab.
„Ne, glaub ich nicht“, meint L. „Kann aber sein. Ach, was weiß denn ich.“
„Okay“, sagt M. da. „Das wird mir jetzt zu blöd. Lassen wir es einfach liegen.“
Alle Augen richten sich auf ihn, und er blickt in die Runde. „Ja, ich meine es ernst. Was sollen wir denn den Leuten erzählen? Ich hab keine Ahnung, was das ist, oder geht es einem etwa anders?“
Verstohlene Blicke sind die Antwort. „Na also. Wir wissen alle nicht, was das da ist, was das da soll und woher es kommt. Also ich hab echt keine Idee.“
„Wir sollen also einfach so tun, als wäre es nicht da?“
„Was heißt, so tun? Da ist nichts! Nichts, was wir benennen können. Nichts, wovon wir eine Vorstellung haben. Für mich ist das quasi gar nichts.“
L. schürzt die Lippen. „Da hat er recht.“
„Stimmt“, pflichtet seine Frau ihm bei.
Max, der wieder auf dem Boden liegt und seine Hände mit größerer Vorsicht als zuvor über die Oberfläche gleiten lässt, gibt ein kurzes „Hm“ von sich. Während er das Ding so untersucht, wird ihm klar: „Die Leute würden das auch für einen Fake halten.“
„Einen was?“ Frau W. ist irritiert.
„Eine Fälschung. Wenn ich das fotografiere und teile, denkt jeder, ich mach nen Witz. Das glaubt einfach keiner.“
„Und wer soll so eine Schneise aus Jux in einen Garten buddeln?“
„Geht auch als Fake durch. Und es gibt echt viele, die notfalls buddeln, um was zum Erzählen zu haben.“
Sie schauen herab, hinter ihnen verschwinden die ersten Zuschauer und wenden sich ab. Grillgeruch weht herüber, die Stille der Umgebung weicht.
„Deshalb sag ich ja“, meint M. „lasst es uns einfach zuschütten. In ein paar Wochen ist wieder Gras über die Sache gewachsen und kein Hahn kräht mehr danach.“
„Und wenn es doch lebt?“, fragt S. besorgt. „Unsere Terrasse ist doch direkt daneben …“ Der Gedanke, dass dort jemand oder etwas nächtens plötzlich vor seiner Terrassentür stehen mag, behagt ihm gar nicht. „Nachher wächst das noch zu einer echten Krise aus!“
Max zuckt die Achseln. „Also wie gesagt: Nix überlebt das.“
M.’s Blick wandert zu seinen Gemüsebeeten. Das Chaos, die abgeknickten Äste, die halb herausgerissenen Pflanzen tun ihm fast körperlich weh, und die Sehnsucht überfällt ihn, sie zu richten. Dass da Tomaten und Gurken auf der Erde liegen, stört ihn, er möchte nicht, dass sie faulen. „Also. Es ist meiner Meinung nach nichts passiert. Sieht es jemand anders?“
Niemand sagt etwas. Mit jedem Schwung Erde, der das Ding im Boden kurze Zeit später verdeckt, kehrt Frieden ein. S. verbuddelt es nahezu im Alleingang, Max kommt mit seiner Schaufel kaum hinterher. M. sortiert seinen Gemüsegarten, und von jenseits des Zauns nimmt man nur wahr, dass dort Ordnung einkehrt. Sicher, die Büsche sind größtenteils hin, und bis diese Bresche vollends zugeschüttet ist, werden Tage vergehen. Ganz zu schweigen von der Zeit, die es braucht, bis das neue Gras gewachsen ist. 
Aber ihm dabei zuzusehen, wie es täglich mehr wird, ist doch ein schönes Gefühl.

Warum ich als Selfpublisher meinen Roman im Blog veröffentlichen werde

Als Selfpublisher einen eigenen Roman komplett einfach so im Blog veröffentlichen, hältst du das für eine gute Idee? Das war nur eine der Reaktionen auf meinen Plan, den ich inzwischen auch schon begonnen habe, in die Tat umzusetzen.

Meine Antwort darauf ist simpel: Ja, ich halte das für eine gute Idee.
Warum? Auch diese Antwort ist klar:

Ich wollte es einfach, denn ich hatte keine Lust mehr, zu warten. Der Wind von Irgendwo war von mir zuletzt als eBook geplant, das ich als Selfpublisher veröffentlicht hätte. Einen Verlag hatte ich gar nicht im Kopf – und auf ein eBook hatte ich schlicht und einfach keine Lust mehr. 

Die Gründe: Ein eBook ist eine fertige Datei, die Entwicklung ist abgeschlossen, es geht dann nur noch um das fertige Werk an sich.

Ursprünglich als eBook geplant, um als Selfpublisher zu starten

Das war mir zumindest im Hinblick auf Der Wind von Irgendwo aber zu wenig. Auch für das eBook habe ich geplant, den Roman mit einer eigenen Website zu begleiten. Ich wollte den Roman als Blick in meine Schreiberstube nutzen: Ich wollte Making-ofs machen, über die Story-Entwicklung erzählen, über die Arbeit an Stoff und Sprache, über Orte, Namen, Musik und vor allem über meine Inspirationen erzählen. Daher war für mich schließlich die Idee, die 15 Kapitel des Romans wöchentlich in meinem Blog zu veröffentlichen, die naheliegendste. Diese Form kam dem am nächsten, was ich mit dem Roman eigentlich vorhatte: Keinen singulären Romantext, sondern Romantext mit Bonusmaterial. 

Schon bevor das erste Kapitel online ging wusste ich genau, mit welchen Artikeln ich die Veröffentlichung über Wochen hinweg flankieren wollte. 

Mit der Veröffentlichung beginnen und Erfahrungen als Selfpublisher machen

Und ja: Ich wollte einfach nicht mehr warten. Ich wollte anfangen, auch auf die Gefahr hin, in Fallen zu tappen, Fehler zu machen, mich blöd anzustellen. Mir sind Fehler lieber als Bedenken. Hier geht es nicht um die sorgsame Erwägung, ob und wie ich einen Teich voller Krokodile über eine morsche Holzbrücke überquere. Hier geht es um etwas, das mir wichtig ist, und wir Schreibende wollen doch vor allem gelesen werden. 

Ich habe mich schlicht gefragt: Wieviel Leserinnen und Leser erreiche ich mit einem eBook im Selfpublishing? Wie realistisch ist es, eine Leserschaft in einem Verlag zu erreichen?

