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Streiflichter_Mein Bruder

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Diese Gedanken sind Dir gewidmet, Dir, meinem Bruder.
Niemand kennt die dunklen Schattenseiten meiner Seele so wie Du. Niemand kennt die tiefen Abgründe so wie Du, mein Bruder. Bei Dir kann ich sein, wie ich bin. Sobald sich Dein Gesicht über mir erhebt, sobald ich nur weiß, dass Du da bist, werde ich ein anderer, und nur Du weißt es. In dem Schlachtfeld meiner Seele schlage ich blutige Schlachten, die mich zu zerreißen drohen. Tief klaffen die Täler etwas Unwirklichem in mir, und niemandem außer Dir darf ich sie zeigen. Du bist mein Bruder und zugleich der Bewahrer meines Geheimnisses.
Auch nun wieder, da ich draußen sitze und mich fallen lasse in den Abgrund meines monströsen Selbst.
Niemand außer mir ist hier, es ist Nacht, und ich bin wieder ein Poet, wie ich es immer in Nächten wie dieser bin, in der ich fern der Stadt, fern von Leuten und Straßen und Gefahren auf Dich warte und mich fallenlassen will in Deine Arme. Jedes Mal habe ich Angst davor und kann doch nicht anders, als mich auch darauf zu freuen, mit Dir in diesen Nächten zusammenzusein. Ganz weh wird mir, es ist so schön in dieser Nacht. Hörst Du die Grillen zirpen? Den Wind Durch meine Haare wehen? Ich warte, warte auf Dich, mein Bruder.
Warum muss das, was wir tun, so verboten sein? Warum darf niemand es erfahren? Warum müssen wir uns so lieben? Es ist ein Fluch, aber er ist grausig-schön, wenn die Liebe mich überfällt, wenn mein Körper heiß und kalt wird, wenn er beginnt, zu vibrieren. Wie sehr erwarte ich darauf, dass Du mich berührst!
In Nächten wie diesen besitze ich unendliche Gier, unendliches Verlangen, einen verbotenen Hunger, den ich nur mit Dir teilen kann und will.
Und hier, so fern aller Menschen, so fern aller Augen können wir uns vereinen. Ängstlich sitze ich hier, um mich herum nur Bäume und Büsche, und wären die Wolken nicht da, würden die Sterne mir leuchten.
Wie verboten wir sind! Und wie verteufelt grausam unsere Leidenschaft!
Es kommt jedes Mal wieder einer Opferung gleich, einem scheußlichen Ritus. Ich sitze nackt ich im kitzelnden Gras einer Lichtung, um mich herum sind nichts als Bäume eines tiefen, unendlich erscheinenden Waldes, und niemand, der nicht mindestens ebenso verboten ist wie ich, wird hier sein, um mich zu beobachten, wie ich hier sitze, um auf Dich zu warten, und niemand wird daher sehen, wie wir uns gleich lieben werden. Die Nacht ist ein Mantel, die Nacht ist eine Mauer des Schweigens, die das Grausige verdeckt.
Ich atme die Luft mit obszönem Lüstern, und der Geruch, der in ihr liegt, ist der typische einer warmen Sommernacht – frisch, lau, und nur, wer weiß, Gerüche zu erkennen, bemerkt, wie aromatisch all das riecht: das Gras, die Erde, die Bäume, das Laub an ihnen und das auf dem Boden, das langsam verfault.
Wo bleibst Du nur, mein Bruder? Ich kann kaum erwarten, Dich zu sehen. Wobei ich weiß, was geschehen wird, wenn Du da bist und Besitz von mir ergreifst, wenn Du meinen Verstand löscht und mich zu einem triebhaften Tier machst, das sich nicht mehr kontrolliert, das einfach nur wild und verrückt existiert, wenn ich kein Mensch, sondern nur das Tier bin.
Wie wehrte und wehre ich mich gegen Dich, und wie werde ich mich wehren. Doch alles Wehren ist sinnlos. Wenn es Zeit ist, warte ich mit wohligem Grausen.
Bitte, Bruder, streichle mich. Küsse mich. Ich sehe nach oben in den Himmel, spüre Animalisches in mir, spüre, wie der Herzschlag anders, schneller wird.
Dann reißt der Himmel auf, und Du wirst preisgegeben!
Ich sehe Dein wunderbares, strahlendweißes Antlitz, voll und vollkommen. Mein Herz rast, mein Blut jagt. Du weckst das Unfassbare in mir – ich beginne mich zu verwandeln!
Haare wachsen mir überall, nach und nach bekomme ich das Fell, und alles Verträumte, Poetische verlässt mich. Ich werde zum Wolf. Blutdurst steigt in mir hoch, und gleich werde ich Tiere reißen – o, wie gut, dass keine Menschen hier sind!
Wie herrlich, ein Wolf zu werden, einer zu sein. Wie schrecklich, von einem Fluch befallen zu sein. Wie furchtbar, im Schrecklichen das Schöne zu sehen.
Ich winde und verändere mich. Und Dein wunderbares, schönes Gesicht ist über mir, und wir werden eins, werden zu Liebenden, und Du hältst mich in Deinen Armen.
Mein Bruder, Du bist mein Leben und mein Verderben. Du bist meine Liebe und mein Hass. Du bist Schönheit und Abscheulichkeit. Du bist Argwohn und Trieb.
Mein Bruder. Man hat uns zusammengebracht, und wenn ich sterbe, bist Du noch immer da – für alle Zeit.

© Copyright by Oliver Koch

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