Aktuell

Fotos als reine Information oder: Wozu das alles?

//

Kürzlich suchte ich zum Testen eines mobilen Druckers ein Foto auf meinem Smartphone.
Es traf mich wie der Schlag: Ich fand nur mit Mühe eines, das den Ausdruck wert war. Wozu, frage ich mich nun, habe ich all die anderen Fotos gemacht, wenn sie allesamt nicht gut genug waren, gedruckt zu werden?
 Abgesehen von meinen fotografischen Fertigkeiten: Was sind all diese gemachten Fotos, die mein Smartphone bevölkern? Was war ist Sinn? Und haben sie noch immer einen Sinn?

Reine Information, sonst nichts

Die Sache ist klar: All diese Fotos sind keine Fotos an sich, keine bildlich eingefangenen Motive – sie sind reine Information und sonst nichts. Ich habe sie gemacht, um einen Post in sozialen Netzwerken zu bebildern, damit man sehen konnte, worüber ich schrieb. Sie dienen als Bestandteil einer Beitragsgrafik im Blog. Ich hatte sie gemacht, um sie an andere Personen zu schicken – nicht als Foto, sondern als eine reine Information: Das da meine ich. Schau mal. Ich wollte damit erreichen, dass sich andere ein Bild von etwas machen konnten, worüber ich sprach.
Diese Fotos sind fast wie Untertitel zu einer Nachricht.

So hatte ich meine Fotos noch nie gesehen: Ob sie auch als Foto selbst, als Bildkomposition Bestand hätten. Es ist ernüchternd zu wissen, dass dem nicht so ist.
Diese Fotos sind Information, nicht mehr. Kalte, seelenlose, unkünstlerische Information, Bebilderung zu einer Mitteilung. Kontext allenfalls, vielleicht auch Erinnerungsstütze.
Von Motiv kann man nicht sprechen. Was ich da fotografiert habe, sollte Nutzen bringen, etwas zeigen, anstatt etwas darzustellen. Sie hatten und haben selbst keine Aussage. Sie sind reine Anhänge. Rein künstlerisch gesprochen wertloser Informationsmüll. Sie sind da, um einmal gesehen und danach vergessen zu werden.

Ist es das, wofür wir hauptsächlich Fotos machen? Um ein „Guck mal” in die Welt zu schreien in der Hoffnung, jemand blickt darauf, liked es kurz und hebt damit kurzfristig unseren Hormonspiegel an, weil wir damit wissen, dass man uns bemerkt hat?

Warum habe ich sie überhaupt noch?

Ich schaue nun auf all die Fotos und frage mich: Warum habe ich sie überhaupt noch, wenn sie für sich selbst nichts darstellen? Selbst Fotos von Orten und Landschaften sind langweilig, schnell dahingeknipst, wofür? Damit ich sie mir später einmal ansehe? Sie sind langweilig. Sie sind unausgegoren. Sie stellen überhaupt nichts dar, sind reine Funktion: Mich zu erinnern nämlich. Sobald ich auf diese festgehaltene Langeweile, dieses geknipste Unvermögen schaue, muss meine Erinnerung an den Tag, den Moment womöglich, den Rest übernehmen und die Langweiligkeit dieser Fotos ausgleichen. Was ich mir nicht ausdrucken würde, weil es einfach so schlecht ist, schaue ich mir doch auch auf Smartphone oder Tablet nicht mehr an. Oder ist der Anspruch bei digitalen Fotos so dermaßen gesunken?

Eigentlich könnte ich nun auf einen Schlag mehrere hundert Fotos einfach löschen, sie haben ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Sie gaben einer Nachricht Futter, einem Post ein Bild, sie waren Information zu einem bestimmten Punkt, als ich sie machte, um sie mitzuteilen. Niemand wird sich an die Nachricht erinnern, ebensowenig an das Foto. Die Info ist gegeben worden, die Info ist angekommen, die Info ist vergessen worden, danke, nächste – wie das so ist mit Infos. Ihr Nachrichtenwert dauert sogar noch kürzer als die Zeit, in der sie entstehen. Ex und hopp.
Und nun?

Wer damit, und warum mache ich das alles?

Alles löschen, weil eh alles überflüssig ist? Ja, zumindest das Meiste davon. Künftig bessere Fotos machen? Nun, wozu? Wenn die meisten ohnehin nur entstehen, um einer Nachricht als Anhang oder Kontext hinterhergeschludert zu werden, muss man sich nicht abmühen, Wertvolles zu machen – es wird auch gar nicht gelingen. Denn die Anlässe für derlei Fotos sind überhaupt nicht wichtig genug, um sich Mühe zu geben. Man wirft eine Information als Nachricht in den endlosen Strom anderer Informationen als Nachricht. Niemand würde die Mühe zu schätzen wissen, und sind wir ehrlich: Die Nachrichten selbst sind die Mühe nicht wert, weil sie nämlich keinen anderen Sinn haben, als das schon erwähnte „Schau mal“ zu bebildern. Es sind Nachrichten geringer Güte, die nur zeigen, schaut mal, wo ich bin, was ich habe, worüber ich mich freue. Sie sind Information zur Kommunikation, mehr nicht. Fotos sind sie vielleicht technisch, aber inhaltlich nicht. Sie sind die schlechte Serie ohne Sinn und Verstand, die technisch eine Serie ist, aber erzählerisch keinen Pfifferling wert ist.
Womit ich mich nun frage: Warum mache ich das alles? Eigentlich kann ich mir das Meiste davon sparen. Frei nach Rilke: Ich muss mein Leben ändern.

Von Haiku, Festhalten und Loslassen

///

Manchmal gibt es keine andere Möglichkeit für mich, sofort etwas aufzuschreiben.

Dabei kommt es auf Schnelligkeit an, denn was spontan auftaucht, ist oft schneller wieder fort, als man es sich merken kann. Auf Äußerlichkeiten muss ich dabei verzichten. Hauptsache, ich kann festhalten, was sich da plötzlich in meinem Kopf gezeigt hat.

Es erinnert mich daran, aus einem fahrenden Zug oder Auto einen Zweig oder eine Blume zu greifen. Schnell sein, koordiniert und konzentriert vorgehen – oder es verpassen.

So entstand dieser Haiku, eilig ohne Rücksicht auf vernünftige Handschrift festgehalten:

Lass es, lass los, lass
fließen, was zu fließen hat
sei gelassen, frei

Festhalten: das ist so bedeutungsvoll in unserem Leben. Weil so vieles flüchtig ist. Die Momente, die Gelegenheiten, die vorüberziehen, teilweise an uns vorbeirasen, machen uns schnell wehmütig. Wir wissen nämlich von all den Momenten und Gelegenheiten, die wir nicht festgehalten haben, auf welche Weise auch immer.

Dass das Haiku um genau das Gegenteil geht, nämlich das Loslassen, entbehrt nicht gewisser Ironie. Doch es ist eben das Loslassen, das dem Wunsch, alles festzuhalten, sinnvoll begegnet. Denn trotz aller Bemühungen, Momente festzuhalten und Gelegenheiten zu ergreifen, wird es nie immer gelingen. Das Verlieren durch Vorbeisausen ist ein Teil des Lebens, dem man Akzeptanz begegnen sollte. Zudem nicht jeder Moment den Aufwand wert ist, nicht jede Gelegenheit mündet im Guten, nur weil man sie ergreift.

Die Gabe, loszulassen, wappnet gegen Verlustgefühle und leert den Akku jener Akkumulationsmaschine, die uns ständig antreibt, festzuhalten, auszubauen. Beim Festhalten geht häufiger um das Haben als ums Sein.

Beim Loslassen verhält es sich meist umgekehrt.

In diesem Haiku treffen sich beide. Eilig aus dem Vorbeisausen des Gedankenstroms gepflückt und dem Vergessen entrissen, steht er nun da in der Welt, sichtbar, lesbar. 

Und sagt: wäre er vergangen, wäre es in Ordnung gewesen.

Der offene Bücherschrank als Projekt und Ort

//

Den offenen Bücherschrank nutze ich oft, um dort alte Bücher abzugeben.