Für mich war klar, dass all dies Variablen waren, die ich nicht in der Hand hatte – und die mich vor allem weitere Zeit kosteten. Diese Zeit war ich nicht bereit, zu investieren. Ich wollte jetzt loslegen und Leser*innen erreichen, sie einladen, die Entwicklung des Romans über Wochen zu verfolgen, in die Welt einzutauchen und sich – hoffentlich – auf ein neues Kapitel zu freuen. Ich wollte, dass sie ganz nah dabei sind und damit Teil der Entstehung werden. Denn obwohl der Roman selbst schon längst geschrieben ist, wird er durch die wöchentliche Veröffentlichung etwas Neues: Ein gemeinsamer Raum zum Entdecken. Diese Idee finde ich ganz wunderbar.

Mehr Reichweite generieren

Und natürlich möchte ich mit einer wochenlangen Veröffentlichung des Romans Aufmerksamkeit und Reichweite erhöhen. Da die einzelnen Kapitel nicht SEO-konform sind – weder von der Headline noch vom eigentlich Text – sollen das auch die flankierenden Artikel sowie zusätzlich veröffentliche Kurzgeschichten richten. Zwar wird der Roman nicht wie eine herkömmliche Veröffentlichung von Beginn an fertig zur Vermarktung bereit liegen, aber das Ende ist mit der Veröffentlichung des 15. Kapitels ja gesetzt. Danach kann ich noch immer ein eBook aus dem Roman machen.

Zu guter Letzt: Es fühlt sich für mich gut und richtig an. Hoffentlich geht es anderen auch so. 

Erzählung „Sag mir, wer du bist“

Laura war klar, dass die Nachbarn reden, und auch wenn sie bedeutendere Probleme hatte, war es ihr unangenehm. Sie dachte daran, während sie im Zimmer ihres Sohnes saß und weinte. Sie dachte daran, als sie das erste Mal aus der Tür trat, nachdem es bekannt geworden war und sie den Blick der Leute hatte aushalten müssen. Viele von ihnen kannte sie gar nicht oder nur vom Sehen, wie Sternschnuppen waren sie zuvor aufgetaucht und wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden, fortgeschwemmt mit ihren Ansichten, die belanglos für sie gewesen sind, wie umgekehrt auch sie nichts anderes für diese Nachbarn gewesen ist als eine Erscheinung, die zufällig den Weg kreuzte.

Bis vor drei Tagen. Als sie danach das erste  Mal das Haus verlassen musste, spürte sie, wie sie zu einem Blickpunkt geworden war, der bewertet und verachtet wurde.

Dabei konnte sie unmöglich die Schuld tragen – zumindest nicht allein. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es hatte geschehen können, und so unbeteiligt sie sich fühlte, so ungerecht empfand sie zu allem Gram die Abwertung ihrer Nachbarn.

Ob alle Freunde noch zu ihr hielten, die sich bislang nicht gemeldet hatten?

Monika hatte keine Stunde nach der Mitteilung bei ihr angerufen, um ihr zu versichern, dass sie zu ihr halten werde „egal, was passiert ist“.

Wenigstens. Aber dieses „Egal“ war und blieb das Kainsmal. Denn was geschehen war, war nicht egal, und es ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

Seit drei Tagen bekam sie kein Auge zu, und die Stille zwischen all den Gesprächen und Telefonaten spendete Trost und Schmerz gleichermaßen.

Die Stille ließ sie eintreten in das Reich der Bewertung, und dieses Reich war gewaltig. Es hatte unerforschte Gelände wie ausgetretene Pfade, es hatte Klippen und Tiefen, stille Wasser und stürmische Steppen. Hin- und hergerissen zwischen Ohnmacht, Scham und Schuld fand Laura noch nicht den Platz, an dem sie sich niederlassen konnte – stattdessen trieb sie durch dieses Reich und marterte sich mit den unendlichen Möglichkeiten, die es bot.

Sie war zu betäubt, um müde zu sein, und auch zu betäubt, das Zimmer, in dem sie gerade saß, mit ihrem Sohn in Verbindung zu bringen, obwohl es seines war.

Das Zimmer eines Teenagers, auf rührende Weise chaotisch, auch wenn sie immer sagte, er solle aufräumen. Poster hingen da ebenso wie erste Bilder von Renoir – billige Pappdrucke in rahmenlosen Bilderhaltern, aber für ihn war es wie ein Museum und ein Schritt zum Erwachsenwerden. Renoir hatte er in einer Zeitschrift beim Arzt entdeckt, sich eine kleine Kollektion besorgt und zwischen Film- und Bandplakaten sowie einem Fan-T-Shirt an die Wand gehängt.

In diesem Zimmer machte er seine Hausaufgaben oder täuschte es wenigstens vor. Den Flachbildmonitor des Computers hatte er sich vor drei Monaten durch einen Ferienjob verdient, und er war so froh, als er ihn sich gekauft und aufgestellt hatte. „Wow“ war durch das Haus gehallt, voller Glück über dieses alberne Technik-Ding. „Superscharfes Bild!“

Und nun saß sie da und atmete die Luft eines seit drei Tagen ungelüfteten Zimmers ein, das noch ein wenig nach ihrem Sohn roch. Seinem Deo aus de mSupermarkt, das er sich unter die Achseln sprühte. Und fragt sich, was die Nachbarn wohl dachten. Ob sie letztlich fair seien – aber konnte sie das erwarten? Die Zeitungen fragten, wie es hatte geschehen können, und was sollte sie darauf sagen?

„Ich habe keine Ahnung“, sagte sie jedem und immer wieder sich selbst „Er war ein ganz normales Kind.“

„Er hat keine Auffälligkeiten gezeigt“, hatte der Schulleiter zu Protokoll gegeben, vor zwei Tagen, als die Schule plötzlich still stand. Seitdem spudelten die Ermittlungen mehr und mehr gruselige Details aus.

Warum ihr Sohn zum Mörder wurde, wusste noch niemand – doch die Nachbarn sagten nun, sie habe es verschuldet, schließlich sei sie die Mutter.

„Lass dich nicht fertigmachen“, sagte Monika, und der Beistand, den sie auch von anderen bekam, tat ihr weder gut noch schlecht. Zu benommen war sie, um glücklich darüber zu sein oder froh, das Wissen um Rückendeckung prasselte wie Wasser in eine Zisterne.

Vor vier Tagen war sie lediglich Mutter von Nils, ihrem 16-Jährigen Sohn, der zum Gymnasium ging und der sie ein ums andere Mal wahnsinnig gemacht hat. Mit seiner Lautstärke, mit seiner pubertären Pampigkeit, mit seinen unausgereiften und wöchentlich wechselnden Ansichten, wie man sie in dem Alter hat.