Eigentlich sind es zwei Bücherschränke in der Nähe. Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass man den eigenen Büchern damit ein zweites Leben schenken kann – und anderen die Möglichkeit, interessante Bücher zu lesen, die sie sich vielleicht selbst nicht leistet könnten. Für mich haben Bücherschränke deshalb eine soziale Dimension, denn sie sind soziale Projekte und Begegnungsorte mit Mensch und Literatur.

Mich von Büchern zu trennen, fiel mir schon immer schwer. In meiner ersten Wohnung lagerte ich kistenweise in meinem Kellerraum ab. Beim Umzug entschied ich schließlich: Sie müssen fort.

Hätte ich niemals ein Buch abgegeben, hätte ich inzwischen, was ich mir immer erträumt habe: Eine eigene Bibliothek, mit vor Büchern überquellenden Regalen. Natürlich wären viele zweifelhafter Qualität darunter. Viele Romane, die ich mir schon als Schüler als preisreduzierte Mängelexemplare nach Hause schleppte. Doch es wären auch sehr viele interessante Titel darunter, heute manchmal gar wahre Schätze – genau das hat mich oft dazu bewogen, auch Fachliteratur aus dem Studium oder verschwenderische Gesamtausgaben zu verkaufen, zu teils enormen Preisen (die dreibändige Sammlung aller Gedichte von Theodor Fontane der Großen Brandenburger Ausgabe beispielsweise, deren Verkauf mir damals viel einbrachte, mich aber heute noch zur Verzweiflung treibt).

Und doch weinte und weine ich jedem einzelnen Buch noch heute hinterher. Einige habe ich inzwischen sogar antiquarisch wieder angeschafft.

Bücher sind für mich Liebe, eben gerade dann, wenn sie gedruckt sind. Diese Liebe empfinde ich eBooks gegenüber nicht, auch wenn ich sie sowohl kaufe als auch lese.

An den Bücherschränken habe ich einige Male bemerkt, wie sich Menschen auf die Titel stürzten, die ich dort abgelegt habe. Wenigstens das war jedes Mal ein gutes Gefühl. Da ist Interesse, Wertschätzung, sowohl an Thema, als auch an dem Buch als Medium.

Wenn ich sehe, wie sehr die Bücher dort Freude verbreiten, freut mich das besonders. Und so wandern immer wieder Bücher dorthin.

Aber nicht nur die: Ich gebe auch Magazine dort ab, denn auch für sie habe ich eine Schwäche. Thematisch ist es breit, die Magazine sind teils aufwendig und so teuer wie gängige Taschenbücher. Was ich an Text und Gestaltung, Könnerschaft und Herzblut darin sehe, ist beachtlich – sie stehen Büchern meist in nichts nach. Deshalb sollten sie auch so behandelt werden. Vielleicht werden derlei Magazine eines Tages auch als Buch angesehen, verdient haben es viele Publikationen.

Einige von ihnen sammle ich und behalte sie entsprechend. Aber viele auch nicht. Es ist ein breites Spektrum, und ich habe die Hoffnung, dass es Menschen inspiriert, dass sie Titel kennenerlernen, die sie vorher nicht kannten. So ist der Bücherschrank eine stimmlose Empfehlungsplattform.

Auch alte Filme, vorwiegend auf DVD, landen dort und haben den gleichen Effekt.

Jedes Mal also, wenn ich mich schweren Herzens auf den Weg mache, um dort etwas abzugeben, kann ich mir sicher sein, dass es nutzbringend ist. 

Ja, das macht glücklich.

Unkraut, das kein Unkraut ist

////

Unkraut nennt der gelernte Fachjargon das, was da zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons wächst. Unkraut deshalb, weil es dort wächst, wo es nicht wachsen soll.

Wir lernen: Ob eine Pflanze Unkraut ist oder nicht, ergibt sich aus dem Ort, an dem sie das Pech hat, zu wachsen. Wo bestimmt wird, dass sie dort nichts zu suchen habe, wird aus einer Pflanze also ein Unkraut, ein abwertendes Urteil.

Ist das nicht bedauerlich?

Ich habe nachgeschaut: Was da zwischen zwei Bodenplatten sprießt, nennt sich Ruprechtskraut oder Geranium Robertianum. Sie gehört zu den Storchschnabelgewächsen, Paracelsus hat sie als Heilpflanze beschrieben. Erste Aufzeichnungen gab es laut Wikipedia bereits im 13. Jahrhundert – damals wurde dieses „Unkraut“ zu medizinischen Zwecken in Gärten angebaut.

Was da nach eingängiger Meinung wächst, soll helfen gegen Frauenleiden, Zahnschmerzen, Prellungen, Fieber, Gicht, Nieren- oder Lungenleiden, Herpes und Nasenbluten. Auf Wikipedia ist weiterhin zu lesen:

Der Aufguss von der Pflanze wurde als Stärkungsmittel eingesetzt und galt auch als wirksam gegen Durchfall. Auf Wunden aufgelegt sagt man ihm antiseptische Wirkung nach. Aufgrund des eigenartigen Geruchs der zerriebenen Blätter wird es auch als mückenabwehrende Pflanze angesehen.

Daher, meine Damen und Herren, bitte: DAS soll ein Unkraut sein? 

Diese Pflanze da, die ich nun nachdrücklich nicht als Unkraut bezeichnen möchte, lasse ich wachsen, zwischen zwei Bodenplatten meines Balkons. Denn sie ist wertvoll – und sie sieht gut dort aus mit ihren kleinen Rosa Blüten. Woher kommt die Versessenheit auf das Ordnungsprinzip durchgehender Stein– und Betonflächen? 

Ich freue mich über dieses unvorhergesehene Sprießen von Natur, die mein Leben eindeutig mehr bereichert als stört. Übrigens ist dieses eine Ruprechtskraut nicht allein auf meinem Balkon, denn ich habe weitere Geschwister entdeckt. 

Was ich dazu sage? Schön! Kommt nur alle her. 

Wir können aus diesem Beispiel lernen: Gängige Muster der Abwertungen sollten wir uns sparen, denn sie sagen mehr über uns selbst aus als über das Objekt der Abwertung.

Oberflächliche Betrachtung führt zu falschen Schlüssen. Ein Kennenlernen und Schätzenlernen findet nicht statt.

Und mehr noch: Man verkennt, von welcher Fülle man umgeben ist, wieviel Gutes, Schönes und Vernünftiges in der Welt ist, das wir allzu gern bereit sind, aus Unkenntnis und Unlust zu vergiften – und damit auch uns selbst.

Von der Schrulligkeit kostenloser Wochenendzeitungen

//

Älterwerden und Altwerden sind glücklicherweise zwei verschiedene Zustände. Dennoch kommt es vor, dass ich mich frage: Werde ich alt? Nicht wegen körperlicher Gebrechen oder Vergesslichkeit, sondern wegen Verhaltensweisen, dir mir, als Älterwerdender, wie die eines Altwerdenden vorkommen.

Eine dieser schrulligen Verhaltensweisen, die sich mir angeheftet haben, ist das interessierte Durchblättern der kostenlosen Wochenendzeitung. Vor ewigen Jahren habe ich sie selbst eine Weile lang ausgetragen. Ich war durch meinen damaligen Wohnort gewandert und hatte fremden Menschen das in ihre Briefkästen gestopft, was im Fachjargon allen Ernstes „Werbeträger“ heißt – also gedrucktes Drumherum, um darin Werbeprospekte zu versenken. Damals war ich erstaunt, dass manche Leute schon in ihren geöffneten Fenstern lagen, weil sie so sehr darauf gewartet hatten. Es gab manche, die sich bei mir beschwerten, dass ich so spät kam. Ein Mensch beschwerte sich sogar bei der Firma über mich. Ich käme erst am Vormittag, dabei vermisste man das Blättchen bereits zum Frühstück. 

Ich fragte mich damals, was diese Menschen nur an diesen kostenlosen Werbeträger-Blättchen finden mochten.

Nun bin ich selbst einer geworden, der sie Woche für Woche durchblättert. Immerhin vermisse ich sie nicht morgens, manchmal ist sie erst Sonntag da statt Samstag, und das ist mir noch immer egal. Aber wenn sie da ist, blättere ich sie aufmerksam durch, lese gar manche Beiträge.

Was ist bloß mit mir los?

Vielleicht einfach gar nichts oder vielleicht eine Menge. 

Früher habe ich diese Druckerzeugnisse respektive Werbeträger mit dem Aufkleber „Keine kostenlose Werbung und kostenlosen Zeitungen“ abgewehrt. Bis die Hausverwaltung entschied, uns allen der schöneren Optik wegen einheitliche Aufkleber zu verpassen – auf denen lediglich „Keine kostenlose Werbung“ stand. Fortan also hatte sich das kostenlose Zeitungswerbeträgerding in meinen Briefkasten und somit in mein Leben geschoben. Nach dem Motto „Wenn sie schon da ist, kann ich auch reinschauen“ muss es irgendwann passiert sein: Gewöhnung setzte ein. Ich mutmaße, das es der gleiche Impuls so vieler Leute sein könnte, abends einfach den Fernseher einzuschalten, um „fernzusehen“ . Und wie stehe ich zu den kostenlosen Wochenendblättchen?

Ich habe mich gefragt, ob sie in den letzten Jahren möglicherweise besser geworden sind – so finde ich zuverlässig Artikel über Orte in der nahen und weiteren Region, die ich anschließend besuchen möchte. 

Auch ist mir das ein und andere Mal eine Veranstaltung in der Stadt begegnet, die ich sonst verpasst hätte.

Mit diesem sonst so geschmähten Medium hat sich also ein praktischer Nutzen verknüpft. Hatte ich früher einfach keinen Sinn dafür, dass ich all das übersehen habe? War ich früher einfach zu jung dafür – als Antithese zur Frage, ob ich nun stattdessen alt werde? Und wenn dem so wäre: Ist das wöchentliche interessierte Blättern in diesen Wochenendzeitungen dann doch nur eine beruhigende Kombination aus positiv besetztem Älterwerden und dem damit verbundenen weiteren Blick auf Welt und Umwelt?

Wer weiß – ich denke, letztlich ist das alles nicht so wichtig. Schließlich mischt sich bei derlei Überlegungen schnell ein Meinungs-Cocktail aus verschiedenen Instant-Zutaten zusammen, die gemeinsam keinen guten Drink ergeben. Es stehen uns nämlich Vorurteile, Werturteile, Meinungen, Ansichten, Befürchtungen ebenso im Weg wie auf der anderen Seite Wünsche, Ziele, Ambitionen. All das zusammengerührt kann man Ego nennen, und das sehen nicht nur die Buddhisten als nicht objektiv, sogar als schädlich kritisch.

Auch dieses Wochenende habe ich mich also dem Printerzeugnis gewidmet und fühlte mich ganz gut damit. 

Womit doch alles gesagt und entschieden ist. 

Warum ich Twitter doch nicht verlasse

//

Fast hätte Twitter mich in die Flucht geschlagen. Wieder einmal. Wieder einmal nur fast.
Dabei habe ich kürzlich gepostet: Ich gebe meinen Twitter-Account auf. Ich sei dafür bei Mastodon.
Nach der Ankündigung fühlte ich mich befreit. Twitter ist Last und Problem. Das war schon vor dem Irrsinn von Elon Musk so. Es gibt für mich viele Gründe, Twitter entnervt zu verlassen.

Zu extrem, zu viel und keine Lust und Zeit

Zu viele extreme Menschen sind dort. Zu viel Agitation, Wut und Empörung gegen alles und jeden.
Zu viel Unsinn. Zu viel Überflüssiges. Twitter hat mich seit 2009 gelehrt, Ironie kaum noch zu ertragen, weil es dort für meinen Geschmack Überhand nimmt.

Aber ja: Mir fehlen auch Zeit und Lust. Das für mich Interessante von dem für mich Uninteressanten zu trennen, finde ich auf Dauer anstrengend. Ich möchte nicht ständig präsent sein oder anderen bei ihrem Präsentsein verfolgen.

Ich poste kaum noch Privates, weil ich Privates inzwischen entweder lieber für mich behalte oder auf anderen Kanälen anders mitteile.

Eine Entfremdung

Wir haben uns entfremdet, Twitter und ich. So war es mir genug – wieder einmal. Und wieder einmal kommen mir Zweifel, je näher der Tag rückt.

Warum? Die Motive ändern sich. Zuletzt fühlte ich mich endgültig davon abgestoßen, dass Elon Musk die Reichweite zahlender Kunden gegenüber nichtzahlenden erhöht – und dabei vor allem Rechte bevorzugt hat. Es war das Tröpfchen, das mein Fass zum Überlaufen brachte. Nicht in Wut oder Verzweiflung. Sondern aus Resignation und Protest. Ich wollte in diesem Umfeld nicht mehr sein.

Da bleiben aus Protest

Warum werde ich nun doch nicht gehen? Aus Protest. Nicht, weil ich glaube, ich hätte wundervolle Inhalte. Sondern weil ich mir sonst selbst sagen müsste, vor Rechten, Wahnsinnigen und Pöblern, aber auch den ganzen Dauerempörten aus allen Ecken zu kuschen. Ihnen einfach ihre Spielwiese zu überlassen, wollen sie doch nur. Endlich wären sie unter sich.

Solche Milieus freut es, wenn sie denken, gesiegt zu haben. Sie beglückwünschen und bestärken sich. Dieses Feld haben sie eingenommen, okay, welches reißen wir uns als nächstes unter den Nagel? Die anderen gehen ja einfach. Damit lässt man Brunnenvergifter weiter Brunnen vergiften.

Ich bin daher zum Schluss gekommen: Ich denke nicht daran, das Feld zu räumen. Zumal es eine Menge anderer Menschen gibt, denen ich folge und sie mir, die wie ich darüber klagen können, dass immer mehr Leute aufgeben. Denen ich gerne folge, deren Inhalte mich interessieren. Denn es gab und gibt dort Tolles!

Aufgeben ist keine Option

Aufgeben? Nein, ich denke nicht daran. Ich ziehe lieber meine Ankündigung zurück als mich vertreiben zu lassen. Mehr noch: Ich habe mir nun sogar vorgenommen, Twitter stärker zu nutzen. Meine Themen dort zu erweitern. Schon aus reinem Trotz. Aber auch, um die vergifteten Brunnen mit anderen Inhalten zu verdünnen, die nichts mit dem ganzen Unfug zu tun haben, vor dem ich fast geflohen wäre
Ich werde auch Mastodon entsprechend bespielen. Und man findet mich weiterhin bei Twitter.

Auf geht’s!

Dieses Buch ist eine Aufgabe für mich

/

Dieses Buch habe ich mir nicht ausgesucht. Es wurde mir zum Begräbnis meines Vaters geschenkt. Anfangs wusste ich nicht, was ich damit tun sollte. Ein Buch des Friedhofs? Ich hielt das für seltsam, ohne mir richtig klar zu sein, warum eigentlich. Nun ist es also schon ein halbes Jahr da und wartet darauf, einen Sinn zu bekommen.
Nun habe ich ihn gefunden.

Der Tod meines Vaters hat viel in mir ausgelöst – vor allem, weil ich an seinem Bett saß, während er starb. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sterben sah. Auch das hatte ich nicht gewollt, doch schließlich ist geschehen.
War es schlimm?
Tatsächlich nicht – genau das macht es so denkwürdig.

Seitdem habe ich so Einiges über den Tod im Allgemeinen und sein Sterben im Besonderen geschrieben. Einiges davon wurden Gedichte, Haiku sowie Haiku-artige Texte, die sich nicht an das Silbenschema 5-7-5 halten.

Während ich sie über die letzten Monate schrieb, ist mir dieses Buch gar nicht eingefallen, das bei mir lag und dessen Nutzen mir nicht klar war.
Wegwerfen habe ich nicht übers Herz gebracht – es hat eine Aufgabe, einen Sinn. Ein Buch über den Tod achtlos zu entsorgen, kam und kommt mir nicht richtig vor.

Dann wurde mir klar: Dieses Buch hat nur dann eine Aufgabe, wenn es zum Träger dieser Texte wird.
Also werde ich mich hinsetzen und sie handschriftlich übertragen – nicht alle auf einmal, sondern langsam eines nach dem anderen. Die Langsamkeit hat ihren Sinn in der Aufmerksamkeit, die ich dem Schreiben schenken möchte. Ich möchte nämlich so schön wie möglich schreiben.
Dafür muss ich noch ein wenig üben, denn klar ist: Was einmal darin geschrieben steht, bleibt darin. Jeder Fehler, Patzer und Aussetzer wird Teil dieses Buchs bleiben.