Den sie liebte für das, was er war und wie er war.

Nun war sie die Mutter eines Mörders, der in ein Haus eingedrungen und mit einem Freund ein Ehepaar erstochen hat – einfach so. 

Über 50 Messerstiche bei jedem.

Als sie im Fernsehen Worte hörte wie „Blutrausch“ und „Wahnsinnstat“, dachte sie zunächst, welcher Geisteskranke und Perverse da zugeschlagen haben mochte.

Als sie hörte, dass Nils verhaftet worden war, weil er einer dieser beiden Geisteskranken und Perversen war, lähmte Schock die Welt ringsum.

Ein eigenartiges Gefühl, über das sie in einigen Monaten ein Buch geschrieben haben würde, nachdem ihr Sohn längst verurteilt und inhaftiert worden war.

Es war kein Gefühl inneren und äußeren Stillstands – auch keins von Eiswasser am Körper. Trudeln? Fallen? Nein. Ein Gefühl im Bauch. Ein Schmerz, der nicht fragte, ob er kommen dürfe oder nicht. Sondern der einfach kam und schlug. Seit drei Tagen schon.

Frank ist es gewesen, der recht schnell gesagt hatte: „Das liegt in unserer Verantwortung, er ist unser Sohn.“ Seitdem war er abgetaucht, dümpelte in der Trübe von Sprachlosigkeit und blickte mit stumpfen Augen nach nirgendwo. Oder in sich hinein. Oder wartete wie eine Maschine auf Standby auf einen Impuls, wieder anzuspringen, der nicht kam. Wer konnte das wissen …

Das Wort „Verantwortung“ hatte weh getan, auch „unser Sohn“. An ihnen wäre es gewesen, das zu verhindern, doch so sehr Laura nach Indizien blickte, nach Beweisen, die sie hätten übersehen können, fand sie nichts anderes als typische Dinge in einem typischen Zimmer eines typischen Teenagers. 

„Die Computerspiele sind es“, sagten sie im Fernsehen, die einer ebenso geschockten wie höchst interessierten Menge die Tat zu erklären versuchte. Nils hat Spiele gespielt, auch online. Aber da traten Fabelwesen mit Waffen zwar, aber ebenso mit Zaubersprüchen gegeneinander an. 

Diese Spiele haben Nils zu keinem Mörder gemacht – allein schon die Symbiose dieser beiden Worte: Nils und Mörder. 

Sie erinnerte sich an die erste Begegnung mit Nils nach der Tat. Er hatte da gesessen, ihr Nils. Ernst sei er, kalt, sagten sie, doch sie wusste es besser. Er schwieg unter einer Maske. Der Mörder, der ihr gegenüber gesessen hatte im Moment ihres Eintretens kurz aufgesehen und sofort zu Boden geschaut. Geschämt hatte er sich, das wusste sie.

Als sie dem Mörder gegenüber saß, fielen ihr keine Worte ein, Frank war daheim geblieben. Er konnte den Anblick seines Sohnes nicht ertragen.

Sie auch nicht. Abscheu überkam sie, und Wut, dass sie ihn hatte schlagen wollen, mehrmals, einfach mitten ins Gesicht. Er hätte es verdient.

Nils Namen auszusprechen war schwer gefallen. Der Name verpuffte in den Universen zwischen ihnen. Kalt, sagten sie alle, die in ihm nur die Bestie sahen. Überrumpelt, sagte sie, die seine Mutter war und ihn besser kannte.

Die Stille zwischen ihnen war unerträglich laut geworden, und während sie da saß und das „Warum“ nicht zu fragen wagte, wünschte sie sich nach Hause, an den Beamten vorbei, die sie ansahen wie die Mutter eines Biests, die durch seine Geburt das Elend verschuldet hatte.

Das „Warum“ war ihrem Mund schließlich von allein entwichen – eine Antwort konnte es kaum geben, und so schwieg Nils. Er zuckte nur die Achseln.

„Warum?“ fragte sie nochmals, diesmal mit Nachdruck. „Wie kommt ein Mensch auf diese Idee? Warum TUT man so etwas?“

Auch jetzt, da sie in seinem Zimmer saß und das Monster und den Mörder darin zu finden versuchte (erfolglos) oder wenigstens Anzeichen darauf, gab es keine Antwort.

„Wir sind verantwortlich“, stammelte Frank immer wieder in die Stille hinein, wenn er überhaupt sprach. Wie sollte er jemals in seine Firma zurückkehren? Wie sollten sie das Haus halten können in dieser Umgebung, in der man sie ansah als Mörder-Eltern, deren Wertelosigkeit sich in ihrem Sohn manifestiert hatte.

Nils gab immer die Hand, wenn er Erwachsene kennenlernte. Nils gab sich immer Mühe bei der Auswahl der Geschenke für seine Eltern zu Weihnachten und zum Geburtstag. Nils hatte von sich aus einen Ferienjob gesucht, weil er sich Dinge leisten wollte, die er nicht bekam. Über diesen Nils sprach die Reportermeute nun als „Das Böse hat ein Gesicht“ und „Das Böse kam am Abend.“ Die Nachbarn sprachen nun davon, in der Nachbarschaft des Bösen zu leben, als sei Nils der Antichrist und Laura und Frank diejenigen, die die Schuld für sein Erscheinen trugen.

„Wer bist du?“ hatte sie Nils beim ersten Treffen gefragt. „Das kann doch nicht mein Sohn sein.“ Tränen quollen. „Das kann doch nicht mein Sohn getan haben! Sag mir wer du bist!“ Als sei ein Dämon in ihn gefahren, den es auszutreiben galt. „Sag mir wer du bist!“

Nils Gesicht begann sich darauf zu verformen, dass es nicht lang gedauert hatte, bis er weinte mit bebendem Körper, nicht wagte, sich hinter einer Hand zu verstecken und stattdessen zu Boden blickte. 

Und „Mama“ sagte.

Mama – Verantwortung, Erziehung, Werte, Vermittlung, Liebe, Scheitern. Konzentriert in vier Buchstaben. 

Es waren die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten. Sie konnte und wollte nicht Mama sein und gleichzeitig doch.

Sein Zimmer war so normal. 