Ich möchte mir also alle Mühe geben.

Wissen aneignen, Neues lernen: So mache ich es

//

Nein: Es gibt nie genug Wissen, das man sich aneignen kann. Die Welt ist dermaßen vielschichtig, dass sich ständige Aneignung von Wissen immer lohnt – auch und ganz besonders auch bei Themen, die nicht immer deckungsgleich zu eigenen Hobbies und Interessen sind. Den Schritt zur Seite, der Blick nach oben oder unten vervollständigt vielmehr das Verständnis von Welt und Umwelt.

Wie eignet man sich neues Wissen an? Das hat viel mit eigener Präferenz zu tun, aber auch damit, was man am besten verarbeiten kann.

Ich gebe zu: Bei mir sind und bleiben es Bücher und Zeitschriften. Nicht, weil ich so groß geworden bin (was ich bin), und auch nicht aus Liebe zu Gedrucktem (die ich habe). Sondern weil ich damit nachweislich am besten umgehen kann. Beim Lesen bin ich auf besondere Weise aufmerksam und lernfähig.

Das wird auf Dauer teuer, denn die meisten Titel kaufe ich mir selbst. Je nach Buch bevorzuge ich sogar die gedruckten Ausgaben, um mir mit Stift und Handschrift eigene Notizen zu machen. Das geht in eBooks natürlich auch. Aber für mich schrecklich unpraktisch. Doch es ist, wie es ist.
Ich bin ein Bücherfresser, und derzeit ganz besonders. Fast kann man sagen, ich atme sie ein – fast alles Sachbücher übrigens. Romane haben da zunächst Sendepause, und es wird noch eine Weile so bleiben.
Es gibt es so viel zu wissen, und ich WILL es wissen! Am Wochenende las ich ein Buch, in den Tagen davor ein anderes, nun steht das nächste auf der Agenda. Gekauft habe ich mir allein in zwei Wochen fünf Bücher – als eBook.
Man könnte sagen, ich habe ja ordentlich zu tun. Das stimmt. Und ja: Das ist gut so.

Wer schreibt, hat immer zu tun

/

Wer schreibt, hat immer zu tun. Denn es gibt immer etwas zu schreiben. Das ist kein Zwang, sondern Leben. Ich weiß nicht, wie es ist, nicht zu schreiben. So wie Entrepreneure für ihr Start-up leben und Gründer für ihr Business leben, gehe ich schreibend durch mein Leben. Das macht einsam? Keineswegs. Es macht mich glücklich.

Vieles von dem, was ich schreibe, bekommt niemand zu sehen. Es kommt auf Sichtbarkeit auch gar nicht an. Es geht darum, am schreiben zu bleiben. Sich hinzusetzen und es zu tun. Nicht, weil es da ist, sondern weil es getan werden muss. 

Schreiben ist handeln, schreiben ist arbeiten. Auch für das Private, für die Schublade, für den Mülleimer. Denn am Ende steht immer etwas, was gelesen wird, das den Weg all dessen genommen hat, das niemand lesen wird. 

Also komme ich nach einem Tag voller schreiben heim und schreibe. Irgendwie, irgendwas. 
Und diesmal entstehen Texte, die bald alle kommen werden. 

Ich bin für etwas da oder: Was heißt schon Talent?

//

„Ich bin für etwas da.“ Sagt man sich manchmal ganz gerne, wenn es darum geht, sich sich selbst zu vergewissern. An diesem Punkt ist diese Methode aber auch schon zu ihrer größten Entfaltung gekommen. Das ist unterm Strich eher wenig. Denn was wollen wir uns oder anderen damit sagen? Dass ich ein Talent habe? Eine Bestimmung? Gar die Pflicht, mein Talent meiner Bestimmung gemäß zur Entfaltung zu bringen?

Alter Falter, lassen wir den doch besser auf seinem Zweig sitzen und schütteln uns.

Habe ich Talent? Ja, ich denke schon. Ist es das Talent zum Schreiben? Möglich – aber kommt es darauf an? Fakt ist: Seit 20 Jahren bin im schreibenden Beruf. Seit ich elf Jahre bin, schreibe ich Geschichten und Bücher. Da darf ich eher von Erfahrung sprechen statt von Muse, Begabung oder Talent. 

Mozart hatte Talent, als er keine vier Jahre alt war. Ab dann konnt er’s, vermutlich besser als die meisten, was möglicherweise auch mit seinem Talent zu tun hatte – aber Talent wozu überhaupt? Zur Musik oder zur Mathematik, zu Methodik, Harmonielehre? Vielleicht bestand sein Talent mehr darin, aufmerksamer und lernwilliger gewesen zu sein als andere und damit schneller Fertigkeiten erlernt zu haben, die ihn schon früh über jedes Maß hinaushoben. Verbunden mit frühen Erfolgserlebnissen, die ihn dazu brachten, kontinuierlich am Ball zu bleiben, eine entsprechend frühe, permanente Erziehung durch sein musisches Umfeld und durch ständiges Üben immer besser zu werden, entwickelte sich dieser Mensch zu dem Meister, der er schließlich wurde. 

Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, ob es Mozarts Bestimmung war, erst Wunderkind der Musik und dann einer der größten Komponisten der Musikgeschichte zu werden. 

Die Tatsache, was er wurde, hat eben auch viel mit seinem Umfeld, mit Förderung, Übung und der Gabe zu tun, Erlerntes anzuwenden. Welche weltbewegenden Torten hätte er also kreiert und gefertigt, wenn er in einer Konditorenfamilie hineingeboren worden wäre?

Die Aussage „Ist bin für etwas da“ ist an sich leer und damit wertlos. Dass man dafür da ist, was man beruflich tut oder was einen erfüllt, ist nur so dahingesagt.

Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn andere Verhältnisse geherrscht hätten. Wäre ich ein „begnadeter“ Mechaniker oder ein „passionierter“ Physiker geworden, wenn die Dinge anders gelaufen wären?
Habe ich also ein Talent zum Schreiben, oder ist mein Schreiben anderen Tatsachen zu verdanken, die nichts mit Talent, Gabe, Begabung zu tun haben?

Bleibt am Ende gar nichts weiter als die Kombination aus Auffassung, Prägung, Übung, Praxis und Erfahrung? 

Ich weiß es nicht. Und wenn ich ehrlich bin, ist es auch völlig nebensächlich. 

Vatertag für meinen toten Vater

//

Heute ist Vatertag 2022. Hätten wir diesen Tag wie immer auch diesmal ignoriert, wenn du noch leben würdest? Nun, da du 3,5 Monate tot bist, denke ich zum ersten Mal daran, dass heute Vatertag ist. Wir haben an diesem Tag nie telefoniert. Haben uns nicht gesehen. Selbst eine Nachricht hat es nicht gegeben. Du fandest diesen Tag immer albern und ich war ganz froh darüber. Es war ein Feiertag, an dem man frei hatte und fertig. 
Als ich dich einmal aus Jux anrief und „Alles Gute zum Vatertag“ ins Telefon trällerte, hast du mich lachend gefragt, ob ich „noch alle auf der Latte“ hätte. 
Der Spaß war gut.

Abgesehen davon ist es uns vor einiger Zeit ergangen wie manchen Paaren in langjährigen Beziehungen: Wir haben uns auseinandergelebt. Das war für beide nicht schön, aber hätten wir es ändern können? In den letzten Jahren hat sich eine Leerstelle in unser beider Leben geschwiegen, die wir bewusst nicht wahrnahmen. Manchmal keimte noch das auf, was vor Jahren verloren ging, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis, dass da ein Zug abgefahren war, warum auch immer.

Doch nun, da der Vatertag ohne Vater da ist, halte ich inne. Es fühlt sich seltsam an. 

Der Tod kam immer schneller und schließlich plötzlicher, als wir alle ahnten. Wir hatten keine Zeit mehr für klärende Gespräche. Ich saß an deinem Bett und war bei dir, als du starbst. 

Das merkwürdige Schweigen zwischen uns schweigt seitdem. Dafür tönt die Frage, wie es so weit hat kommen können. Wir haben bis zum Schluss gesprochen, doch alle Worte glühten wie ein Ereignishorizont um ein Schwarzes Loch, das nur du deuten konntest, wenn überhaupt.

Habe ich all die Fragen gestellt, die nötig gewesen wären? Hättest du all die Antworten geben wollen, auf die ich gewartet habe? Hättest du sie selbst gehabt?
Wer weiß.

Seitdem frage ich mich viele Dinge und weiß doch auch, dass es zu spät ist. 
Wieder halte ich inne. Denn diese beiden Worte dröhnen: Zu spät.

Würdest du heute noch leben und wärst nicht so krank geworden, hätten wir diesen Tag wie immer vorbeiziehen lassen. 

Würdest du heute mit deiner Krankheit noch leben: Ich hätte angerufen. Hätte sorgsam das Wort Vatertag vermieden, aber ich hätte angerufen, denn es war ja klar: Der Krebst würde dich bald umbringen. In solchen Zeiten überspringt man die Kluft, die trennt. 

Aber ich rufe dich heute nicht an. Der Krebs hat dich geholt, am Valentinstag, ausgerechnet. 

Deine Handynummer ist noch eingespeichert, und riefe ich an, träfe sie auf …

Heute ist also Vatertag 2022. Wenn du noch leben würdest, hätten wir diesen Tag nicht wie immer ignoriert. Du hättest dich gefreut über meinen Anruf. 

Für den es nun zu spät ist. So ist heute ein besonderer Vatertag. Vermutlich der erste von vielen.