Das getötete Paar kannte sie nicht. Nils und sein Freund Peter hatten es sich wahllos ausgesucht,  einfach geklingelt und den Mann nach dem Öffnen der Tür ins Haus getrieben mit gezückten Klingen und noch im Flur getötet. Die Frau hatten sie durch das Wohnzimmer verfolgt, zwischen Sofa und laufendem Fernseher war sie auf dem Boden gestorben. Mit Stichwunden in Brust, Rücken, Hals, sogar Gesicht.

In seinem Zimmer funkelte keine Messerklinge, keine Aggression zeigte sich. Auch die Polizei, die sein Zimmer durchsucht hatte, hatte nichts Verdächtiges finden können. Woher auch immer „das Böse“ gekommen war oder was es hatte ausbrechen lassen, niemand fand eine Antwort.

Er ist so normal.

Nach der Tat wurden Nils und Peter schon vor der Haustür von Nachbarn abgefangen, die die Schreie des Ehepaares gehört hatten. Beide Jungen waren voller Blut und hielten die Messer noch in den Händen. 

Die einzigen Worte, die man bislang den beiden hatte entlocken können, waren ein gemurmeltes „Weiß nicht“ von Peter und ein „Einfach so“ von Nils.

Es quälte Laura, dass sie nicht um die Toten trauern konnte, doch dieses Ehepaar war so weit von ihr entfernt wie der Mars oder die Sonne oder Alpha Centauri.

Sie schämte sich dafür, nichts anderes zu empfinden als die Schande, versagt zu haben und sich über das Gerede anderer Leute den Kopf zu zerbrechen, und Trauer zu verspüren, weil Nils ihr und Franks Leben zerstört hatte. Ihr fielen die Worte ihrer Mutter von heute früh ein: „ Es ist nicht wichtig, wo man beginnt, die Sache zu begreifen. Wichtig ist, dass man damit beginnt.“

Beginnen, ja. Beginnen bei sich selbst. Lass es einfach fließen und sich zusammensetzen.

So kehrte die Frage zurück, die sie Nils gestellt hatte: „Sag mir wer du bist“, und die Antwort war so absurd wie einfach. Das Böse, das Biest, das Monster?

Mag sein.

Aber es kam ihr nun so vor, als hätte Nils auf Ihre Frage zu ihr aufgeblickt, sie lange angesehen und einfach das Naheliegendste gesagt: „Dein Sohn.“

Erzählung „Im Schweigen“

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Du sitzt da und schweigst, du hältst dein Glas vor dir fest und schaust verstohlen auf die Spiegelung deines Handys, während ich rede. Machst du es dir damit einfach? Oder bist du einfach nur sprachlos?
Stopp. Ich müsste mal die Klappe halten, Luft holen, einen Schluck trinken, mal sehen, was geschieht. Ich trinke, halte mein Glas weiter umfasst und warte. Auf Antwort. Auf Reaktion. Auf irgendwas.
Die Redepause nutzt du zu einem Schluck aus deinem Glas, und da kommt der Lärm von denen, die hier sitzen, stehen, trinken, essen, reden, lachen, kichern, diskutieren und schwatzen, lästern, schimpfen, sich anvertrauen, aufs Klo gehen, vom Klo zurückkehren, die Bedienungen bahnen sich ihren Weg wie tänzelnde Eisbrecher durch die Menschen, all das spritzt Gischt um uns, die wir zwei schweigende Felsen sind in einem Meer der Bewegung und des Lärms, während ich sitze und warte, während du nochmals einen Schluck aus deinem Glas nimmst. Du stellst dein Glas ab, während ich im Schwall der Worte um uns und warte.
Siehst du einem inneren Film zu? Oder starrst du einfach nur ins Nichts? Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Es sei bedauerlich, aber verständlich, klar und in Ordnung so weit.
In Ordnung? Nichts ist in Ordnung! Aber ich kann das Rad nicht zurückdrehen, nichts wird ungeschehen sein, wie sehr ich es mir auch wünsche. Ich habe nun aufgehört zu kämpfen. Das Leben schmerzt nur solange, wie man es vergeblich zu ändern versucht. Wer aufhört, es ändern zu wollen, beginnt eine sanfte Reise auf dem Ozean der Ruhe und Stille mit dem Schiff namens Gelassenheit. Loslassen ist Befreiung.
Das Schweigen wird lang. Um uns trudelt die Welt durch ihre Bestimmung und hat mit uns nichts zu tun. Warum sagst du nichts?In meinen Därmen sprudelt die Quelle der Unruhe und im Gewirr meines Hirns beginnt das Verlangen nach Gewissheit zu sprudeln, ob ich Recht habe oder nicht. 
Wir sind am Ende, habe ich gesagt. Stein für Stein hab ich die Mauer aufgebaut, um den Schmerz fern zu halten, und habe versucht, es mir dahinter gemütlich zu machen, doch nun stelle ich fest, dass ich mich durch dein Aussperren eingesperrt habe.
An einem der anderen Tische, drei Meter links von mir, in der heimeligen Ecke dort, sitzt eine junge Frau, die ebenso wartet wie ich. Der Stuhl ihr gegenüber ist leer, ihr Blick gleitet, ohne haften zu bleiben, ihre braunen Haare fallen in Locken über die Schultern, und trotz der Entfernung und des dämmrigen Lichts, das allen Kneipen zu eigen ist, da sie der Privatheit gedimmter Schummrigkeit bedürfen, trotz dieses Lichts also, das in seiner Gemütlichkeit heischenden Trübe die Farben aller Dinge in stimmungsvolles Grau zieht, erkenne ich Dutzende Sommersprossen auf ihren Wangen und Nasenflügeln. Mit großen braunen Augen betrachtet sie immer wieder ihr Handy auf dem Tisch in der Hoffnung, eine Nachricht möge kommen, die nicht kommt. Sie wartet wie ich im Stimmentosen. Sicher ist sie traurig. Ich denke mir, dass ihr bewusst ist, dass aus anfänglichem Wartenlassen, diesem Gewebe aus Langweile und Hoffnung, ein Sitzenbleiben geworden ist, eine Säure, die im Magen eines Riesen schwappt, der sie nun zu verdauen beginnt. Mit solch einem Ausgang kann sie nicht gerechnet haben, sonst wäre sie nicht hier. Hat mit Aufmerksamkeit gerechnet, sich Wichtigkeit gegeben, über die letztlich nur der Andere entscheidet – doch niemand kommt. 
Ich sehe dich an und versuche zu deuten, was ich sehe. Die Tischplatte zwischen uns, auf der unsere Gläser stehen und unsere stummen Handys liegen, trennt Universen, wer hätte das gedacht!
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, aber nur weil ich es sagte, muss ich es doch nicht wollen! Du warst mir nahe wie ein Zahn – lange Jahre ein Teil von mir, bis die Fäulnis einsetzte, warum auch immer, und nun bist du herausgerissen aus mir, die Wunde mag verheilen irgendwann, aber die Lücke wird immer bleiben.
Du schweigst, ich warte. Ich sehe dich an und wünsche mir, dein Blick ins Nirgendwo fände dort Antwort und Lösung, wünsche mir, dass du auf den großen Fang wartest, aber Hoffnung, was ist das schon, was ist es mehr als nur ein Wort, das nur Erlösung oder Vernichtung bringen kann, das uns im Dunkel unserer Wünsche und Neigungen tappen lässt, verstrickt im Außen, dem es Spaß macht, geliebt, begehrt, verehrt zu werden, dessen sadistische Befriedigung sich nur in Vorenthaltung oder Fortreißen zeigen kann, Hoffnung, diese Zersetzung, die mein Herz zerfrisst, denn ich will nur, dass du sagst, wie sehr ich im Unrecht bin, ich will, dass du mich dazu bringst, mich bei dir für meine Worte und Meinung entschuldigen zu müssen, sag was, ein Wort von mir aus nur, oder wenigstens zeig eine Geste, einen Blick, der mir zeigt, dass ich mich irre, bitte!
Themenblöcke werden zu Sand zerrieben, Jahre rieseln von uns herab. Wortlos blickst du blicklos durch den Tisch, auf dein Getränk, drehst versonnen dein Glas, und ich warte noch immer, auch wenn nun die Gewissheit Überhand gewinnt, dass alles gesagt worden ist.
Wir sind am Ende, habe ich gesagt, und habe das gesagt,  was dir längst klar gewesen ist. Wir sind am Ende, habe ich gesagt, damit du es nicht zuerst sagen konntest, aber du hättest es nie gesagt. Nicht, weil du es nicht hättest wahrhaben wollen, sondern weil ich es längst hätte wissen müssen. Meine Worte waren ein Luftschnappen meiner Eitelkeit, die mich in der Illusion wiegen sollte, es wäre meine wohlüberlegte Entscheidung gewesen, das Wohlfühlprogramm in Zeiten des Unwohlseins, das nur mit Verblendung funktioniert.
Hinten in der Ecke trifft eine Frau ein, die sich zur Sommersprossigen setzt – das war es dann mit Sitzenlassen, das doch nur ein Wartenlassen war. Das war es dann mit Traurigkeit, die sich doch nur an meinem Tisch abspielt und die ich lieber dort drüben als bei mir gesehen hätte. 
Nun bin ich da, wohin ich gehöre: am Ende meiner Einbildungen.
Du schweigst, aber dein Schweigen sagt alles. Es ist egal, ob du nichts zu sagen weißt oder nichts mehr zu sagen hast. Die Tischplatte zwischen uns hackt uns in zwei Regionen, da erscheint die Welt in Regenbogenfarben. In den Prismen meiner Tränen offenbart sich gar das Licht als Täuschung der Sinne, die es uns bequem machen, die uns eine Welt zeigen, die so gar nicht ist, und nur in Momenten wie diesen erkennen wir es.
Wir sind am Ende, habe ich sagt und habe es nicht so gemeint. Ich wollte, dass du es mir ausredest, dass du wütend oder traurig oder sonst was bist, aber dass du wortlos da sitzt, damit habe ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, wie es hätte werden können, aber die Möglichkeit einer Möglichkeit wäre tröstlich gewesen. Ein Ende wie nun ist eine Sackgasse. Sie erzwingt Umkehr und Rückzug.
Wortlos ertaste ich Geld, viel zu viel, und lege es auf den Tisch. In mir ist Beklemmung, die den Verlustschmerz gebiert. Das Ende dieses Weges mündet in das Ende aller Worte. Das Schweigen der Worte ist ein Schweigen der Zukunft. 
So gehe ich, während du weiter schweigst und sich dein Blick in den Spiegelungen deines Handys verliert.