Erzählung „Mach schon“ komplett im Blog lesen

//

Die Welt unter ihm ist klein. Ängstlich sieht er hinab, wo sie stehen und zu ihm hinauf rufen: „Mach schon!“ 
Er will nicht, er kann nicht, aber es nicht zu tun wäre zu peinlich.
Sie blicken zu ihm hoch, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier oben friert, und der nur eines will: umkehren.
„Nun mach schon!“ rufen sie wieder. Es ist doch nicht schwer. Sagen sie da unten. 
Für ihn aber schon. Und er schämt sich dafür.
„Los jetzt! Nun mach endlich!“ 
Warum sind sie nicht einfach still, seine Freunde, die ihm dabei zusehen, wie er ängstlich am Rand des 10-Meter-Bretts steht, wo der Wind pfeift und die Welt schrecklich überschaubar ist. Um ihnen zu beweisen, kein Feigling zu sein, ist er entschlossen den Sprungturm hinauf geklettert, um eigentlich vom 5-Meter-Bett zu springen – doch es war voll, hinter ihm hat ihn die ungeduldige Schlange weiter hinaufgedrängt, am geschlossenen 7-Meter-Brett vorbei, als ihm immer schwindelig wurde und der Beton am Fuße der nassen Stahlleiter  mit jedem Zentimeter an Härte gewann.
Nun blickt er auf das Becken herab – eine Unendlichkeit unter ihm, nichts weiter als ein kleines blaues Quadrat, um das die Massen tosen und Neugierige darauf warten, wie die Mutigen sich aus großer Höhe hinabstürzen. Augen wie Speere sind auf ihn gerichtet. Jenseits des Kreises der Neugierigen macht jeder, was er will. Da wird geplantscht und gebadet, getaucht und vom Beckenrand geplumpst, und über die Wiesen ringsum liegen sie in der Sonne, tollen, lesen, schlafen, kuscheln und knutschen.
Die Welt ist klein und unwirklich von hier oben, er kann das Dach des Supermarktes sehen, in dem sie immer einkaufen. Wie gern würde er jetzt aus dem Ford steigen, in dem ihm so oft schlecht wird und sich so schnell übergeben muss, weshalb seine Eltern immer Plastiktüten dabei haben, und sein Vater sagt „Ich versteh das nicht, du bist der einzige Junge, der Autofahren nicht verträgt“, doch jetzt würde er lieber gegen den Würgereiz kämpfen oder mit flauem Gefühl auf dem Parkplatz des Supermarktes stehen statt mit seiner Angst.
Jemand nimmt Anlauf, jagt an ihm vorbei und springt hinab, als würde ihn einen halben Meter tiefer ein großes weiches Kissen auffangen.
Staunend sieht er seinem endlosen Fallen zu und wartet Ewigkeiten auf das erlösende Klatschen des Wassers. Gischt und Jubel branden herauf.
„Jetzt mach doch endlich!“ ruft Martin. „Es ist doch nichts dabei!“
Nichts dabei wie Fußball spielen. Das kann jeder Junge, das macht jedem normalen Jungen Spaß. Den Vätern und deren Vätern hat es Spaß gemacht, sie sitzen vorm Fernseher und rufen, wie schön der Pass oder wie schlecht die Vorgabe war. „Gib ab! Gib ab!“ brüllen sie, nur er weiß nicht, an wen und warum, obwohl er es wissen soll, und hin und wieder zieht sein Vater oder ein Nachbar ihn bei einem Fußballspiel im Fernsehen aufs Sofa und sagt: „Guck doch zu, das ist ein tolles Spiel!“
Dabei wäre er lieber in seinem Zimmer oder auf einem anderen Planeten oder sonst wo.
„Du Pfeife, geh an die Seite“, ruft jemand hinter ihm, und er erschrickt. Der blonde Junge ist riesig, größer als sein Vater, und das 2 Meter breite Betonbrett erzittert unter jedem seiner donnernden Schritte. 
Im Taumel ergreift er das Geländer an der Seite, das nass und kalt ist trotz der Sonne, die Vibration der Schritte erfasst seine Hände, es ist, als sei das Geländer nur aus Draht und wird gleich nachgeben, aus dem Brett brechen und er hinterher fallen und schließlich auf den Betonplatten des Bodens aufschlagen, auf dem Spritzwasser und nasse Fußabdrücke verdampfen, das Zittern geht ihm durch Mark und Bein, dann stürzt sich der Blonde die hundert Meter tiefen zehn Meter hinunter. 
Er weicht zurück. Ganz hinten kann er die Schule sehen, deren graue Wände in der Hitze flirren, das Fenster des Chemieraums blitzt aus der Ferne. Er braucht fast eine halbe Stunde dorthin von daheim, es ist ein weiter Weg, jetzt scheint sie nur ein Steinwurf entfernt.
Ihm ist kalt, seine Haare richten sich auf, dass seine Arme und Beine aussehen wie mit Hühnerhaut bezogen. Es ist ihm egal, was die anderen sagen, er muss fort, als wäre er im Wohnzimmer bei einem Fußballspiel oder säße hinten im Auto, während seine Übelkeit hinaufgurgelt.
Sollen Martin und die anderen doch lachen und morgen in der Schule erzählen, wie feige er hier war – er würde das Gefühl, ein Idiot zu sein, hinunterschlucken, die grinsenden Gesichter ertragen und hoffen, dass in zwei Tagen niemand mehr darüber spricht.
Sie reden ohnehin genug: darüber, dass er so lange kein Fahrrad fahren konnte, sie haben dabei gestanden und gelacht, als er mit seinem Gleichgewicht rang, sein Vater „Mach schon, fahr einfach!“ rief und auch, als er letztlich doch wieder daran gescheitert war, sich auf dem Rad zu halten. Martin und Frederik standen da schon mit ihren neuen Rädern, und sein Vater schaute ihn einfach nur an. „Wovor hast du eigentlich immer Angst?“
Er wusste es nicht.
Die Radfahrübungen sind noch heute einen Lacher wert, obwohl es schon Jahre her ist – er kann also nicht anders, er muss springen, allen Mut zusammennehmen. 
Doch alles scheint zu wackeln, denn da jagt erneut jemand an ihm vorbei und stürzt ins blaue Wasserquadrat, nur er selbst kann es noch immer nicht, er ist nicht wie die Großen, die sich ohnehin wundern, warum so ein kleiner  Knirps hier oben steht, der noch weit davon entfernt ist, eine Freundin zu haben und der den Großen in der Schlange am Kiosk nur Platz und Zeit raubt.
Er geht zur Leiter – und sieht mit Schrecken viele Jungen und Männer, die nach oben wollen, die sich an dem nassen Metall festhalten und ihn zweifelnd ansehen. „Was soll das denn?“ ruft einer. „Hier geht’s nicht runter!“
„Ich muss runter“, wimmert er. „Ich muss hier runter.“
„Nein, das geht nicht! Glaubst du etwa, wir gehen jetzt alle wegen dir zurück?“
„Hast du Schiss oder was?“ höhnt ein anderer.
Er nickt nur.
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen“, meint der andere. „Jetzt ist es zu spät. Mach, dass du runterspringst.“
Ihm steigen Tränen in die Augen. „Lasst mich runter“, die Silben brechen hervor wie aus Eis, und der Wind greift nach ihnen und trägt sie fort, ehe sie jemand richtig hört. 
Alle sehen zu ihm hinauf, klammern sich an der Stiege fest, weiter unten rumort Gerede, was denn da oben los sei, und unterhalb der Treppe stehen sie auch schon Schlange.
Niemand wird ihn gehen lassen. „Man kann sich nicht immer alles aussuchen“, das sind diese Sprüche, für die man Väter hasst, wegen denen man Vätern aus dem Weg geht, die einfach immer nur Dinge sagen, um einem ein schlechtes Gefühl zu geben. Mütter sind da anders. Die sagen „Ist schon gut“, die führen einen fort oder lassen einen gehen, aber Väter stehen immer nur da wie eine Mauer, Blick und Tonfall fordernd. „Mach schon.“ Feigling. Versager. Spring gefälligst. Jeder Tag ist ein Sprung ins kalte Wasser, man darf sich nicht so anstellen.
Heute Abend wird gegrillt, und da wird Martin verraten, dass er sich nicht getraut habe. Wieder einmal. Seine Mutter wird sagen, dass das auch vernünftig war – aber seltsam ist es schon: Oft wenn die Mütter sagen, man sei vernünftig gewesen oder „es ist schon gut“, schwingt da eine Frequenz mit, legt sich ein Schatten in die Gesichter, gibt es einen kurzen Blick zu den Vätern, wenn es heißt „Er ist halt so“.
Er muss springen. Er will den Triumph genießen, dem Blick seines Vaters standzuhalten, oder gar ein „Gut gemacht“ von ihm zu hören – mit ähnlichem Ernst, wie es Mütter sagen, man ein schönes Bild gemalt oder zu Weihnachten eine tolle Papierlaterne gebastelt.
Die Welt unter ihm ist nicht mehr klein, sie versinkt im Grau. Er dreht sich einfach um und geht an den Rand. Er sieht Martin, Frederik und die anderen, schickt ihnen allein mit dem Blick ein „Na wartet!“ nach unten, denn er wird sich trauen im Gegensatz zu ihnen, und während er das Bewusstsein genießt, besser und mutiger zu sein als sie je sein werden – denn sie hatten nicht den Mut hinaufzugehen – folgt er seinem Körper hinab, der einfach gesprungen ist. 
Die Verblüffung lässt ihn sofort in seinen Körper zurückkehren. Sein Atem wird aus seiner Brust gepresst, seine Lider flattern. Er kann nichts sehen, obwohl er die Augen geöffnet hat. Der Wind zerrt an ihm, er pfeift brennend zwischen seinen Pobacken, bringt seine Badehose zum Flattern, als wolle er sie zerreißen, die Gedanken sind abgeschaltet, zu unwirklich ist der Sturz.
Er dauert ewig. Fünfzig Meter, hundert Meter. Da ist kein Vater, kein Martin und kein Benedikt, kein Rufen und kein Schreien. Da ist nur Fallen und die Gewissheit, zu fallen. Endlos. 
Dann explodiert die Welt.
Ein Schlagen löst das Pfeifen ab, dann ein Rauschen, als bräche die Erdkruste auseinander. Rauschen und Gurgeln, überall, ohrenbetäubend.
Er wird verschlungen, taucht immer weiter, und dann, als das pfeilschnelle Sinken ein Ende hat, trudelt er in einem Kosmos von Luftblasen, die in jeden Winkel seines Körpers krabbeln, zwischen seinen Haaren ebenso kitzeln wie in seiner Hose. Es sind Millionen kleiner Tierchen, die seine Haut bevölkern, für Sekundenbruchteile Kolonien gründen und sich blitzartig wieder auflösen, um in wahllosen Gruppen oder einzeln an die Oberfläche zu trudeln und ihn mit nach oben tragen, ohne dass er etwas tun muss. 
Schließlich speit die Tiefe ihn aus und die Sonne hat ihn wieder. Das Wasser um ihn schäumt und brodelt, es drängt über den Beckenrand zu den Füßen der Neugierigen. Da hört er Jubel. Er wischt sich das Wasser aus den Augen, während der Schmerz seiner Fußsohlen in ihm hinaufklettert, und sieht alle Augen auf sich gerichtet. Auch Martin und Frederik stehen da, daneben Julia und Christine, die zum Beckenrand kommen, und er weiß, dass niemand von ihnen sich das getraut hätte, was er soeben gewagt hat. 
Er und Feigling? Er und unentschlossen? Während er zum Beckenrand schwimmt, sieht er seinen Vater vor sich, einen „Gut gemacht“-Blick, aber auch das Erstaunen, dass sein Sohn sich Erstaunliches getraut hat. Angst? Er? Vor was? Ich bin gut. Ich bin klasse! Ich bin der einzige in der Klasse, der je vom 10-Meter-Brett gesprungen ist, das machen immer nur die Großen. Und bei jeder passenden Gelegenheit kann er sagen – oder sagen lassen! – dass er es wirklich getan hat.
Ab sofort ist er nicht mehr der komische Junge, der sich in sein Zimmer zurückzieht und irgendwas Seltsames macht, sondern er ist der Junge, der sich ENTSCHLOSSEN hat, in sein Zimmer zu gehen, weil er es WILL.
Er greift nach dem Beckenrand und sieht den Sprungturm hinauf. Unglaublich, diese Höhe! Da oben hat er eben gestanden.
Beseelt steigt er aus dem Wasser, er sieht die verdutzten Blicke der Leute, die sich nicht vorstellen können, dass ein Junge mit elf Jahren von so weit oben gesprungen ist. Schließlich stehen Martin und die anderen neben ihm. Martin sieht ihn an, für eine Sekunde ist Schweigen. Zwei Sekunden, drei. Je länger das Schweigen dauert, umso größer wird der Erfolg. „Hat ja lang genug gedauert“, sagt Martin da. „Hattest du Schiss oder was?“
Er kann nicht antworten.
„Mann“, beginnt Frederik, „da raufgehen und runterspringen ist doch wirklich kein Ding. Du hast den ganzen Verkehr aufgehalten.“
Tonlos starrt er Christine an, die keine Mine verzieht. „Warst du feige, oder was?“ fragt sie.
„Das ist echt hoch“, rieselt wie Kies aus seinem Mund. „Und rutschig.“
„Die haben voll rumgemault, weil du da oben nur rumgestanden hast“, sagt Martin. „Das ist doch voll peinlich.“
„Die waren echt total sauer“, meint Christine. 
Schlagartig sieht er seinen Vater vor sich, eine Mauer der Enttäuschung, der ihn heute Abend beim Grillen fragen wird, warum er nicht an die anderen Leute gedacht hat. Dass er immer nur in der Gegend herumträumt. Und warum er überhaupt hochgeklettert sei. Er kann ihn regelrecht hören, wie er sagen wird „Hast du es so nötig, vor anderen Leuten anzugeben?“ Warum wird dir im Auto immer schlecht, warum sitzt du immer in deinem Zimmer, warum kannst du nicht so gut rechnen oder Ballwerfen wie malen, warum kletterst du da hoch und machst dich zum Affen? Wann fängst du endlich an, über dich hinauszuwachsen?
Die vier sehen ihn an, dem die Kehle trocken ist und die Luft zum Atmen fehlt, der im Wind hier unten friert, und der nur eines will: umkehren. Nach Hause, in sein Zimmer. Oder einfach auf dem Weg nach Hause mit dem Fahrrad rechts abbiegen und durch die Gegend fahren, allein. Ganz egal. 
„Wir wollen uns ein Eis holen“, sagt Martin. „Los, lasst uns gehen.“
„Aber“, meint Frederik grinsend, „mach schneller als da oben.“
Auf Eis hat er eigentlich keine Lust mehr. Aber jetzt nach Hause zu fahren wäre noch viel peinlicher als nicht von oben zu springen. So setzt er sich in Bewegung.
Und folgt.

„Der Hund“ – mysteriöse Erzählung

//

Müde hebt der Hund den Kopf, sonst wäre er ihm nie aufgefallen. Er wäre einfach auf die Straße gegangen, deren eigentümlicher Geruch ihn gefangen nahm wie die fremden Laute dieser fremden Stadt. Nicht nur die Stadt ist ihm fremd, auch das Land, die Sprache, all das, was man Kultur nennt. Da ist diese Mischung aus Neugier und freudiger Erwartung, hinter jeder Straßenecke Neues zu entdecken, und der Furcht, vor dem Neuen zu erschrecken. Er fürchtet, hier viel Abstoßendes zu finden und sofort sagt er sich, so nicht denken zu dürfen. Es ist eines gebildeten Westlers nicht würdig, auf diese Gegend herabzublicken, wie auch auf all die anderen Gegenden der Erde, die sich ähnlich zeigen wie dieser lärmende, von ungewohnten Gerüchen getragene Fleck. Nichts, was er an Sprache hört, ist ihm vertraut. Dabei klingt sie harmonisch, doch kann er wissen, ob jemand über Eheprobleme redet oder über den Sex von gestern oder über die Freude auf das Kino heute Abend?

All dies rumort und wimmelt schon länger, als er selbst auf der Erde ist, und es wird, so ist zu vermuten, noch so weitergehen, wenn er nicht mehr leben wird.

Er weiß genau, was er in Restaurants bestellen möchte, um das Besondere dieses Weltteils kennenzulernen und weiß auch, auf was er lieber verzichten möchte.

Wohin er seine Augen richten soll, erschließt sich ihm nicht, da ihm jedes Staubkorn fremd ist, wäre da nicht eben dieser Hund gewesen, der den Kopf hob. So beiläufig die Bewegung ist und so viele Köpfe ausgemergelter Straßenhunde sich hier auch in die Höhe recken mögen, so bedeutsam ist diese Bewegung für ihn. Es ist, als hebe das Monster von Loch Ness eines Morgens im Frühling, an dem der Tau noch an den kühlen Gräsern zittert, mit einem Mal den Kopf aus dem Wasser, einfach, um sich umzusehen und ihn die Frage stellen zu lassen: „Warum ich? Warum passiert es ausgerechnet mir, dass es sich zeigt und das Geheimnis seiner Existenz lüftet?“

So blickt er also hinüber zu dem Hund, der dort im Staub der Straße liegt und nichts weiter tut, als seinen Kopf gehoben zu haben und ihn anzublicken. Anders als die anderen Tiere hechelt er nicht, liegt einfach in der Sonne, als sei die Hitze und das Brennen nichts, was ihn belasten könnte. Auch aus der Entfernung von gut zwanzig Metern ist ersichtlich, dass der Hund nur Augen für ihn hat. Unter normalen Umständen hätte er den Glauben gehabt, der Hund habe zufällig seinen Kopf erhoben und ihn sind Auge gefasst. Oder dass der Hund lediglich in seine Richtung blickte, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen – doch er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Hund, der keine Anstalten macht, sich aus dem Staub der Straße zu erheben, ihn, genau ihn und nur ihn anblickt, und dass er wegen ihm und nur wegen ihm den Kopf gehoben hat, als habe er gespürt, dass er auf die Straße tritt und es nun an der Zeit sei, Kontakt aufzunehmen.

Der Hund interessiert ihn. Kurz bleibt er stehen, um den Verkehr an sich vorbeiziehen zu lassen, lautes Geknatter eines Motorrades, so fremd und hell und laut und dröhnend, wie sie nur in Ländern wie diesen zu klingen scheinen, als seien sie hier aus anderen Dingen gemacht oder führen mit anderen Mitteln. Er hält sich das linke Ohr zu und merkt, wie er unter dem Lärm sein Gesicht verzieht, ohne den Hund auch nur für einen Moment aus dem Blick zu nehmen.

Der Hund ist der hässlichste Hund, den er jemals gesehen hat. Doch gleichzeitig ist da etwas anderes. Die Unterernährung, die die Körper aller Hunde hier ins Erschreckende auszehrt, verleiht dem Hund dort drüben Anmut, Würde, Ebenmaß. Das Fell, so schmutzig und verschlissen wie ein alter Sattel nach einem Reiterleben voller entbehrungsreicher Schlachten, wirkt wie angepasst an die dünnen Knochen der beiden Beine, die der Hund nach vorne streckt, in Majestät der Sphinx überlegen. Was einst Farbe war, ist nun ein Hort von Schmutz und Narben, die der Hund in stoischem Stolz wie Abzeichen trägt. 

Er springt erschrocken einen Schritt zurück, als ein Fahrrad an ihm so nah vorbeischießt, dass er den Fahrtwind spürt und riecht, begleitet vom Fluchen des Fahrers, der sich nicht umdreht. So ist er froh, als er den Blick des Hundes wiederfindet, der seine Ohren nach vorn stellt wie eine Krone. Dann steht er vor ihm. Kaum, dass er zum Tier herunterblickt, geht er in die Knie. Der Blick von oben scheint ihm nicht adäquat, und so folgt der Blick des Hundes seinen Augen hinab, ohne dass der Schwanz sich regt.

Von Nahem sind die Augen ganz besonders. Ich habe auf dich gewartet, scheinen sie zu sagen, getragen von dem Wissen, dass es eines Tages so hat kommen müssen. Geduld liegt in ihnen wie in der ungefragten Frage, die sie stellen. Fast hört er eine Stimme in sich, so geschlechtslos wie deutlich, die dem Tier erwidert: Ich weiß.

Er hat nie einen Hund besessen und weiß nichts von der Ebene, die sich entfaltet zwischen Tier und Mensch, doch nun ist es ihm, als habe er diese Ebene nie verlassen und beuge sich zu einem alten Vertrauten nieder, der auf ihn gewartet hat.

Er kennt den Namen des Hundes nicht, doch das spielt keine Rolle. Der Blick in die Augen des Tiers genügt, die von außen betrachtet nichts anderes sind als die Augen eines beliebigen Hundes, dunkelbraun, fast schwarz, in ihren Spiegelungen kann er sich selbst erkennen, doch da ist mehr, und sie beide wissen es.

„Kommst du mit?“, fragt er den Hund, und der erhebt sich augenblicklich. War es der Tonfall, den der Hund verstanden hat, denn wer sollte hier seine Sprache sprechen, zudem zu einem Hund, den hier die meisten Köter nennen, weil er in ihren Augen nichts anderes tut als Essen zu stehlen, zu betteln und zu belästigen?

So steht er auf und macht sich auf den Weg mit dem Gefährten, der nicht von seiner rechten Seite weicht. Die Straßen werden schmal und eng, sobald man einmal von der Hauptstraße abbiegt, Häuser schmiegen und ducken sich, Eingänge gähnen wie müde Mythengestalten, schnell wird das Gewirr zur Stille, dass er nun hören kann, wie die Pfoten des Hundes neben ihm auf den Steinen tappen. Eigentlich hat er dem Tier etwas zu essen kaufen wollen, in einem der zahlreichen Geschäfte, die sich bunte Höhlen durch die Mauern geschlagen haben. Früchte überall, in allen Farben, es ist so überraschend, was es hier alles gibt, wo er zu Beginn seiner Reise noch darüber staunte, dass es hier so viel Gewohntes nicht zu kaufen gibt, als habe man davon noch nie gehört, was bei ihm Zuhause heimisch, üblich, nötig ist. Ein Land des Mangels, so dachte er noch, als er das Hotel verließ, wie hat es ihn nur in diesen Teil der Welt verschlagen können, doch entrollt sich immer mehr eine Welt der Überflusses und des Reichtums. Die Gerüche werden stärker, je weiter er scheinbar der Nase nach schlendert, spaziert, flaniert. Er ist nicht mehr der Businessmann, der morgen im Auftrag seiner Firma Termine in einem dieser Glashochhäuser mit ihren klimatisierten Räumen wahrnehmen muss und sich darüber ärgern wird, dass es darin zu kalt ist. Es ist immer so. Draußen will die Sonne die Welt verbrühen, seit Jahrtausenden leben diese Menschen hier schon mit dieser Hitze und all der Sonne, die unweit von Flüssen und Seen die Böden verdorrt, doch kaum haben Menschen anderer Breiten Klimaanlagen erfunden, kühlen sie ihre Räume herunter, als gälte es, Pinguine zu züchten.