Meine SF-Novelle Jäger und Beute frei und komplett lesen

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Was wird aus den Menschen, nachdem die Klimakatastrophe die Welt ins Chaos gestürzt hat? Der Ausblick, den ich in meiner postapokalyptischen SF-Novelle Jäger und Beute gebe, ist düster und brutal – und komplett frei lesbar in der Buch-Vorschau der Anthologie 2101 – Was aus uns wurde bei Amazon  Einfach in jedem Browser ohne Amazon-Konto oder Kindle.  

Mit Jäger und Beute machte ich mich erstmals in die Postapokalypse auf: Ich schrieb die Novelle für die Post-Climate-Anthologie 2101: Was aus uns wurde aus dem Verlag Moderne Phantasik Gehrke, der bereits zahlreiche meiner SF-Stories in diversen Anthologien veröffentlich hat.

2101: Was aus uns wurde ist aktuell als eBook zu haben, die Printversion erscheint wie gewohnt zu einem späteren Zeitpunkt. 

Darum geht’s in Jäger und Beute:

Carl lebt in einer notdürftigen Siedlung inmitten der Hitze und Dürre und wartet sehnlichst auf den Besuch des namenlosen Jägers, der ihn nach seinem erfolgreichen Beutezug in der Öde wie immer besuchen wird. Carl und der Jäger teilen ein Geheimnis miteinander, das Carl das Überleben sichert – dass er dabei dem Jäger verfallen ist und sich nach dessen Liebe sehnt, bringt ihn gleichzeitig immer wieder in tödliche Gefahr.

Die besondere Beziehung zwischen Carl und dem Jäger, der sehr wohl von Carls Liebe weiß, wird auf eine besondere Probe gestellt. Denn etwas geschieht, mit dem keiner gerechnet hat. Wer ist hier Jäger und wer ist Beute? Die Trennlinie verschwimmt im Verlauf der Geschichte immer mehr. Wo bleiben in einer solchen Welt Moral und Menschlichkeit?

Hier haben wir es mit Menschen zu tun, die sich den gegebenen Situationen anpassen, auch wenn sie sich dabei selbst verleugnen oder verraten. Mein dunkler Entwurf einer postapokalyptischen Welt ist zwar schrecklich und blutig, aber nicht ohne Hoffnung und Gefühle. 

Dabei ist Jäger und Beute auch eindeutig aktuell und politisch geworden – vielleicht ist es sogar meine bislang politischste Story.