Hier lebst du also, sagt er ohne Stimme dem Tier neben sich, und wie zur Antwort blickt es auf und blinzelt.

Als es still wird, bleibt er stehen. Kurz keimt Angst auf, denn wo ist er bloß und warum ist er überhaupt hierher gekommen? An diesem Ort befindet sich nichts außer ein paar lang verlassener Häuser. Ein schmaler Gang führt in eine enge Schlucht, in die, da ist er sicher, noch nie das Licht des Tages fiel. Der Boden ist seit jeher festgestampfte Erde. Kein Laut ist zu hören. Es ist, als habe sich eine Kuppel über sie gestülpt.

Hund und Mensch blicken sich an. Für den Hund ist es normal, hier zu sein. Nichts an seinem Auftreten zeugt von Wachsamkeit. Wo nur ist die ganze Stadt geblieben? Er schaut auf seine Schuhe herab, Lederschuhe, nicht gemacht für diese Gegend. Sie sind so staubig, dass er ihre Farbe nicht mehr erkennt. Staub besetzt seine Anzughose, die jede Eleganz verloren hat. „Sieh dir das an“, sagt er dem Tier, und es schaut ihn an, als wäre nichts dabei. 

Er fragt sich, wann zuletzt ein Mensch hier vorbeikam, denn auf dem Boden finden sich weder Spuren von Reifen noch von Sohlen. 

Der Hund legt sich nieder, erneut erscheint er wie eine Sphinx, den Blick in aller Ruhe auf die schmale Gasse vor ihnen gerichtet.

Er folgt dem Blick des Hundes und weiß: Keinen Fuß wird er in diese Gasse setzen. Vorstellungen beginnen zu gären, keine davon ist gut. „Ganz sicher nicht“, lässt er den Hund wissen. Es ist nicht gut, weiterzugehen, wenn sich der Weg vor einem so verengt. Außerdem macht es ihm Angst, wie dunkel dieser schnurgerade Gang ist, der irgendwo in Dunkelheit mündet.

Der Hund macht keine Anstalten, aufzustehen, und so setzt er sich im Schneidersitz zu dem Tier auf den Boden. In den Augen des Hundes funkelt Weisheit, die so alt ist wie die Menschen selbst. Das kann natürlich nicht sein, es ist ein Tier, sagt er sich. Doch er merkt, dass es die Wahrheit ist. Es ist kein Zufall, dass er den Hund traf – oder der Hund ihn, wer kann das sagen, und spielt das eine Rolle? Ab und zu huscht ein Lid über die Hundeaugen. Es ist das erste Mal, dass er das Gefühl hat, vollständig erkannt zu werden, jenseits aller Worte. Die Vertrautheit ist so absolut wie unhinterfragt. Er sitzt da im Wissen mit dem Tier im Staub, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen. Es ist anders als bei all den Menschen, denen er sich im Leben anvertraut hat oder sie sich ihm. Es ist kein Wollen, kein Treiben in diesem Blick. Stattdessen ruht da eine Harmonie im Blick, die nichts ausspricht und alles sagt. 

Er streckt die Hand nach dem Tier aus und berührt seinen Kopf. Das staubige Fell ist weicher als gedacht, und der Hund sieht ihn an, lässt es ohne Scheu geschehen.

Schließlich legt er seine Hand an die Wange des Tiers, das daraufhin die Augen schließt und den Kopf in die geöffnete Hand schmiegt, als habe es darauf gewartet. Tief holt er Luft und stößt sie langsam wieder aus. „Ach Hund“, sagt er gerührt, mehr von dem, was in ihm aufkommt als von dem, was gerade geschieht. „Warum kenne ich dich?“, flüstert er. „Kenne ich dich?“

Nichts daran erscheint ihm seltsam, und er nimmt es hin, dass bislang ungenutzte Seile etwas aus der Tiefe seiner Seele heben, das er selbst nie erlebt hat und doch weiß, dass es zu ihm gehört.

Er fragt sich nicht, wie kann das sein? Im Geschehen selbst weiß er, dass es so ist.

Wir kannten uns einmal sehr gut, denkt er. Und umfasst den Kopf des Hundes zärtlich mit beiden Händen.

Und dann sitzt er im Taxi. Ein frischer Anzug, saubere Schuhe, seine Tasche mit den Unterlagen neben sich, die der Klimaanlage besser trotzt als er.

Er sieht den Fahrer im Profil, sieht die Stadt an sich vorüberziehen, blickt auf seine Uhr. In einer Stunde ist sein Geschäftstermin. Durch das Treiben draußen auf den Straßen suchen Streuner etwas zu Essen, werden verjagt. Sie leben ein Leben auf der Flucht vor Schlägen und Tritten und kämpfen täglich gegen Hunger. Finden sie etwas zu fressen, verschlingen sie es, beißen sich um kleine Brocken. Und erst jetzt beginnt er, über gestern nachzudenken. 

Das Tier ist aufgestanden und ist wieder zurückgetrottet, ohne sich umzublicken, als wisse es, dass er ihm folgen wird. Es schien, als wollte ihn der Hund wieder zur Straße lotsen, auf der sie sich begegnet waren, und als die Autos und Räder zu hören und zu sehen waren, blieb der Hund stehen, blickte sich einmal kurz um, dann nahm er seinen Weg nach rechts in einen schmalen Gang und war verschwunden.

„Warte“, hat er dem Hund noch hinterhergerufen und nahm laufend einige Meter, um ihn noch einmal zu sehen – doch der Gang, in den das Tier verschwunden war, war nur ein Spalt in der Mauer, zu eng, um hindurchzupassen. Er sah nur Licht von der anderen Seite, unbestimmt und ohne Konturen. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Straße zu treten und in sein Hotel zu gehen. 

Als der Taxifahrer etwas ausruft, blickt er gedankenverloren hoch und muss sich ordnen. Er bittet um einen Moment, in dem er die Gedanken beiseite schieben und sich auf seinen Termin konzentrieren kann. Die Uhr tickt, und so greift er schließlich seine Tasche, zahlt und tritt in die Hitze hinaus. 

Das Intermezzo war vorbei, und er konnte nicht mehr sicher sein, es überhaupt erlebt zu haben. Doch die Augen dieses Hundes: Er könnte schwören, er habe sie erkannt und sie ihn, als ginge es um ein Wiedersehen oder etwas anderes, wer weiß das schon? Doch jetzt ist nicht Zeit, darüber nachzudenken. Er konzentriert sich auf seine Aufgabe. Für alles andere hat er noch ein ganzes Leben Zeit. 

Meine SF-Story „Bleib bei mir“ komplett bei Spektrum der Wissenschaft online lesbar

/

Als meine Science-Fiction-Story Bleib bei mir in der Rubrik Futur III der April-Ausgabe 2020 von Spektrum der Wissenschaft erschien, war ich natürlich sehr froh und dankbar. Es war meine erste Magazin-Veröffentlichung überhaupt. Wer die Story lesen wollte, brauchte entweder das gedruckte Heft, die digitale Ausgabe oder einen kostenpflichtigen Zugang zu Spektrum.de.

Das ist inzwischen anders, denn seit einer Weile ist die komplette Story kostenlos und ohne jeden zusätzlichen Account frei lesbar. 

Es freut mich, dass meine Story damit allen Interessenten offen steht. Da ich keine eigene, zusätzliche Veröffentlichung direkt im Blog plane, wird meine Story auch exklusiv bei Spektrum der Wissenschaft lesbar sein. 

In der Rubrik Futur III veröffentlicht Spektrum der Wissenschaft in jeder monatlichen Ausgabe eine SF-Story – dabei wechseln sich Übersetzungen und Stories deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ab. Viele der Stories stehen inzwischen komplett und kostenlos online zur Verfügung. Wer  also SF aus Deutschland lesen möchte, wird hier fündig. Und findet auch meine SF-Story.

Science-Fiction-Story Bleib bei mir jetzt lesen.