Viel Spaß oder gute Unterhaltung zu wünschen wäre bei diesem Text eher unpassend. So hoffe ich einfach, dass die Geschichte in ihrer Grausamkeit, Zartheit und Implikation zumindest gefällt. Hier geht’s zu kostenlosen Buchvorschau von 2101 – Was aus uns wurde mit der kompletten Story Jäger und Beute – dazu einfach auf Blick ins Buch klicken. Man muss weder Kunde bei Amazon sein, noch muss man einen Kindle oder einen anderen Reader besitzen. Die Vorschau mit der kompletten Geschichte ist mit jedem gängigen Browser lesbar. 

Meine Online-Streaming-Lesung für KOHI:Digital auf YouTube

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Eine eigene Online-Lesung im Livestream war auch für mich eine Premiere – umso mehr freute ich mich darüber, vom den Karlsruher Kulturverein KOHI dazu eingeladen zu werden. Da der Verein wie alle anderen Kulturbetriebe und -einrichtungen während der Corona-Zeit zwangsweise geschlossen hatten, entschied man sich kurzerhand zu KOHI:Digital. Dank dieses neuen Angebots liefert das KOHI via Streaming Musik, Literatur und Shows direkt nach Hause.
So war ich am Montag, den 25. Mai 2020 an der Reihe und las – moderiert von Autorin und Lektorin Simona Turini – zwei meiner SF-Erzählungen. Live und einfach von meinem heimischen Schreibtisch aus, an dem die Texte auch entstanden. Den Anfang machte Fehler im System aus der Science-Fiction-Anthologie Im Licht von Orion aus dem Verlag Modernphantastik, gefolgt von König Kunde aus der Anthologie Rebellion um Sirius City aus dem gleichen Verlag. Zu guter Letzt durfte ich noch einen kleinen Teil aus meiner SF-Novelle Wenn Sarah in den Keller ging lesen, der in der SF-Anthologie Krieg der Mondvölker erschien und in leicht gekürzter Version auch auf TOR Online erschien.

So kamen letztlich über eine Stunde eigene Lesung zusammen, die mir sehr viel Freude gemacht hat und die es auf YouTube in voller Länge zu sehen gibt.

Meine SF-Story »Wenn Sarah in den Keller ging« kostenlos bei Tor-online

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Zugegeben, das hat mich gefreut, als ich gefragt wurde, ob ich meine SF-Novelle Wernn Sarah in den Keller ging kostenlos im Fiction-Bereich von tor-online.de, der Website von FISCHER Tor, zur Verfügung stellen würde. Da das natürlich eine tolle Möglichkeit ist, musste man mich nicht zweimal fragen! Meine Aufgabe bestand noch darin, den Originaltext, der in der SF-Anthologie Krieg der Mondvölker im Verlag Modernphantastik erschien, ein wenig zu kürzen. Um das zu erreichen, habe ich hin und wieder etwas gestrafft, hier ein Satz, dort zwei. So ist die Version in der Anthologie letztlich die ungekürzte Fassung.
So bin ich nun in illustrer Gesellschaft mit Dietmar Dath, John Scalzi, Andreas Eschbach, H. P. Lovecraft, Philip Reeve, Markus Heitkamp, Michael Marrak, Jacqueline Montemurri und viele andere mehr. 

Wem der Rahmen gefällt, dem gefällt vielleicht auch meine Story, die es wie gesagt hier kostenlos zu lesen gibt.
Um was es geht?

Sarah ist umgezogen – auf einen neuen Planeten. Doch in ihrem neuen Haus fühlt sie sich überhaupt nicht wohl. Am allerwenigsten im Keller, denn dort begegnen ihr immer diese kleinen gemeinen Kobolde …

Viel Spaß beim Lesen – hier geht’s direkt zur Story.

 

Roman-Tagebuch 5: Darum schreibe ich nun erneut Dickhäuter

Ein eigenes Buch grundlegend zu bearbeiten, ist ein Privileg. Zumindest für mich. Denn es kommt weniger einer Wiedergeburt, als vielmehr einer erneuten Geburt meines Romans gleich. Vor allem, wenn es ein Buch wie mein Dickhäuter ist, das ich vor 18 Jahren geschrieben habe und seither der Ansicht war, es sei fertig. Und nun wieder eintauche und daraus etwas Größeres mache. 

Dieses Privileg ist TestleserInnen zu verdanken, die ich über Twitter und über einen Autorenstammtisch fand. Deren Reaktionen waren bedeutsam. Denn sie haben mir die positiven Dinge ebenso vor Augen geführt wie die negativen.

Zu Beginn dachte ich, es sei mit einigen Streichungen hier, einigen Umformulieren da und anderen Dialogen dort getan. Ganz sicher haben diese Anpassungen bereits etwas Positives bewirkt. Gereicht haben sie jedoch bei Weitem nicht.

So sitze ich nun da, 18 Jahre, nachdem ich Dickhäuter schrieb, und arbeite im Text, als wäre er neu. Ich sehe in mein Leben vor 18 Jahren, sehe meine Gedanken von damals und stelle dabei auch die Beschränkungen fest, die mich seinerzeit beengten.

Ich schreibe neue Szenen, sogar neue Kapitel, gebe dem Roman Fleisch, weil das Skelett, das es bislang gab, zu wenig war. Als mir eine Testleserin schrieb, sie komme in die Figur nicht hinein und finde die Geschichte daher langweilig, brachte ich diese Reaktion mit einer sehr positiven in Relation, die davon sprach, wie zu Herzen gehend und zutiefst menschlich meine Geschichte sei.

Was mich zur Überzeugung brachte, dass nichts an dem Roman zu viel war, sondern zu wenig. 

Es ging nicht darum, ein Zuviel von etwas zu korrigieren, sondern ein Zuwenig an etwas anderem.

Es fehlte an Erzählung im klassischen Sinn, und so darf ich mich nun erneut in den Dickhäuter einfühlen. Da die Geschichte tragisch ist, ist es nicht immer ein Vergnügen, denn ich war 2001 nicht in bester Verfassung. Meine existenzielle und prägende Krise merkte man diesem Roman immer an, der mit knapp unter 100 Seiten eher eine Erzählung war und aus heutiger Sicht zu konzentriert – oder egozentrisch – um eine Sache kreiste. Mit Dickhäuter schrieb ich mir Lasten von der Seele, doch ist dieser therapeutische Ansatz kein Garant für eine interessante Geschichte, die die Leserschaft erreicht. Ich habe es auch nie als Therapie, sondern als Geschichte schreiben wollen.

Heute, 2019, sehe ich viele Dinge glücklicherweise anders, und so schreibe ich einen neuen Dickhäuter. Dabei geht es nicht um die Ersetzung oder Streichung des Bestehenden – das Meiste von dem, was ich nach meiner ersten Überarbeitung im Frühjahr 2019 bereits umgearbeitet habe, wird auch in der Neuversion erhalten bleiben. Dafür gibt es mehr Einblick, mehr Welt, mehr Leben. Szenen und Momente, die ich mir nie habe vorstellen können. Facetten und Blickwinkel, die ich erstmals jetzt einnehme. Und somit auch Erklärungen in die Seele von Markus, der sich im Verlauf des Romans in einen selbsternannten Dickhäuter verwandelt. Mit jeder Zeile entferne ich mich von der Therapie, die die Geschichte 2001 für mich war, hin zu einer wirklichen, echten Geschichte. Dickhäuter wird dadurch erheblich länger als zuvor, bereits jetzt ist mit über 40 zusätzlichen Seiten über ein Drittel des vorherigen Gesamtumfangs hinzugekommen, und ich bin noch recht weit am Anfang der Geschichte. Angefangen mit weiteren Umformulierungen und Erweiterungen bestehender Kapitel ist nun mit „Welpe“ das erste komplett neue Kapitel hinzugekommen, ein weiteres namens „Pinsel“ entsteht derzeit, und noch ein weiteres ist fest eingeplant. 

Ich bin gewillt, die Geschichte so lang werden zu lassen, wie es ihr guttut. Wenn die drei neuen Kapitel und die teils massiven Ausbauten bestehender Kapitel ausreichen, soll es mir recht sein – sollten es weit mehr Kapitel werden, ist es genauso gut.

Wie lang der Dickhäuter letztlich werden wird, kann ich jetzt noch nicht sagen. Wohl aber weiß ich, dass der Dickhäuter seine Grundstruktur behalten wird. Alle Dinge, die in der ersten Version geschahen, geschehen auch jetzt. Der Ausgang von damals wird der Ausgang von morgen sein. Vieles bleibt, und das ist auch ein gutes Zeichen, es spricht für die Geschichte, die es in der kurzen Originalversion gab. 

Das Wunderbare ist dabei zu entdecken, was alles bereits im Roman geschlummert hatte, ohne ge- und beschrieben worden zu sein – es ist herrlich, Figuren nach so vielen Jahren wiederzutreffen und ihnen mehr Tiefe, mehr Leben zu verleihen.

Und ich lerne etwas über mich selbst. Dass die Distanz von 18 Jahren eine wohlige Distanz zum damals Geschriebenen ermöglicht – es ist eine Distanz auch zum damaligen Ich, das so unendlich überzeugt von dem Text war.

Dickhäuter war ein Teil meines Lebens und ist es wieder. Mein Ich von 2001 und meines von 2019 arbeiten mehr oder weniger zusammen.

Ohne das Feedback meiner TestlerserInnen wäre ich nie zu dem Punkt gekommen und klar gesehen, dass das Gute im Roman es wert ist, es besser zu machen. Denn um ein Haar hätte ich den Dickhäuter komplett verworfen und hätte ihn in der alten Form ins ewige Datengrab befördert.

Die Arbeit am Dickhäuter hat damit auch überraschenderweise mein aktuelles Romanvorhaben ins Aus befördert, doch das macht nichts. 

Es fühlt sich gut und richtig an. 

Roman-Tagebuch 4: Eine Idee endet (vorerst)

Manchmal muss man Ideen einfach aufgeben – so auch den Neustart des Romans, über den ich hier zumindest teilweise berichtet habe. Nach all den Jahren der Beschäftigung damit haben sich mir mehrere Herausforderungen gestellt.

Über die Tatsache, dass es nur einen Protagonisten gibt, habe ich schon berichtet – nun wäre eine Robinsonade wie diese nicht die erste ihrer Art gewesen, da neben Robinson Crusoe auch Marlen Haushofers „Die Wand“ ein weiteres prominentes Beispiel ist.

Gerade mit letzterem Roman hätte sich meiner immer vergleichen müssen, obwohl so gut wie nichts ähnlich zu Haushofers Roman ist – außer der Einsamkeit des Protagonisten und seinem Weg darin. 

Gerade in den letzten Monaten habe ich Fortschritte erzielt hinsichtlich Kontinuität und Gestaltung. Dennoch blieben Zweifel daran, ob es mir letztlich gelingen würde, die Story angemessen umzusetzen. Offenbar gelang es mir nicht. Und offen gestanden: Ich habe während der Arbeit daran nun auch die Lust verloren. Was nicht heißen soll, dass ich niemals weiterarbeiten werde. Aber das, was ich in den letzten Monaten erarbeitet habe, gefällt mir nicht, überzeugt mich nicht, und ich kann keine Motivation dafür schöpfen – und ich denke, das ist dann auch der springende Punkt. Es liegt weniger an dem Roman selbst, als mehr an meiner Haltung dazu. Ich arbeite an anderen Dingen, die sich größer gestalten, als ich anfangs dachte. Es ist auch eine befriedigendere Arbeit, der ich mich nun zunächst stärker widme. 

Das ist in Ordnung. 

Wie es letztlich mit meiner Version einer Robinsonade weitergeht, weiß ich nicht. Darauf kommt es auch gar nicht an. Wichtig ist nur, den Kopf freizubekommen und nicht aus dem Schreiben selbst zu geraten. Vielleicht werde ich noch eines Tages erneut von einem Blitz getroffen, vielleicht ist der Roman eines Tages tatsächlich fertig. Oder auch nicht. Es ist nicht wichtig.

Die Idee gebe ich für andere auf, die derzeit Gestalt annehmen. Es wird ein guter Tausch sein.

Vorgestellt: Mein Pseudonym Sasha Scott

Darf ich vorstellen? Sasha Scott. Mein Alter Ego, mein Pseudonym, wie immer man es nennen mag. Treffend ist beides. Warum habe ich mich dazu entschieden?

Weil ich schreibend in zwei Welten lebe und ich erfahre, dass sie nicht zueinander passen: Die Phantastik und die Literatur ohne Phantastikbezug. Für beide Welten habe ich Material, für beide Welten begeistere ich mich – aber mir ist bewusst, dass es für LeserInnen schwer sein kann, wie auch für mich: Wer als ErstleserIn in der falschen Welt landet, macht schnell einen Haken an den Rest. Ein Pseudonym ist da klarer, differenzierender und nutzt meiner Ansicht nach der Leserschaft wie auch mir gleichermaßen.

Auch unterscheidet sich mein Schreibstil teilweise erheblich in den beiden Welten und ich möchte daran auch festhalten.

So habe ich mich nun entschieden, mein bereits vor einiger Zeit erdachtes Pseudonym für die Phantastik zu wählen und unter diesem Namen auch künftig Stories in Anthologien und anderen Veröffentlichungen sowie für kommende – und bereits fertige – Romane zu verwenden.

Den Anfang macht meine bereits veröffentlichte SF-Erzählung

Wenn Sarah in den Keller ging, die in der ersten eBook-Version noch unter meinem Geburtsnamen erschien, in der nächsten Version sowie in der Print-Version unter dem Namen Sasha Scott laufen wird.

Außerdem möchte ich noch in 2019 meinen phantastischen Roman Der Wind von Irgendwo unter dem Namen Sasha Scott als eBook veröffentlichen.

Für 2020 steht der ebenfalls bereits fertige SF-Roman Vakuum an, den ich aller Voraussicht nach ebenfalls im Selfpublishing veröffentlichen werde. Hinzu kommen mindestens 2 ebenfalls bereits fertige längere Erzählungen und möglicherweise einen Band mit SF-Stories.

Unter meinem Geburtsnamen wird es 2020 die Veröffentlichung meines Romans Dickhäuter ebenfalls im Selfpublishing geben – derzeit bearbeite ich den Roman umfassend, worüber ich natürlich hier im Blog weiterhin berichten werde.

Warum ich Sasha Scott als Pseudonym wählte, ist schnell erklärt: Unser erster Hund, ein Airdale Terrier, den meine Eltern kauften, hieß Sascha – mein zweiter Hund, ein Dalmatiner, hieß Scotty. Tiefer habe ich über die Materie nicht nachgedacht, denn für mich war das Pseudonym aus beiden Namen immer so klar wie unumstößlich. 

Zu finden bin ich auf Twitter nicht nur wie gewohnt unter https://twitter.com/oliverkochnet sondern jetzt auch unter https://twitter.com/sashascottautor .

Der Bildungsbürger. Eine Tragödie im Schlussakt

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Es ist etwas passiert mit dem Bildungsbürger: War er aus Gewohnheit einer oftmals selbst erklärten Filterblase geistiger Elite nicht gebildet genug und von ihr mit dem abwertenden Prädikat des Bildungsbürgers verunglimpft, ist er seit geraumer Zeit auch jenen zu dumm, die es nicht einmal ansatzweise in ihren Bildungsstand schaffen. Besitzt der Bildungsbürger für die Hochgeistigkeit einfach nicht Bildung genug, besitzt er für die Ungebildeten einfach zu viel an Nutzlosem – was ihn letztlich überflüssig machen soll, da Bildung weder nötig, noch erstrebenswert, noch respektabel ist. Ein Vorwand, der den eigenen Mängel an Wissen und Bildung kaschieren soll.

Der Bildungsbürger als solcher ist bereits schon soweit, dass er sich selbst nicht mehr als solcher bezeichnen würde, weil er das Dauerfeuer von zwei Seiten nicht mehr abwehren kann oder will. Er muss sich nicht nur ständig Kommentare und Fragen nach seinem Stand, seiner Bedeutung und seiner nicht vorhanden Wichtigkeit gefallen lassen, er fragt sich mittlerweile selbst: Schadet diese Bildung eigentlich, und wäre ich nicht besser dran, wenn ich einfach auf sie pfeife? Und ist es unangenehm, meine Bildung zu zeigen und zu ihr zu stehen?

Was ist Bildung dann in letzter Instanz? 

Sie ist Mittel zur Abgrenzung und Waffe. Wer elitär ist, nutzt diesen Stand meist nur aus sozialen Gründen und verschanzt sich hinter Mauern. Und wer wenig bis keine Bildung besitzt, relativiert sie, indem er sie als Waffe gegen den Bildungsbürger einsetzt.

Nun kann man sich fragen, wohin das führen soll in einer Gesellschaft, in der man noch von „Mittelschicht“ als gegeben und für den sozialen Frieden und soziale Stabilität erforderlich spricht. Wo sie schrumpft, verhärten sich die Ränder um ein Vakuum, das über kurz oder lang gefüllt werden muss – fragt sich nur, mit was.

Schaut man hin, was gemeint ist, wenn man allgemein von Bildung spricht, so wird ersichtlich: Bildung wird immer mehr das, was den Einzelnen zum Ausüben einer langen Tätigkeit in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft befähigt – und das ist in erster Linie immer mehr Fachwissen und praxisorientiertes Know-how, das dem Gesetz der Geschwindigkeit und der Spezialisierung unterliegt. Schnelle Ergebnisse und Lösungen sind gefragt, die man später hübsch agil modifizieren und verwerfen kann.

Bildung als der Wert, der sie einmal war, heißt nur noch Bremse und Ablenkung vom vermeintlich Wichtigen. Der Bildungsbürger ist somit ein Bremser von allem, der zudem zu langsam ist und über keine Kenntnisse verfügt, schnell erfolgreiche und vor allem verwertbare Lösungen zu erzielen.

Aus dieser Warte ist verständlich, dass der Bildungsbürger verliert, denn er wird durch diese neue Brille betrachtet ein Amateur, der selbst den Ungebildeten unterlegen ist und bleibt, weil er offenbar aufs falsche Pferd gesetzt hat und einen Wasserkopf an Wissen durch die Gegend trägt, mit dem er keinen Blumentopf mehr gewinnt. Er versteht nicht, weiß nicht, kann nicht mithalten. Und ist somit nichts mehr wert, weil es immer weniger Menschen gibt, die Bildung als solche für sinnvoll, erstrebenswert und wichtig halten. 

Durch Abwertung seiner Bildung verliert er an Existenzberechtigung als Bürger, womit wir bei undemokratischen Tendenzen wären. Denn wer nur noch geschätzt und geduldet wird, wenn er einsatzfähig und verwertbar ist, unterlässt zahlreiche Dinge, die ihm demokratisch zustünden, weil sie sozial geächtet sind. Es bedarf nicht erst Gesetze, um etwas zu verbieten: das übernehmen die Gesellschaftskreise schon von ganz allein.

Wir haben es also nicht einfach nur mit einer Ironisierung und Abwertung einer wie auch immer gearteten Gesellschaftsgruppe zu tun. Sondern mit einer schrittweisen Auflösung an Grundwerten und -rechten zugunsten eines Marktes, der sich um Verfassungen nicht schert: Bildung und Bürger nämlich. 

Wir sollten besser aufpassen.

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